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Rudolf Steiners Todestag: Ein Freigeist will nach oben

Wer war der Mann, der Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Anthroposophie einen der mächtigsten esoterischen Zirkel der Welt gründete und am 30. März 1925 plötzlich verstarb?
Schwarz-weiß-Porträt des jungen Rudolf Steiner (1861-1925) in weißem Hemd mit Anzug und Krawatte; die dunklen Haare zum Mittelscheitel gekämmt, schaut er ernst in die Kamera.
Er kam, sah – und betörte: der junge Rudolf Steiner.

Ein Doktor der Philosophie zu sein, bot schon vor gut 100 Jahren keine Garantie, eine auskömmliche Existenz bestreiten zu können. Im Gegenteil, wer nicht im akademischen Umfeld Fuß fasste, dem blieb nicht viel anderes übrig, als sich im Kultur- oder Literaturleben einer großen Stadt zu verdingen, wollte er nicht als Droschkenkutscher enden.

So erging es auch einem Philosophicus von 36 Jahren, der 1897 aus der österreichischen Provinz nach Berlin kam, um dort als Redakteur des »Magazins für Litteratur« zu arbeiten. Doch das Leben in der Reichshauptstadt war kostspielig, und das Geld, das Rudolf Steiner in seinem neuen Job verdiente, reichte hinten und vorne nicht. Also begann er nebenbei in verschiedenen Vereinen und Akademien für Erwachsenenbildung Kurse in Geschichte und Rhetorik zu geben und zum Bespiel über Goethes Naturverständnis oder Nietzsches Nihilismus zu dozieren. Seine dem Zeitgeist angepassten Themen und sein rhetorisches Geschick fanden viel Zuspruch, wie etwa das Teilnehmerregister einer der Arbeiterschulen verrät, an der der Privatgelehrte regelmäßig unterrichtete.

Um seine Unkosten niedrig zu halten, wohnte Steiner, der mittellose Herr Magister, zur Untermiete bei einer Frau mit drei Kindern, die ihm den Haushalt führte, damit er sich voll auf die geistige Arbeit konzentrieren konnte. Seit 1899 war Steiner seiner Zimmerwirtin Anna Eunike wohl auch mit dem Herzen zugetan, vielleicht sogar in Liebe verbunden.

Kaum hatte das neue Jahrhundert begonnen, eröffnete sich Steiner die Chance auf eine andere, viel versprechende Karriere – und zwar in Gestalt von Graf und Gräfin von Brockdorff. Diese luden ihn im Herbst 1900 zu einem Vortrag in ihre Bibliothek in der vornehmen Friedrichstraße ein, einer der ersten Adressen Berlins. Der königlich-preußische Rittmeister Cay Lorenz Graf von Brockdorff leitete zu dieser Zeit die Berliner Loge der »Theosophischen Gesellschaft«. Zusammen mit seiner Frau Sophie zählte er zu den eifrigsten Förderern der vor allem bei Damen höheren Stands beliebten Bewegung.

Ihre Mitglieder strebten nach »göttlicher Weisheit«, so die wörtliche Übersetzung von »theosophía« aus dem Griechischen. Gegründet worden war die Gesellschaft 1875 in New York von einer resoluten Russin mit deutschen Wurzeln. Helena Blavatsky machte als Medium und Autorin esoterischer Erbauungsliteratur von sich reden und organisierte gemeinsam mit dem US-amerikanischen Spiritisten Henry Steel Olcott zahlreiche Séancen. Die Themen, die dort verhandelt wurden, reichten von Hellseherei, Gedankenübertragung und Seelenwanderung bis hin zu Kontakten mit dem Jenseits.

Ende September 1900 sprach Steiner also in der brockdorffschen Bibliothek vor handverlesenen Gästen über Nietzsche – und machte großen Eindruck. Eine Woche später trat er erneut vor den Okkultisten auf, diesmal um Goethes »Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie« zu deuten. Hier, so erinnert er sich in einer autobiografischen Skizze von 1923, sprach er zum ersten Mal »ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich.« Im Oktober schon war eine weitere Vortragsreihe zur mittelalterlichen Mystik vereinbart; 1901 folgten insgesamt 18 Referate über »Das Christentum als mystische Tatsache«.

Worin bestand jenes »wichtige Erlebnis« für Steiner? Vermutlich in der Erfahrung, wie leicht er Menschen mit einem Interesse an der Geisterwelt für sich einzunehmen vermochte. Wie er es verstand, ihnen zu geben, wonach sie dürsteten. Der begabte Redner berauschte sich geradezu an der eigenen Wortmacht; das Publikum schmolz wie Wachs unter dem Feuer seiner Gedanken dahin.

Das Publikum schmolz wie Wachs unter dem Feuer seiner Gedanken

Allerdings stand Steiner der Theosophie zu diesem Zeitpunkt selbst noch fremd gegenüber; mit Okkultismus war er bislang kaum in Berührung gekommen. Steiner war ein Freigeist und Literat, der das Berliner Kulturleben aufsaugte, so gut es sein schmaler Geldbeutel eben erlaubte. Statt durch die Salons und Bühnenhäuser der Stadt zu streifen, strebte er nun jedoch nach höheren Sphären und propagierte eine reine Erkenntnis des Selbst, die für ihn zugleich Welterkenntnis war. Ganz im Sinne seines großen Idols, des geheimen Rats Wolfgang von Goethe, widmete er sich der »Sprache der Dinge, die im Innern des Menschen gesprochen wird«.

Steiners Freund Ludwig Jacobowski hatte einige Jahre zuvor in Berlin einen Zirkel von Philosophen und Künstlern namens »Die Kommenden« gegründet, dem auch Steiner angehörte. Als Jacobowski Ende 1900 mit nur 32 Jahren an einer Hirnhautentzündung starb, übernahm Steiner die Leitung des Klubs. Bei einer Zusammenkunft im Berliner Nollendorf-Kasino hielt er einen Vortrag zur »Entwicklungsgeschichte der Menschheit von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposophie«. Hier verwendete Steiner erstmals den Begriff, der sich bis heute untrennbar mit seinem Namen verbinden sollte.

Auf der Erfolgswoge seiner Auftritte in Brockdorffs Bibliothek kündigte Steiner Ende September 1900 seine schlecht bezahlte Redakteursstelle. Er strebte jetzt eine Laufbahn als geistiger Lehrer und Vortragsreisender an. Vor Bewunderung für ihn entbrannte bald auch eine Schauspielerin, die gerade dem brockdorffschen Zirkel der Okkultisten beigetreten war. Die junge Baltin Marie von Sivers hörte Steiner zum ersten Mal im Frühling 1901 über Mystik sprechen. War es Liebe auf den ersten Blick? Jedenfalls wich sie dem sechs Jahre älteren Doktor fortan kaum von der Seite – sehr zum Missfallen von Steiners Faktotum Anna Eunike, die daheim in der Kaiserallee im Berliner Westend seine Wäsche wusch und ihm das Essen warm stellte, wenn er spät nachts von seinen geistigen Geschäften aus der Stadt heimkehrte.

Steiner erkannte, welche Chance sich ihm bot, und er war entschlossen, sie zu ergreifen. Die untereinander zerstrittenen Theosophen konnten den spirituellen Hunger der wilhelminischen Gesellschaft kaum stillen. Ihre Führungsriege bestand aus einer Hand voll Fantasten, die sich gegenseitig in Welterklärungsmythen überboten und der Hochstapelei bezichtigten. Dabei zählte Berlin damals neben London, Mumbai, Liverpool und Rochester im US-Bundesstaat New York zu den Weltzentren der Esoterik.

Marie von Sivers hörte Steiner im Frühling 1901 über Mystik sprechen. War es Liebe auf den ersten Blick?

Die Theosophie verfolgte vor allem drei Ziele: erstens die »universelle Bruderschaft« unter den Menschen zu fördern; zweitens Religion, Philosophie und Wissenschaft zu einer einheitlichen Weltlehre zu vereinen; und drittens jene geheimen Naturkräfte zu ergründen, die sich hinter der Welt der Erscheinungen verbargen. Letzteres stand besonders bei jenen hoch im Kurs, die mit dem rationalistischen Zeitgeist auf Kriegsfuß standen.

Durchbrüche der Wissenschaft wie die darwinsche Evolutionslehre oder Einsteins Relativitätstheorie verunsicherten damals viele Menschen. Etwas sträubte sich in ihnen gegen die Botschaft, der Mensch habe sich aus dem Tierreich entwickelt oder Raum und Zeit seien nicht so unveränderlich, wie es schien. In der Verbundenheit mit übersinnlichen Kräften suchten sie Halt, und Steiner, der charismatische Redner, kam ihnen als Fremdenführer durch die Gefilde des reinen Geistes gerade recht. Binnen eines Vierteljahrhunderts, bis zu seinem Tod am 30. März 1925, erklomm Steiner die Spitze einer spirituellen Bewegung, deren Anhänger ihn tief verehrten – und es bis heute tun.

Wer war dieser Rudolf Steiner? Er kam Ende Februar 1861, knapp fünf Jahre nach Sigmund Freud, in der Bahnstation von Kraljevec zur Welt, einem Örtchen an der kroatisch-ungarischen Grenze, 200 Kilometer südlich von Wien. Sein Vater Johann war dort Bahnhofsvorsteher. Die Familie blieb nicht lange in dem Provinznest, zog mit jeder Versetzung des Bahnmeisters alle paar Jahre in einen anderen Ort im Wiener Becken, über Mödling und Pottschach nach Neudörfl am Grenzfluss Leitha.

Die Eisenbahn war damals der Inbegriff von Fortschritt und Naturbeherrschung. Johann Steiners Arbeitsplatz lag an der Linie Budapest – Triest, deren spektakuläre Tunnel und Viadukte viel bewundert wurden. Der Transport von Menschen und Waren, die Kommunikation über parallel zur Bahntrasse verlaufende Telegrafenleitungen, sie prägten Rudolf Bild von der Welt: Alles war in Bewegung und strebte nach Profit. Steiner erlebte den Fluss der Güter und Informationen hautnah, blieb selbst jedoch an Ort und Stelle, wie ein Fels in der Brandung der Zeit.

Als 16-jähriger Realschüler kaufte Steiner eine Ausgabe von Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Sein Geschichtslehrer trug so monoton aus dem Lehrbuch vor, dass der Teenager seinen Reclam-Band in die einzelnen Bögen zerteilte und ins Schulbuch einlegte, um im Unterricht ungestört darin lesen zu können. Manche Seiten habe er sicher 20-mal studiert, bekannte er später. Doch Kants Erkenntniszweifel irritierte den jungen Intellektuellen hochgradig. Laut dem Steiner-Biografen Helmut Zander lässt sich seine nachfolgende geistige Laufbahn als ein lebenslanger Versuch deuten, »die von Kant in die Wege geleitete Vertreibung aus dem Paradies eines unmittelbaren Zugangs zur Welt wieder rückgängig zu machen«.

Steiner erlebte den Fluss der Güter und Informationen, blieb selbst jedoch ein Fels in der Brandung

1879 zog die Familie erneut um, diesmal nach Brunn, so nah der Hauptstadt, dass der Sohn an die dortige Universität pendeln konnte. Bis zum Herbst 1887, da war Rudolf bereits 26, lebte er bei den Eltern. Als Student ein strebsamer Eigenbrötler, schrieb er an einen vom Liebeskummer geplagten Freund: »Das ist echte Liebe, wo man mit dem Bilde zufrieden ist und das Fleisch nicht braucht, ja es unterdrückt. Da gibt's kein Grämen, keinen Kummer.« Hier stand jemand fest auf dem Boden der viktorianischen Triebbeherrschung.

Doch Steiner studierte ausgerechnet in der Hauptstadt der Frivolität. An der Technischen Hochschule Wien schrieb er sich für Naturwissenschaften ein, um die vom Vater erhoffte Laufbahn als Eisenbahningenieur einzuschlagen. Beeinflusst von dem Germanisten Julius Schröer wendet er sich dann aber der Literatur und Philosophie zu. Dann kam es zu einem folgenreichen Ereignis: Im Herbst 1882 übertrug der Lexikograf Joseph Kürschner dem Studenten die Edition der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für eine geplante Gesamtausgabe. Man stelle sich vor: Ein 21-jähriger Studiosus ohne Abschluss und bar jeder philologischen Erfahrung soll das Werk des Weimarer Nationaldichters kritisch editieren! Doch Kürschner war froh, überhaupt jemanden auf diese Herkulesaufgabe verpflichten zu können.

Der junge Mann stürzte sich in die Arbeit – und war bald überfordert. Er wurde der Tiefe von Goethes Schaffen in keiner Weise gerecht, stilisierte es vielmehr zu einem Bollwerk gegen den kantschen Skeptizismus. Goethe war Steiners wichtigster Gewährsmann bei der Suche nach dem, was er die »absolute Wahrheit« nannte. Grenzen des Wissens gab es für ihn nicht; um echte Erkenntnis zu erlangen, musste man nur wahrhaftig schauen. »Indem das Denken sich der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde das Weltendaseins«, raunt er in seinem Hauptwerk »Philosophie der Freiheit« von 1893. »Das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: Er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Ideen in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.«

In dieser Konzeption von »Wissenschaft« gibt es keine Unwägbarkeiten, kein mühsames Vortasten und Abwägen. Das stellte schon damals eine Hauptdifferenz zu jener echten Wissenschaft dar, die Fragen stellt, Hypothesen bildet, Methoden entwickelt, kritisch testet und verwirft. Verglichen mit Steiners Erkenntnispathos erscheint selbst Freuds empirisch schwer überprüfbare Theorie des Unbewussten als die reinste Lehrbuchwissenschaft.

Ein Enthusiast auf Abwegen

Steiner verzettelte sich zunehmend zwischen seinen editorischen Aufgaben, philosophischen Ambitionen und der Notwendigkeit des Broterwerbs. Da die Arbeit an der Goethe-Edition nicht genug einbrachte, arbeitete er parallel als Hauslehrer. Im Sommer 1888 verliebte er sich dabei in die 20-jährige Radegunde Fehr. Doch die Beziehung blieb wohl platonisch. »Wir liebten einander und wussten beide das wohl ganz deutlich; aber konnten auch beide nicht die Scheu davor überwinden, uns zu sagen, dass wir uns liebten.«

Schließlich verließ Steiner Wien und zog nach einem Zwischenstopp in Weimar, wo er sich vergeblich als Goetheaner zu etablieren versuchte, nach Berlin. Das war 1897. Um über die Runden zu kommen, tat er vieles, was seiner Überzeugung eigentlich widersprach. Er verachtete die Juden, hielt aber Vorträge im »Verein zur Abwehr des Antisemitismus«. Er war deutschnational gesinnt und sprach trotzdem neben Rosa Luxemburg bei der Eröffnung einer Arbeiterbildungsschule in Berlin-Spandau. Je weniger Anerkennung er fand, desto mehr umgab er sich mit einer Aura der Unnahbarkeit. Seine Mission: die Welt der Ideen vor dem Gift des Skeptizismus retten.

Anfang 1902 folgte dann der große Karrieresprung: Als Graf von Brockdorff altersbedingt die Leitung der Berliner theosophischen Loge abgab, beerbte ihn Steiner. Am 17. Januar trat er der Theosophischen Gesellschaft bei und wurde schon im Oktober Generalsekretär der deutschen Sektion. Eine Dekade lang sollte er dieses Amt innehaben – bis er seine eigene Gesellschaft gründete. Auslöser für das Zerwürfnis war eine abenteuerliche Geschichte vom neuen Heiland.

1910 verlegte die Britin Annie Besant den Hauptsitz der von ihr geführten Theosophischen Gesellschaft ins indische Adyar, einen Vorort von Madras. Um das abgelegene neue Zentrum der Bewegung zu rechtfertigen und es mit besonderem Flair auszustatten, fassten Besant und ihre rechte Hand Olcott einen kühnen Plan: Sie erklärten einen 15-jährigen feingliedrigen Jungen namens Jiddu Krishnamurti zum wiedergeborenen Jesus Christus. Besant ließ sich vom Vater des Jungen sogar das Sorgerecht übertragen und schuf den »Orden des östlichen Sterns«. Zunächst schien der Coup zu gelingen: Zahlreiche Medien in Europa und den USA kündeten von dem dunkelhäutigen Jesus aus dem Morgenland und verschafften Besant und ihrem Zweig weltweit Aufmerksamkeit. Doch letztlich förderte das Manöver nur die Abspaltungstendenzen innerhalb der Bewegung.

Dieser Beitrag ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus Steve Ayans 2024 erschienenem Buch »Seelenzauber – Aus Wien in die Welt: Das Jahrhundert der Psychologie« (München, dtv).
Cover von Steve Ayans Sachbuch »Seelenzauber«

Steiner reagierte erst zögerlich, dann empört. Dass man einen »Inderknaben« zum neuen Christus erhob, hielt er für »etwas, was nicht ernst zu nehmen ist«. Der deutsche Logenführer hatte mit derlei Exotik wenig am Hut und zog Ende Dezember 1912 einen Schlussstrich: Auf einem theosophischen Kongress in Köln rief er endlich die eigene Anthroposophische Gesellschaft aus. Steiners traumwandlerische Aura fand schnell viele Anhänger. »In seinen hypnotischen Augen wohnte eine dunkle Kraft«, schrieb der Dichter Stefan Zweig halb fasziniert, halb befremdet. »Sein asketisch-hageres, von geistiger Leidenschaft gezeichnetes Antlitz war wohl angetan, nicht nur auf Frauen überzeugend zu wirken.«

Es waren in der Tat vor allem großbürgerliche Damen, die von Steiners »Mischung aus Magistertum und Dämonie«, so der Schriftsteller Max Halbe, schwärmten. Die Schule der geistigen Vervollkommnung sollte den Menschen auf eine neue Daseinsstufe heben, jenseits der an das bloß Materielle gebundenen Existenz.

Steiner propagierte zwar keine Heilmethode im engeren Sinn, gleichwohl strebte seine Lehre nach einer geistigen Verwandlung durch Entfaltung jenes höheren, im Menschen angelegten Wesens. Steiner war weder Arzt noch Wissenschaftler; er wollte nicht kurieren noch im Sinne der zergliedernden, kritischen Wissenschaft Erkenntnisse schürfen. Seine Methode der Wahl war vielmehr: das Hellsehen.

Deutungshoheit des »Meisters«

Auf zahlreiche Anhänger wirkten die höheren Wahrheiten, die sich Steiner dabei offenbarten, durchaus heilsam. So gab es auffällige Parallelen zwischen Psychoanalyse und Anthroposophie, zwei populären Modeströmungen des frühen 20. Jahrhunderts. Beide versprachen die Eroberung unerkannter, jedoch essenzieller Seelenkräfte. Beide setzten auf die Macht der Bewusstwerdung. Und bei beiden gebührte dem »Meister« in allen strittigen Fragen die Deutungshoheit. Steiner sprach offen vom »Pfad der Verehrung«, den der gelehrige Schüler beschreiten müsste, und forderte Anerkennung seiner Autorität – nicht unähnlich Freud, der Abweichler von seiner Lehre subtil ins Abseits stellte oder auch kurzerhand exkommunizierte. So sehr sich das Lager der Esoteriker und jenes der frühen Psychoanalytiker also auch mit gegenseitiger Verachtung straften, ihre Hassliebe, so der Steiner-Biograf Zander, gründete »mehr in Nähe als in Unterschieden«.

Steiner war nicht nur rhetorisch begabt, sondern auch von einem manischen Arbeitseifer getrieben. Ein Vortragspensum mit tausenden Auftritten, oft mehreren am Tag, zeugte von Sendungsbewusstsein und ließ sein Gesamtwerk – zum Großteil Transkripte von Schülern, die den Belehrungen ihres Meister beiwohnten – im Laufe der Zeit auf mehr als 300 Bände anwachsen. Mit nur 64 Jahren erlag Steiner eine kurzen, aber heftigen Krankheit. Laut Zander war es womöglich ein Krebsleiden. Da Steiner lange vehement die Ansicht vertrat, Mistelextrakt beuge der Entartung von Gewebe vor, kam ein Krebs als Todesursache für seine Gemeinde allerdings kaum in Frage. Steiners letzte Gefährtin, die Ärztin Ita Wegman, trug wohl Sorge dafür, dass die Todesursache im Dunklen bleib.

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  • Quellen

Steiner, R.: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Felber, Berlin 1893

Müller, W.: Zumutung Anthroposophie. Rudolf Steiners Bedeutung für die Gegenwart. Info3, Frankfurt am Main, 4. Auflage 2023

Zander, H.: Rudolf Steiner. Die Biografie. Piper, München 2016

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