Metzler Philosophen-Lexikon: Luther, Martin
Geb. 10. 11. 1483 in Eisleben;
gest. 18. 2. 1546 in Eisleben
»Lieber freund, ich weysz wol was ich rede. Aristoteles ist mir so wol bekant als dir und deynis gleychen, ich hab yhn auch geleszen unnd gehoret mit mehrem verstand, dan (= als) sanct Thomas odder Scotus, des ich mich on hoffart rumen, und wo es nodt ist, wol beweyszen kann.« Das ist die hochmütige, aber ernst gemeinte Selbsteinschätzung eines Mannes, dessen Namen man in den Darstellungen der Philosophiegeschichte meist vergeblich suchen wird. Der Eindruck des Anmaßenden verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, daß Aristoteles für die hoch- und spätmittelalterliche Philosophie nicht einfach irgendein Denker war, sondern der Philosoph schlechthin; ihr Philosophieren bestand denn auch zu einem guten Teil darin, die großen Werke des Philosophen zu kommentieren und zu diskutieren. Daß L., dem selbsternannten Aristoteleskenner, eine philosophiegeschichtlich relevante Bedeutung niemals zuerkannt worden ist, kann man verstehen: Seine Lebensarbeit blieb, von den – allerdings immensen – sprach- und literaturgeschichtlichen Folgen seiner Bibelübersetzung abgesehen, auf den Bezirk von Kirche und Theologie beschränkt. Und doch gibt es Gründe für die Vermutung, er sei zu Unrecht philosophisch übersehen worden.
Es ist zunächst nicht unwichtig, an die fundierte philosophische Ausbildung zu erinnern, die L. genossen hat. Aus einfachem Hause stammend, besuchte er, der eifrig geförderte älteste Sohn, die Lateinschulen in Mansfeld und Magdeburg, schließlich – wohl wegen der Nähe der mütterlichen Verwandten – in Eisenach. Von dort kam er 1501 nach Erfurt, um das vierjährige philosophische Grundstudium aufzunehmen, das auch jeder angehende Jurist, Mediziner und Theologe zu durchlaufen hatte. Der Fächerkanon entsprach zwar noch dem klassischen Programm der sieben freien Künste (»septem artes liberales«: Grammatik, Logik, Rhetorik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie), hatte sich aber doch insofern verlagert, als die im Hochmittelalter einsetzende, umfassende Aristotelesrezeption nun die Akzente bestimmte. Entsprechend hat L. in Erfurt v. a. (Sprach-)Logik, Physik (samt Seelenlehre), Moralphilosophie und Metaphysik studiert. In diese Zeit fällt wohl auch die intensive Lektüre der antiken Dichter und Autoren, aus denen er dann zeitlebens, wo es ihm passend erschien, zu zitieren pflegte. Nach diesen vier philosophischen Jahren nahm L. sogleich – dem Wunsch des Vaters entsprechend – das Studium der Jurisprudenz auf, brach es jedoch schon wenige Wochen später wieder ab, weil er unter dem Eindruck einer tiefen, durch den Blitzschlag von Stotternheim ausgelösten Krise gelobt hatte und auch willens war, ein Mönch zu werden. Am 17. Juli 1505 trat er bei den Augustiner-Eremiten ins Kloster ein. Eben zum Priester geweiht, nahm er 1507 auf Anweisung seines Ordensoberen das wissenschaftliche Theologiestudium auf, mit dem zugleich die Pflicht zu moralphilosophischer Lehrtätigkeit (Aristoteles’ Nikomachische Ethik) verbunden war. Mit der scholastischen Dogmatik wurde L. v. a. durch die Werke der Nominalisten Wilhelm von Ockham und Gabriel Biel, ferner von Duns Scotus, Petrus von Ailly und Thomas von Aquin vertraut. Die entscheidende Bedeutung kam jedoch Augustinus zu, den L. intensiv studierte und der ihm später zu einem – vor allen Scholastikern bevorzugten – Kronzeugen seiner reformatorischen Erneuerung geworden ist. Daneben kam es auch zu Begegnungen mit der areopagitischen (Dionysius, Jean Gerson), romanischen (Bernhard von Clairvaux, Bonaventura) und deutschen Mystik (Johannes Tauler) sowie, wenn auch nur in beschränktem Maße, mit dem deutschen Humanismus (Johannes Reuchlin, Jacob Wimpfeling).
Im Horizont der damit umrissenen philosophisch-theologischen Bildung und unter ständigem Bezug auf sie hat L. sein Leben lang theologisiert. Die vielen Abgrenzungen gegen die Philosophie und zumal gegen Aristoteles richten sich, genau besehen, zumeist gegen deren theologische Inanspruchnahme. Einer aristotelisch überwucherten, philosophischen Theologie stellt L. eine sich als biblisch verstehende Theologie entgegen: Allein der Schrift, meinte er, nicht aber der Philosophie sei die dem Theologischen angemessene Denk- und Redeweise zu entnehmen. Übrigens ist L. in dieser Antithese durchaus nicht originell: Wesentliche Anstöße verdankt er Wilhelm von Ockham und – vor allem – Augustinus.
Besonderes Interesse verdienen in diesem Zusammenhang L.s Äußerungen zur Vernunft. Man kennt davon, wenn überhaupt, meist nur die drastischsten Urteile. Aber L. argumentierte auch hier differenziert und situationsbezogen. So hat er in einer Disputationsthese von 1536 die menschliche Vernunft als etwas »geradezu Göttliches« gerühmt. Daneben stehen freilich heftige Invektiven wie etwa die von der »Hure Vernunft«. Das ist jedoch keine schäumende Polemik, sondern eine in aller Drastik präzis gebrauchte Metapher. Die Vernunft, soll das heißen, ist ehrlos, sie treibt es mit jedem. Darin klingt an, daß die Vernunft, obwohl an sich »geradezu göttlich«, durch einen ihr nicht gemäßen Gebrauch pervertiert werden kann. Die Vernunft gewährleistet nach L. keineswegs einen vernünftigen Gebrauch ihrer selbst. Vielmehr habe sie die Tendenz, sich absolut zu gebärden. Das wird vor allem bei der – für L. zentralen – Frage akut, was den Menschen letztlich gewiß machen kann. Wollte die Vernunft auch darauf noch antworten, so machte sie sich einer Grenzüberschreitung schuldig. Das klingt moderner, als es gemeint ist. L. interessierte sich für die Vernunft nie im Hinblick auf die Dialektik ihres Selbstverhältnisses, sondern immer nur als Antipode des Glaubens. Es ist denn auch eine Pflicht des Glaubens, die Beziehungen, aber auch die Scheidelinie zur Vernunft fortwährend neu zu bedenken.
Am Anfang seiner biblischen Professur in Wittenberg, die L. von 1512 bis zu seinem Tod bekleidet hat, steht eine äußerst intensive und fruchtbare Schaffensperiode, während der sich der reformatorische Neuansatz aus den traditionellen theologischen Denkformen herauszuschälen begann. Die Konsequenzen wurden einer breiteren Öffentlichkeit durch die 95 Thesen vom Herbst 1517 bekannt, deren reformatorischer Gehalt L. dann im Streit mit Rom und Reich immer weiter profiliert hat. Auf dem Höhepunkt seines theologischen Aufbruchs, 1520, hat er eine Reihe von – vielfach allgemeinverständlichen – reformatorischen Hauptschriften verfaßt, deren bekannteste und am meisten rezipierte Von der Freiheit eines Christenmenschen handelt. Trotz des Gleichklangs der Vokabeln kommt L. jedoch für die Vaterschaft des neuzeitlichen Freiheitsgedankens kaum ernstlich in Frage. Er selbst wollte nur den paulinischen Ruf der Freiheit erneuern. Darin wird zweierlei deutlich: Die Freiheit, um die es L. geht, ist nicht als menschliches Vermögen bzw. als ontologische Verfassung gedacht, sondern als eine Freiheit, in die sich der Glaube an Christus versetzt sieht. Und: Nicht eine allgemein menschliche, sondern die christliche Freiheit hat L. im Blick. Sein Anliegen faßt er in die Doppelthese zusammen: »Eyn Christen mensch ist eyn freyer herr über alle ding und niemandt unterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding und ydermann unterthan«. Die beiden Sätze beziehen sich asymmetrisch aufeinander. Denn die Reihenfolge von der Freiheit zur Dienstbarkeit ist unumkehrbar. Und während sich das Knecht-Sein auf das Verhältnis zu den anderen Menschen bezieht, gilt das Herr-Sein nur in bezug auf die Dinge, nicht auf die Menschen. Die Dialektik von Herr und Knecht ist darum nicht gemeint, ebensowenig die von Seele und Leib. Vielmehr ist in beiden Sätzen vom ganzen Menschen die Rede: Zuerst in seinem Verhältnis zu Gott, dann in dem zu den Menschen. Der Glaube, will L. sagen, befreit den Menschen aus dem Zwang zur Selbstermächtigung, und er macht ihn frei zum Dienst an den Nächsten. Kurz: Er ist frei aus Glauben zur Liebe. Die damit gesetzte Freiheit hat ihren Ort zwischen Gott und Mensch; sie läßt sich nicht zu einem menschlichen Handlungsbegriff säkularisieren. Die Freiheit, die L. meint, ist die Freiheit des Gewissens, nun aber wieder in exklusiv theologischem und darum gerade nicht neuzeitlichem Sinn. Für ihn ist die Gewissensfreiheit nicht Ausdruck der Autonomie des Menschen. Das Gewissen ist darin frei, daß es sich in Gott gebunden und darum den Zumutungen anderer Mächte enthoben weiß.
In den auf die Freiheitsschrift folgenden Jahren widmet sich L. der inneren Konsolidierung seiner Theologie wie der kirchlichen Organisationsstruktur. Für seine Popularität, aber auch für den reformatorischen Aufschwung insgesamt bringt das Jahr 1525 den entscheidenden Kulminationspunkt. Äußerer Anlaß ist der Bauernkrieg, aber auch die Auseinandersetzung mit Erasmus hat damit zu tun. Erneut geht es dabei um das Freiheitsproblem. Erasmus, der spätestens seit 1521 den Bruch mit L. für irreparabel hielt, legte 1524 eine öffentliche Stellungnahme vor: De libero arbitrio (Vom freien Willen). Er hat damit ein Thema von theologischer, philosophischer und ethischer Relevanz angeschlagen, mit dem sich zugleich eine Kernfrage der reformatorischen Lehre verknüpfte. Die menschliche Willensfreiheit betreffend, votierte Erasmus für eine moderate, ausgleichende Lösung: Auf dem Heilsweg des Menschen zu Gott sei etliches der göttlichen Gnade, anderes dem menschlichen Willen zuzuschreiben. Jedenfalls sei dem Menschen aber die Willenskraft eigen, dem Heil sich zu- oder von ihm sich abzuwenden. Im Herbst 1525 kommt L.s Entgegnung: De servo arbitrio (Vom unfreien Willen). Darin folgt er Schritt für Schritt der erasmischen Argumentation, die er teils scharf polemisch, teils streng argumentierend erwidert. Seine These ist: Auf das Gottesverhältnis bezogen ist der Wille des Menschen gänzlich gebunden, im Umgang mit den weltlichen Dingen hat der Mensch dagegen Entscheidungsfreiheit. L. denkt den menschlichen Willen damit nicht in Analogie zum freien Willen Gottes, sondern aus der Fundamentalunterscheidung von Schöpfer und Geschöpf. In seinem Verhältnis zu Gott kann es für den Menschen keine neutrale Wahlfreiheit geben, weil er immer schon so oder so bestimmt ist. Um es mit einem von L. selbst gebrauchten Bild zu sagen: Der Mensch ist ein Reitpferd, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird. Diese Auskunft ist nicht deterministisch gemeint. Ihre Pointe zielt vielmehr dahin, das Gottsein Gottes uneingeschränkt zur Geltung kommen zu lassen. Eine innere Konsistenz wird man der Auffassung L.s – die im übrigen bis heute kontrovers diskutiert wird – nicht absprechen wollen. Ihr Grundmotiv nährt sich aus der Sorge, die im Glauben empfangene christliche Freiheit werde bei Erasmus durch die Eigenmächtigkeit des Menschen gefährdet. L.s massiv formulierte Warnung vor einer Moralisierung des Christlichen unterscheidet ihn vom Tenor der scholastischen wie der neuzeitlichen Anthropologie.
Zu anderen philosophischen Fragen äußerte sich L. nie im Zusammenhang. Die vielen einschlägigen Bemerkungen, die es allerdings gibt, sind stets in einen konkreten theologischen Kontext eingebettet. Diese philosophischen Brockenˆ hat er niemals ausgearbeitet, weil er an ihnen kein selbständiges Interesse nahm. Ihrem interpretierenden Nachvollzug eröffnen sich gleichwohl wichtige Einsichten in L.s philosophische Reflexion. Das gilt zunächst schon für die Ontologie. Es gibt genügend Hinweise dafür, daß er die herkömmliche aristotelische Substanzontologie durch eine relationale Ontologie ersetzt wissen wollte. Das zeigt sich v. a. in der Lehre vom Menschen. Das Wesen des Menschen, urteilt L., lasse sich in den Kategorien einer substantialen Anthropologie der Seelenvermögen nur unzulänglich bestimmen. Von erschließender Bedeutung seien dagegen die Verhältnisse und Relationen, in denen der Mensch steht. Diesen deutlichen, wenn auch nicht konsequent explizierten Ansatz hat man eine »relationale Anthropologie der Daseinsmächte« genannt (Gerhard Ebeling). Ein zweites, vielleicht noch breiter angelegtes Feld ist L.s Sprach- und Übersetzungstheorie. Auch sie ist nirgendwo entwickelt, sondern muß aus verstreuten Reflexionssplittern rekonstruiert werden. Dabei zeigt sich, daß die Fülle der im Spätmittelalter diskutierten sprachtheoretischen Problemstellungen für ihn ohne Interesse war. Dagegen galt seine ganze Aufmerksamkeit dem kommunikativen Charakter der Sprache. »Das Wesen des Wortes besteht darin, gehört zu werden«: Das ist zwar über das göttliche Wort gesagt, gilt jedoch zugleich für das menschliche Wort, das in seiner Natur, aber auch in seiner Defizienz erst von dort her bestimmbar wird. Dieses kommunikative, am wirkenden Wort sich orientierende Sprachverständnis ist das theoretische Fundament von L.s sprachgestalterischer Kraft, die allenthalben und zumal auch außerhalb von Theologie und Kirche eine hohe Wertschätzung gefunden hat.
Als Beispiel für die Beiläufigkeit, mit der bei L. philosophische Einsichten formuliert sind, kann auch sein berühmter Zettel von 1546 gelten, jene unmittelbar vor seinem Tod geschriebene, letzte schriftliche Notiz. Von ihr ist zumeist nur der – mit Pathos zitierte – Schlußsatz bekannt. In Wahrheit handelt es sich um eine dicht und überlegt formulierte hermeneutische Erkenntnis. Am Beispiel der Hirtengedichte Vergils, der politischen Schriften Ciceros und der biblischen Propheten macht L. klar, daß sich rechtes Verstehen nicht in einer nur kognitiven Aneignung erschöpfen kann, sondern erst in lebenspraktischer Verifikation ans Ziel gelangt: »Den Vergil in seinen Bucolica und Georgica kann niemand verstehen, er wäre denn zuerst fünf Jahre Hirt oder Bauer gewesen. Den Cicero in seinen Briefen versteht niemand, er wäre denn zwanzig Jahre in einem bedeutenden Staatswesen tätig gewesen. Die Heilige Schrift glaube niemand genügend verschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre zusammen mit den Propheten die Gemeinden geleitet«. Dem folgt schließlich jener oft zitierte Spruch, der keine erbauliche Floskel ist, sondern das hermeneutische Fazit zieht: »Wir sind Bettler. Das ist wahr.«
Jüngel, Eberhard: Zur Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift. In: Ders.: Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit. Tübingen 2000, S. 84–160. – Ebeling, Gerhard: Luthers Wirklichkeitsverständnis. In: Ders.: Theologie in den Gegensätzen des Lebens. Wort und Glaube, Bd. 4. Tübingen 1995, S. 460–475. – Beutel, Albrecht: In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis. Tübingen 1991. – Ebeling, Gerhard: Luther. Einführung in sein Denken. Tübingen 51990.
Albrecht Beutel
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