Metzler Lexikon Philosophie: Heuristik
(Erfindungskunst; griech. heuriskein: finden, auffinden), Lehre bzw. Theorie der Verfahren zum Finden von Neuem und Problemlösen. Heuristische Verfahren ziehen nicht direkte, formalisierbare Schlüsse, sondern sind zur Lösung führende Hilfsmittel für Fragestellungen, zu deren Beantwortung eindeutige Verfahren fehlen oder unvertretbar aufwendig erscheinen. Sie dienen nur dem Auffinden, nicht dem Beweisen oder Begründen neuer Erkenntnisse, und arbeiten u.a. mit Analogien, Assoziationen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten und Generalisierungen. – In der H. werden zwei grundsätzlich verschiedene Richtungen vertreten. (1) Die kombinatorische oder lullistische H. sieht Neues als in der Neukombination grundsätzlich bereits vorhandener Elemente entstehend an und sucht dementsprechend eine weitgehend methodische Beschreibung innovativer Prozesse zu geben. Dies liegt bereits dem von Raimund Lull 1275 dargelegten Verfahren zur Generierung aller Wahrheiten aus einem endlichen Kanon von Prädikationen, Prinzipien und Problemen zugrunde und wird von Leibniz in seiner Erfindungslehre 1676 wieder aufgenommen. Der kombinatorischen H. wesentlich ist, dass mit der Beschreibung des zugrundegelegten Wissens die möglichen Lösungen – als im sog. »morphologischen Kasten« entstehende Kombinationen – bereits bestimmt sind. Insbesondere die in der Informatik entwickelten heuristischen Verfahren zur mathematischen Beweisfindung, zur Reduktion von Suchstrategien und zum Umgang mit vagem Wissen sind hier einzuordnen. (2) Die intentionale oder topische H. versteht hingegen Neues als Schöpfung neuer Elemente bzw. Stiften neuer Beziehungen und Prädikationen. Daher kann sie keine systematische Anleitung zur Problemlösung bieten, sondern nur eine Theorie innovativer Prozesse und ihrer Voraussetzungen, und ist ursprünglich der Topik zuzurechnen. Wie Aristoteles in der Beurteilung neuer Sachverhalte im Hinblick auf analoge Musterfälle ein nicht formalisierbares, aber lehrbares Verfahren sah, »auf der Grundlage der herrschenden Meinungen über jede vorgelegte Zweifelsfrage zu einem Urteil zu kommen« (Topik 100a), sollen nach Kant heuristische Begriffe nicht zeigen, wie ein Gegenstand bereits bestimmt ist, sondern als »regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs im Felde der Erfahrung« (KrV B 799) allererst die Leitlinien der Bestimmung der Gegenstände der Erfahrung und damit die Möglichkeit kreativer Zuschreibungen bieten. Topisch-heuristische Prozesse sind somit durch die Absicht der Problemlösung intentional geleitete Erörterungen neuer Sachverhalte und Vorstellungen. Die jeweiligen Topoi der Betrachtung werden in ihrer Problemrelevanz erst in der aktuellen Problematik gesetzt und sind daher in ihrer Bezugnahme auf den Gegenstandsbereich nicht formalisierbar. Dies H.-Verständnis findet sich insbesondere in der Jurisprudenz. – In wissenschaftstheoretischer Absicht definiert Lakatos negative heuristische Regeln für die Erstellung wissenschaftlicher Theorien und der Beurteilung ihres innovativen Gehalts.
Literatur:
- L. Bornscheuer: Topik. Frankfurt 1976
- C. Burrichter/R. Inhetveen (Hg.): Technische Rationalität und rationale Heuristik. Paderborn u.a. 1986
- I. Lakatos: Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Braunschweig/Wiesbaden 1982
- Th. Vieweg: Topik und Jurisprudenz. München 1974
- F. Zwicky: Entdecken, Erfinden, Forschen im morphologischen Weltbild. München/Zürich 1971.
EJ
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