Metzler Lexikon Philosophie: De re/de dicto/de se
(1) De re und de dicto ist ein Begriffspaar, mit dem man seit der Scholastik zwei Arten von Modalaussagen unterscheidet. Inhaltlich findet sich die Unterscheidung bereits bei Aristoteles (Erste Analytik I, 9). In einer de-dicto-Konstruktion wird eine modale Eigenschaft, wie z.B. eine der sog. alethischen Modalitäten Möglichkeit und Notwendigkeit, von einem vollständigen Diktum ausgesagt; in einer de-re-Konstruktion bezieht sich die Modalität dagegen auf einen Gegenstand. Eine klassische Anwendung der Unterscheidung ist z.B. Thomas von Aquins Versuch, menschliche Freiheit mit göttlicher Allwissenheit zu versöhnen: Wenn Gott weiß, dass Sokrates sitzt, ist es dann nicht notwendig, dass dieser sitzt, womit er nicht frei wäre, (zu jenem Zeitpunkt) nicht zu sitzen? Wahr, so die Antwort, ist dieser Notwendigkeitssatz nur de dicto interpretiert, d.h. verstanden im Sinne von »Notwendigerweise gilt: Wenn Gott weiß, dass Sokrates sitzt, sitzt Sokrates«. Falsch jedoch wäre es nach Thomas, Sokrates (z.B. aufgrund göttlicher Allwissenheit) de re die Eigenschaft zuzuschreiben, zu jenem Zeitpunkt notwendigerweise zu sitzen; die Behauptung der de-re-Notwendigkeit in Bezug auf Sokrates »Wenn Gott weiß, dass Sokrates sitzt, sitzt Sokrates notwendigerweise«, wäre falsch (vgl. Summa contra gentiles I, 67; S.th. I, qu. 14, art. 13). Ob es de-re-Modalitäten überhaupt gibt, ist kontrovers. (2) Die de-re/de-dicto-Unterscheidung betrifft nicht nur Sätze mit alethischen Modalitäten, sondern auch strukturell ähnliche Konstruktionen wie z.B. Zuschreibungen propositionaler Einstellungen. De dicto verstanden besagt ein Satz der Form »a glaubt, dass b die Eigenschaft F hat«, dass a etwas glaubt, was durch das gesamte, dem Glaubensoperator folgende Diktum »b hat die Eigenschaft F« spezifiziert wird. Der Glaubensoperator fungiert dann als Satzoperator. De re verstanden besagt der Satz hingegen nur, dass a von dem Gegenstand b glaubt, dieser habe die Eigenschaft F. Wie a sich dabei auf b bezieht, bleibt dann offen: Der Glaubensoperator fungiert in diesem Fall logisch als Prädikatenoperator, der b die komplexe Eigenschaft zuschreibt, von a für etwas gehalten zu werden, das die Eigenschaft F hat. In diesem Sinne deuten wir etwa den Satz »Kolumbus glaubte, dass Castros Insel China sei« de re, denn Kuba konnte Kolumbus noch nicht als Castros Insel geläufig sein. Oft geht nur aus dem Redehintergrund hervor, ob die Zuschreibung einer propositionalen Einstellung de re oder de dicto zu deuten ist. Eine übliche Charakterisierung lautet, dass eine Glaubenszuschreibung der Form »a glaubt, dass p« de dicto zu deuten ist, wenn a einer Äußerung von p bzw. der Äußerung einer Übersetzung von p in a's Sprache zustimmen würde; andernfalls ist die Konstruktion de re zu deuten. (3) Umstritten ist die Frage, wann eine propositionale Einstellung selbst als de re oder de dicto zu klassifizieren ist. Generell wird für eine de-re-Einstellung einen engerer »epistemischer Kontakt« zu dem betreffenden Gegenstand gefordert. Paradigmatische de-re-Einstellungen sind Überzeugungen über einen Gegenstand, die auf dessen gegenwärtiger Wahrnehmung basieren. Paradigmatische de-dicto-Einstellungen sind solche, bei denen das Subjekt nicht einen bestimmten, ihm bekannten Gegenstand im Sinn hat, sondern unter einer Beschreibung (wie etwa »der älteste Mensch der Erde«) – was auch immer diese erfüllen möge – an etwas denkt. (4) Im Anschluss insbes. an Überlegungen H.-N. Castañedas wird vielfach vertreten, dass Einstellungen eines Subjekts zu sich selbst, die es in der Ersten Person Singular formulieren würde, weder als de-renoch als dedicto-Einstellungen zu analysieren sind, sondern dass es sich um eine dritte Art von Beziehung, um sog. Einstellungen de se handelt. Lewis (1979) und, unabhängig von ihm, Chisholm (1981) haben vorgeschlagen, diese nicht als propositionale Einstellungen, sondern als Selbstzuschreibungen von Eigenschaften zu modellieren. Für eine de-re-Analyse auch in diesem Fall plädieren dagegen Boër u. Lycan (1980) u. (1986).
Literatur:
- St. Boër/W. Lycan: Who, Me? Phil. Rev. 89 (1980). S. 427–466
- Ders.: Knowing Who. Cambr., Mass. 1986
- R. Chisholm: The First Person. Minneapolis 1981
- D. Kaplan: Quantifying In: Synthese 19 (1969). S. 178–214
- W. Kneale: Modality De Dicto and De re. In: E. Nagel u.a. (Hg.): Logic, Methodology, and Philosophy of Science. Stanford 1962. S. 622–633
- D. Lewis: Attitudes De Dicto and De Se. Phil. Rev. 88 (1979). S. 513–543
- A. Plantinga: The Nature of Necessity. Kap. I-III. Oxford 1974
- W. V. O. Quine: Quantifiers and Propositional Attitudes. In: Ders.: The Ways of Paradox and other Essays. Cambr./Mass. 1976. S. 185–202.
CJ
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