Metzler Philosophen-Lexikon: Wolff, Christian
Geb. 24. 1. 1679 in Breslau;
gest. 9. 4. 1754 in Halle
Immanuel Kant schrieb 1787 über W., er sei »der Urheber des Geistes der Gründlichkeit in Deutschland« gewesen. Er habe bewiesen, »wie durch gesetzmäßige Feststellung der Prinzipien, deutliche Bestimmung der Begriffe, versuchte Strenge der Beweise, Verhütung kühner Sprünge in Folgerungen der sichere Gang einer Wissenschaft zu nehmen sei«. In diese Hommage auf den führenden deutschen Aufklärungsphilosophen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermochte Hegel nur bedingt einzustimmen. Zwar rühmte auch er an W., daß er »sich große Verdienste um die Verstandesbildung« erworben und »die Philosophie zur allgemeinen, der deutschen Nation angehörigen Wissenschaft gemacht« habe. Jedoch bemängelte Hegel die fehlende Originalität von W.s Philosophie, die im Grunde nur ein populäres »Systematisieren der Leibnizischen« gewesen sei und die das »ganze Wissen in pedantisch-systematische Form« gebracht habe. Beide Urteile sind symptomatisch für die unterschiedliche Beurteilung der Stellung W.s in der Philosophiegeschichte. Da ist einerseits die Rede vom bahnbrechenden philosophischen Systematiker, der erstmals in Deutschland ein säkulares, in sich geschlossenes philosophisches System begrifflicher Exaktheit und gedanklicher Präzision konstruierte. Andererseits findet sich das Verdikt gegenüber dem kompilierenden Enzyklopäden und pedantischen Zuchtmeister einer uninspirierten, stubengelehrten Schulphilosophie, die lediglich die seelenlose Dogmatik einer wortklauberischen, haarspaltenden »Verstandesmetaphysik« (Hegel) etablierte.
Im schlesischen Breslau wurde der »größte unter allen dogmatischen Philosophen« (Kant) als zweiter Sohn eines protestantischen Gerbers geboren. W.s Vater mußte aus finanziellen Gründen seine Schulbildung als Primaner abbrechen und das Gerberhandwerk ergreifen. Seinen talentierten Sohn Christian bestimmte er für die Theologenlaufbahn, die ihm selbst verwehrt geblieben war. Zur Zeit von W.s Geburt war gerade die Blütezeit der schlesischen Literatur und Poesie zu Ende gegangen, eine Zeit, in der besonders schlesische Dichter wie Martin Opitz, Andreas Gryphius, Friedrich von Logau, Johannes Scheffler (Angelus Silesius), Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und Casper von Lohenstein den Ruf der deutschen Dichtung begründeten. Das geistig anregende Milieu der schlesischen Kultur vermittelte dem jungen W. eine Fülle unterschiedlicher Bildungseindrücke. Als Schüler des Breslauer Magdalenen-Gymnasiums wurde er von weltoffenen, geistigem Fortschritt zugeneigten Lehrern erzogen, die ihn mit Mathematik, Naturwissenschaften und der cartesischen Philosophie vertraut machten. Gleichzeitig wurde W. in Breslau Zeuge des Wetteifers der Konfessionen. Aus dem Erlebnis des Konfessionenstreits leitete er eine für seine weitere Laufbahn folgenschwere Erkenntnis ab: »Weil ich aber da unter den Catolicken lebte und den Eifer der Lutheraner und Catolicken gegen einander gleich von meiner ersten Kindheit an wahrnahm, dabey merckte, daß ein jeder Recht zu haben vermeinete; so lag mir immer im Sinne, ob es denn nicht möglich sey, die Wahrheit in der Theologie so deutlich zu zeigen, daß sie keinen Widerspruch leide.« Mit Hilfe der Mathematik als unzweifelhafter wissenschaftlicher Methode hoffte er, »die Theologie auf unwidersprechliche Gewisheit« zu bringen. Das rege mathematische Interesse veranlaßte W. auch bald nach seiner Immatrikulation an der Universität Jena im Jahr 1699, sich weniger mit Theologie als mit Mathematik und Naturwissenschaften zu beschäftigen. Besonders die Medicina mentis des frühen Aufklärers Ehrenfried von Tschirnhaus bestätigte ihn in seinem Vorsatz, anhand der Mathematik die Theologie neu zu begründen. Daneben studierte er Nicolas de Malebranche, Hugo Grotius und Samuel Pufendorf. 1702 ging W. nach Leipzig, um die Magisterprüfung abzulegen. 1703 habilitierte er sich für Mathematik und Naturwissenschaften. Aus W.s Leipziger Zeit datiert auch seine Bekanntschaft mit Leibniz, dessen Philosophie ihn nachhaltig beeinflußte. Zur gleichen Zeit avancierte er zum Mitherausgeber der Acta eruditorum Lipsiensium, der ersten gelehrten Zeitschrift in Deutschland. 1706 wurde W. »wegen seiner Erudition, Capazität in Mathematicis und guten Qualitäten« zum Professor für Mathematik und Naturwissenschaften im preußischen Halle ernannt. Ab 1709 lehrte W. auch Philosophie, der er sich in der Folgezeit ausschließlich widmete. Nach dem Vorbild von Christian Thomasius, der 1687 damit begonnen hatte, deutsche statt lateinische Vorlesungen zu halten, lehrte und schrieb auch W. in deutscher Sprache. W. begründete die deutschsprachige philosophische Terminologie, in die er Termini wie Bewußtsein, Vorstellung, Begriff und Wissenschaft einführte.
In Halle entwickelte W. sein philosophisches System in sieben Werken mit dem programmatischen Obertitel Vernünftige Gedanken von, in denen er seine Anschauungen zur Logik (1712), Metaphysik (1719), Ethik (1720), Gesellschaftstheorie (1721), Physik (1723), Teleologie (1723) und Biologie (1725) darlegte. W. will definitiv nachweisen, daß es vernünftig zugeht in der Welt, daß alle Phänomene rational erkennbar, begrifflich eindeutig erklärbar sind und daß sie sich in einem logischen, widerspruchsfreien System philosophischer Hermeneutik zusammenfassen lassen. Siebzig Jahre vor Kants berühmtem aufklärerischem Appell schrieb W.: »Jeder sollte nach so hurtigem Gebrauch der Kräfte des Verstandes streben, als nur immer möglich ist.« Den rechten Verstandesgebrauch lehrt die rationalistische Philosophie oder »Weltweisheit«. Für W. ist Philosophie »eine Fertigkeit des Verstandes, alles, was man behauptet, aus unwidersprechlichen Gründen unumstößlich darzutun«. Philosophische Erkenntnis bedarf eindeutiger Begriffe. Die wissenschaftliche Methodik exakter Begriffsbildung liefert der Syllogismus, die lückenlose logische Beweiskette, »da immer ein Glied an dem andern, und solcher Gestalt ein jedes mit allem zusammenhänget«. Philosophie ist zugleich »die Wissenschaft von allem, was möglich ist, so daß zum Gegenstand der Philosophie alle Dinge gemacht werden müssen«. Die Philosophie ist somit Organon zur Begründung der Einheit der Wissenschaften. W. versucht mit Hilfe seiner streng mathematisch-demonstrativen Methode, sich in möglichst allen Wissensbereichen seiner Zeit kundig zu machen, um die Einzelwissenschaften philosophisch zu begründen. Sein System des Wissens orientiert sich nicht mehr an den Vorgaben der Theologie, sondern an den Realwissenschaften. Vornehmste Aufgabe der Philosophie ist es, menschlicher Glückseligkeit und Perfektibilität den Weg zu ebnen. Im Anschluß an die Gesellschaftsvertrags-Theorien des 17. Jahrhunderts definiert W. die menschliche Gesellschaft »als ein(en) Vertrag einiger Personen, mit vereinigten Kräften ihr Bestes zu befördern«. Die Eckpfeiler seines politischen Ordnungsmodells sind der human verfaßte aufgeklärte Absolutismus und der rational konstruierte Wohlfahrtsstaat. W. erwartete optimistisch, daß eine aufgeklärte, von Vorurteilen gereinigte Vernunft unweigerlich zum Fundament allgemeiner Toleranz und vernünftigen Lebensgenusses werden müsse.
Daß der Versuch, im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts ein System rationalistischer Philosophie zu etablieren, kein leichtes Unterfangen war und auf erbitterten Widerstand einflußreicher Gegner stieß, bekam W. in Halle zu spüren. Zwar war er durch seine Schriften eine Kapazität von nationalem, ja internationalem Rang, Mitglied zahlreicher in- und ausländischer wissenschaftlicher Sozietäten und erfolgreicher akademischer Lehrer. Aber gerade der Erfolg und die allgemeine Wertschätzung der Philosophie W.s mobilisierte die Widersacher aus dem Kreis des orthodoxen Pietismus, dessen Hochburg die Hallensische Universität war. W.s Rektoratsrede Über die Sittenlehre der Sinesier (1721), in der er am Beispiel der konfuzianischen Lehre nachzuweisen versuchte, daß sich die Prinzipien der Ethik unabhängig von der jeweiligen Religion aus reinen Vernunftgründen erweisen lassen, bot den willkommenen Anlaß für die pietistischen Eiferer, eine Verleumdungskampagne gegen ihn anzuzetteln. Es gelang schließlich dem Haupt der Hallenser Pietisten August Hermann Francke, den preußischen König Friedrich Wilhelm I. vom angeblichen staatsgefährdenden Atheismus W.s zu überzeugen. W. wurde »bey Strafe des Stranges« des Landes verwiesen. In Marburg fand er als Professor »Mathesos et Philosophiae primario« eine neue Wirkungsstätte. 1740 rief der neue preußische König Friedrich II. W. unter ehrenvollen Umständen an die Universität Halle zurück. Er avancierte zum Kanzler der Universität und wurde 1745 zum Reichsfreiherrn ernannt. In seiner Marburger und zweiten Hallensischen Periode widmete sich W. der weiteren Ausgestaltung und Explikation seines Systems. Zu diesem Zweck verfaßte er umfangreiche lateinische Werke wie Psychologia empirica (1732), Psychologia rationalis (1734), Theologia naturalis (1736/37) sowie das achtbändige Jus naturae (1740–48). Seine lateinischen Werke machten W. endgültig zur europäischen Berühmtheit, zum »Maître à penser de l’Allemagne« (Voltaire), dessen Schüler bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die philosophischen Katheder Deutschlands beherrschten. Die außerordentliche Wirkung W.s bezeugt Johann Christoph Gottsched, der über seine eigenen Erfahrungen mit der Philosophie W.s schrieb: »Hier ging mirs nun wie einem, der aus einem wilden Meere wiederwärtiger Meynungen in einen sichern Hafen einläuft, und endlich auf festes Land zu stehen kömmt. Hier fand ich diejenige Gewißheit, so ich vorhin allenthalben vergeblich gesucht hatte. Nirgends habe ich diejenige Ordnung und Gründlichkeit gefunden und nirgends habe ich mich mehr befriedigen können, als in Herrn Wolffs Schriften.«
Schneiders, Werner (Hg.): Christian Wolff 1679–1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung. Hamburg 1983, 21986. – Gerlach, Hans-Martin u.a. (Hg.): Christian Wolff als Philosoph der Aufklärung in Deutschland. Hallesches Wolff-Kolloquium 1979 anläßlich der 300. Wiederkehr seines Geburtstages. Halle 1980.
Walter Weber
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