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»Polarschimmer«: Isolation und Schönheit

54 Wochen verbrachte Aurelia Hölzer als Ärztin an der deutschen Antarktisstation Neumayer III. Leidenschaftlich erzählt sie von der einzigartigen Natur und dem Leben im Team.

Als »Polarwinter« wird die Zeit von März bis Anfang November bezeichnet, in der die Antarktisstation Neumayer III von außen nicht zugänglich ist. Nur die neun Überwinternden (»ÜWIs«) betreiben dort Langzeitobservatorien und führen Forschungsprojekte weiter – trotz Kälte, Stürmen und Dunkelheit. Zu ihnen gehört die Gefäßchirurgin Aurelia Hölzer, die in »Polarschimmer« ihre Zeit als ÜWI beschreibt.

Im Gegensatz zu den Vorgängerstationen, die »im« Eis waren, steht die aktuelle dritte Antarktisstation des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) seit 2009 auf Stelzen auf dem Ekström-Schelfeis. Umfassende, vier Monate dauernde Vorbereitungen gehen der Überwinterung voraus: Die ÜWIs lernen Brände zu löschen, absolvieren ein Gletschertraining in den Bergen, und Aurelia Hölzer übt verschiedene Operationen und Zahnbehandlungen. »Trotz umfassender Vorbereitung trifft mich die Antarktis völlig unerwartet. Nie gefühlt, nie gesehen, alles unbegreiflich.«

Aurelia Hölzer hat einen »4-in-1-Job: Stationsleitung, Ärztin für alles inklusive Narkosen und Zähne, Betreiberin eines Einfraukrankenhauses und Mitarbeiterin von wissenschaftlichen Studien zur Weltraummedizin«. Im Februar 2022 ist es so weit: Die letzten Sommergäste reisen ab, die neun ÜWIs sind allein. Den größten Teil des Buchs nimmt denn auch die Zeit der Überwinterung ein, mit anschaulichen Beschreibungen des antarktischen Alltags, der Besonderheiten des Teams und der Schönheit der Umgebung.

»Unsere Daseinsberechtigung in der Antarktis ist die Wissenschaft«, schreibt die Autorin. Klimaforschung steht dabei im Mittelpunkt: die Zusammenhänge von Ozean, Eis, Meeresströmungen, Atmosphäre und ihre Auswirkungen auf das Klima. Sie erklärt, warum die Polarregionen eine Schlüsselfunktion für unser Klima haben. So ist der Zirkumpolarstrom um die Antarktis der mächtigste Meeresstrom der Erde und mit den anderen Meeresströmungen verbunden – er dient auch dem Golfstrom als Motor und beeinflusst so das Klima in den gemäßigten Breiten. Seit Jahrzehnten werden in der Antarktis Langzeitdaten erhoben, um kurzfristige Schwankungen von langfristigen Veränderungen unterscheiden zu können. »Es geht ganz entscheidend darum, voraussagen zu können, was uns in unserer Welt morgen erwartet.«

Geborgenheit in einer Extremsituation

Konkret heißt das etwa, dass am Spurenstoff-Observatorium SPUSO die antarktische Luft untersucht wird, zum Beispiel Aerosole, CO2, Methan, Ozon und Radon. Diese in der Antarktis einzigartigen, seit 1982/83 durchgeführten Langzeitmessungen betreut Umweltwissenschaftler Hannes. Der Meteorologe im Team ist Physiker Markus. Er ist nicht nur für die lokale Wettervorhersage zuständig, sondern lässt täglich einen Wetterballon vom Dach der Station starten, um in 30 000 Meter Höhe Temperatur, Luftfeuchte, Luftdruck und Windgeschwindigkeit zu messen. Diese Wetterdaten, die weltweit in unterschiedlichen Luftschichten mittels Ballonsonden gemessen werden, dienen der Wettervorhersage für die ganze Erde.

Die Autorin porträtiert alle ÜWIs in eigenen Kapiteln. Sie beleuchtet nicht nur jeweils die fachlichen Kompetenzen und Aufgaben, sondern auch ihren biografischen Hintergrund und die Rollen im Team. So steckt die Geophysikerin Alicia – mit 25 die jüngste Teilnehmerin – »voller Ideen und Umsetzungselan und verbreitet dazu jede Menge Sonnenschein«. Der älteste Teilnehmer ist Koch Werner. Er ist sehr wichtig, nicht nur aus physiologischen Gründen: »Jenseits von Genuss und körperlichem Wohlbefinden« hat Essen schließlich mit »Geborgenheit« zu tun – sie spielt eine große Rolle. »Wir leben an einem potenziell tödlichen Ort« und während der Überwinterung »in einer extremen sozialen Situation.« Daher sei es elementar, dass sich das Team wohlfühle, sonst könne die Stimmung leicht kippen. So haben ebenso Kreativität, Spielen und Quatschmachen einen hohen Stellenwert.

Die Schönheit der Antarktis

Auch die Technik rund um die Station erklärt die Autorin: wie das Blockheizkraftwerk, das Energie und die lebenswichtige Wärme liefert, oder das Wassersystem. Hier wird für Trinkwasser Schnee geschmolzen und einmal am Tag dafür die »Schneeschmelze gefüllt«. Begeistert schreibt die Autorin zudem über die Schönheit der Antarktis, eine »Welt aus überschaubaren Zutaten: Eis, Wind, Licht und Dunkelheit, Schönheit und Friedlichkeit«. Und sie schwärmt von Polarlichtern, die seien »jedes Mal einzigartig und beglückend«. Sogar das Phänomen »Whiteout« könne »wunderbar, aber auch bedrohlich sein«: Bei diesem »formlosen Nichts« sieht man keine Kontraste mehr, der Horizont ist weg, man hat keine Orientierung mehr. Dem Whiteout verdankt sie ihre einzige wirklich unangenehme Erfahrung: Bei heftigem Sturm und Whiteout verlor sie die Orientierung, bekam fast Panik, fand aber mit Hilfe ihres GPS zur Station zurück.

Ab April wird es immer dunkler und stiller, kälter und stürmischer. Zeigt das Thermometer etwa minus 30 Grad Celsius, beträgt der »Windchill« minus 40 Grad. »Zur Belohnung« gibt es stundenlange Sonnenuntergänge im April. Bis die Sonne am 20. Mai zum letzten Mal aufgeht – und zwei Monate lang Polarnacht ist. »Ich frage mich, ob mir, ob uns so langsam die Schrauben locker werden«, beschreibt Aurelia ihren Zustand mit zunehmender Müdigkeit, entspannter Zerstreutheit statt Willenskraft, Antriebslosigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten. Dies sind typische Symptome eines »Überwinterungssyndroms«, erklärt sie, als Folge von geografischer »Gefangenschaft«, Isolation, Ortsmonotonie und lebensfeindlicher Umgebung. Studien an Vorgänger-ÜWIs hatten etwa gezeigt, dass bestimmte Hirnareale während der Überwinterung um rund sieben Prozent schrumpfen können.Bei ihnen werden ebenfalls verschiedene Hirnfunktionen und Stoffwechselwerte erforscht – für die Weltraummedizin: Denn die zentralen Bedingungen der Überwinterung sind vergleichbar mit denen im Weltraum: Isolation und lebensfeindliche Umgebung.

Aurelia lässt uns außerdem an ihren Beobachtungen der tierischen Mitbewohner der Antarktis teilhaben. Neben Sturmvögeln und Weddellrobben beeindrucken sie vor allem die Kaiserpinguine. Eine der größten Kolonien dieser Vögel versammelt sich ab April auf dem Meereis: über 20 000 Pinguine, die einen »Riesenradau« machen. Sie paaren sich, die Mamas verschwinden nach der Eiablage ins Meer, um wieder zu Kräften zu kommen, die Papas brüten zwei Monate lang – »ausgerechnet in der kältesten, dunkelsten Jahreszeit«. Beim nächsten Besuch sind die Pinguinküken da, und die ÜWIs sind hingerissen »von ihren wundersamen Nachbarn«.

Schließlich geht die Sonne wieder auf, im Oktober ist Sommer mit einstelligen Minusgraden, also »gefühlt Hitze«. Im November tauchen die ersten Gäste auf. Der Sommer sei ein »Langstreckenrennen«: mit Forschungsprojekten, Expeditionen, Bauvorhaben und Projekten wie der jährlichen Stationserhöhung. Im Januar 2023 kommt die »Polarstern« als Versorgungsschiff. Dann findet die Stationsübergabe statt, und ein einmaliges Jahr geht zu Ende, denn »nur einmal darf man hier überwintern.« Der Abschied fällt der Autorin sehr schwer. »Hier in der Antarktis gibt es keinen Krieg und keine Kriminalität, keine Seuchen, keine giftigen Insekten […] Nur die pure Schönheit des Eises, den Wind und die Pinguine. Man fühlt sich als ÜWI in dieser paradiesischen Welt bestens aufgehoben.«

Das Buch enthält zahlreiche Farbfotos, durch die man einen guten Eindruck vom Leben in der Antarktis bekommt, außerdem Infografiken und ein Glossar. Es ist leicht lesbar – auch dank seiner meist kurzen Kapitel, die einzelne Themen beleuchten.

Aurelia Hölzer erzählt anschaulich und berührend von ihrem Jahr in der Antarktis, vor allem von ihrer Überwinterung mit acht anderen Menschen, die zu Freunden geworden sind. Sie beschreibt nicht nur, was sie erlebt hat, sondern auch, wie sie dieses Jahr empfunden hat. So ermöglicht sie all jenen ein faszinierendes Leseerlebnis, die diese Region der Erde wahrscheinlich nie selbst werden besuchen können.

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