Metzler Philosophen-Lexikon: Luxemburg, Rosa
Geb. 5. 3. 1871 in Zamoćś bei Lublin;
ermordet 15. 1. 1919 in Berlin
Die Frau, deren Nachruhm als Märtyrerin des Sozialismus, als frühe Kritikerin Lenins und als faszinierende Persönlichkeit das Andenken fast aller ihrer Mitstreiter überstrahlt, sah sich selbst viel nüchterner, ja zweckbezogener: als marxistische Revolutionärin und als Theoretikerin der Politischen Ökonomie des Kapitalismus. Ihr wissenschaftliches Engagement begriff sie als unabdingbare Voraussetzung ihres politischen. Sie war mathematik-begeisterte Rationalistin und nicht Gefühls-Sozialistin. Von den meisten ihrer Genossen in der deutschen Sozialdemokratie – auch den Marxisten in ihr – unterschied sie sich durch ihr Postulat von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer aktuellen sozialistischen Revolution.
Geboren wurde L. als Tochter einer relativ wohlhabenden jüdischen Holzhändler-Familie. Ihr wissenschaftliches und politisches Werk ist zweisprachig: polnisch und deutsch. Politischer Verfolgung und einer drohenden Verhaftung konnte sie sich 1889 durch die Flucht nach Zürich entziehen. Nach der juristischen Promotion 1897 über Die industrielle Entwicklung Polens ging sie nach Deutschland und arbeitete dort in der sozialdemokratischen Presse sowie an der 1906 gegründeten Parteischule. Sofort nach ihrer Ankunft in Deutschland beteiligte sich L. an der Auseinandersetzung mit dem Revisionismus Eduard Bernsteins mit ihrer Schrift Sozialreform oder Revolution? (als Buch 1899). Bernsteins These von einer Dämpfung der innerkapitalistischen Widersprüche durch Aktiengesellschaften, Kartelle und Trusts stellte sie die Auffassung entgegen, diese müßten die krisenhafte Dynamik letztlich noch verschärfen. In der Begegnung mit dem Revisionismus geriet L. sofort in die Konfrontation, welche ihre gesamte politische Arbeit bestimmen sollte. Die Aufhebung des Kapitalismus mit Hilfe der institutionellen Verankerung der Arbeiterorganisationen im System, wie sie von den Reformisten verfochten wurde, erschien ihr als illusionär. Die entscheidende historische Tendenz sei stattdessen die systemsprengende Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, welche allerdings von einer klassenbewußten Arbeiterbewegung aktiv genutzt werden müsse. Gewerkschaftliche Erfolge, die nicht am Ziel der Revolution orientiert seien, blieben reversibel, seien somit das Resultat von Sisyphusarbeit. Dabei konnte L. auf die Dauer nicht ignorieren, daß der gesamte Aufbau der Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratie auf die Reformarbeit abgestellt war. Dies führte sie in den folgenden Jahren zu Überlegungen zum Verhältnis von ökonomischer Entwicklung, Bewußtsein der Arbeitermassen und Organisation. Die revolutionären Aufgaben des Proletariats ergeben sich für sie aus den historischen Gesetzmäßigkeiten der Akkumulation des Kapitals, das Klassenhandeln ist also nur scheinbar spontan. Partei und Gewerkschaften haben der Durchsetzung dieser geschichtlichen Dynamik zu dienen, sind insofern in ihrer jeweiligen konkreten Ausformung nur Übergangserscheinungen. Wo Organisation sich dagegen als Priorität setzt, welcher Massenverhalten untergeordnet sein müsse, wirkt sie hemmend. Dies war der Kern von L.s Kritik an Lenins Parteitheorie. Ihre Einwände trug sie in der Schrift Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie (1904) vor. In Deutschland war sie eine aktive Befürworterin des politischen Massenstreiks. Die Gewerkschaftsführer fürchteten von der Anwendung dieser Waffe eine Gefährdung der Organisation. L. antwortete in ihrer Schrift Massenstreik, Partei und Gewerkschaften (1906), in der sie ihre eigenen Erfahrungen während der ersten russischen Revolution, an der sie teilgenommen hatte (1906 geriet sie in Russisch-Polen in Haft), auswerten konnte. Sie wies darauf hin, daß in Rußland und Polen während der revolutionären Kämpfe Gewerkschaften nicht zerstört, sondern häufig erst aufgebaut worden seien.
Innerhalb der Arbeiterbewegung war sie vor allem als Rednerin und Publizistin bekannt. Doch das theoretische Fundament, auf dem sie ihre politische Arbeit aufbaute, blieb die Kritik der Politischen Ökonomie. Hier gewann sie auch ihre Einsichten über die krisenhafte Zuspitzung der gesellschaftlichen Situation und das Herannahen eines Weltkriegs. 1913 erschien ihr wissenschaftliches Hauptwerk: Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus. Ausgangspunkt ist die Kritik an Marx’ Schema der erweiterten Reproduktion im zweiten Band des Kapital. Hier werde nicht geklärt, wie der neu erzeugte Mehrwert angesichts beschränkter Konsumtionsmöglichkeit der Massen realisiert werden könne. Diese Schwierigkeit überwinde der Kapitalismus durch ständige Ausdehnung in vorkapitalistische Bereiche hinein – als Imperialismus, den L. so definiert: »Der Imperalismus ist der politische Ausdruck des Prozesses der Kapitalakkumulation in ihrem Konkurrenzkampf um die Reste des noch nicht mit Beschlag belegten nichtkapitalistischen Weltmilieus«. Das letzte Kapitel trägt die Überschrift: »Der Militarismus als Gebiet der Kapitalakkumulation«. Damit hatte L. auch die in der Kritik der Politischen Ökonomie begründete Voraussetzung für ihre Prognose wachsender Kriegsgefahr und für ihren Kampf um den Frieden geschaffen. Diesem widmete sie einen wachsenden Teil ihrer Agitation am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Justiz und Militärapparat in Deutschland beantworteten L.s Kampf gegen den Militarismus und für eine Reorganisation der Linken (u. a. Gründung der Spartakus-Gruppe) mit mehrjähriger Haft (1915 bis 1916, nach einigen Monaten Freiheit nochmals 1916 bis 1918).
Die russische Oktoberrevolution 1917 hat sie – in einem aus ihrem Nachlaß veröffentlichten Text: Die russische Revolution (geschrieben 1918, publiziert 1922) – grundsätzlich begrüßt und in Einzelheiten kritisiert. Ihr Einwand gegen die Beschränkung der Meinungsfreiheit: »Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden« – war nicht liberal-parlamentarisch, sondern revolutionär-sozialistisch: L. ging davon aus, daß Erkämpfung und Verteidigung des Sozialismus der vollen Entfaltung aller Kräfte und Positionen – auch derjenigen der Dissidenz, die von den Revolutionären nur in offener politischer Auseinandersetzung überwunden werden sollten – bedürften. An der Jahreswende 1918/19 beteiligte sie sich an der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands. Nach der Niederschlagung des Januar-Aufstandes wurde L. von Freikorps-Mitgliedern am 15. Januar 1919 ermordet.
Nettl, Peter: Rosa Luxemburg. Köln/Berlin 21986. – Laschitza, Annelies/Radczun, Günter: Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung. Frankfurt am Main 1971.
Georg Fülberth
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