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Quantenkognition: Denken wir quantenmechanisch?

Die Welt ist oft ungewiss. Wie unser Verstand damit umgeht, kann die klassische Statistik nur schlecht beschreiben. Wahrscheinlichkeitsmodelle aus der Quantenmechanik funktionieren hier besser.
Gehirn explodiert als Pixelwolke
Die Quantenlogik kann abbilden, wie Menschen handeln, wenn sie mit Unsicherheit und Ambivalenz konfrontiert sind. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass quantenmechanische Prozesse unser Denken bestimmen. Einige Fachleute schließen dies aber nicht aus.

Wie unser Gehirn im Detail funktioniert, ist bis heute unklar. So rätseln Fachleute weiterhin darüber, wie genau wir Informationen verarbeiten und auf ihrer Grundlage Entscheidungen treffen. Zusätzlich kompliziert wird die Sache dadurch, dass unser Verhalten nicht zwangsläufig der klassischen Logik folgt.

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist folgendes: Eine fiktive Person namens Hans spielt ein Glücksspiel, bei dem eine Münze geworfen wird. Bei Kopf gewinnt er 200 Euro, bei Zahl verliert er 100. Teilt man ihm das Ergebnis nach dem ersten Wurf mit, spielt er in der Regel noch einmal – unabhängig davon, ob er verloren oder gewonnen hat. Lässt man ihn aber im Unklaren über den Ausgang, lehnt er eine erneute Runde tendenziell ab. Dieses typische menschliche Verhalten haben erstmals Amos Tversky und Eldar Shafir von der Stanford beziehungsweise Princeton University im Jahr 1992 beschrieben und es widerspricht der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie. Denn jener zufolge müsste sich Hans auch bei geheim gehaltenem Ergebnis für einen weiteren Wurf entscheiden, da er genau das unabhängig vom Resultat tut, wenn er es kennt.

Auf solche »irrationalen« Verhaltensmuster stießen Psychologen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie führen zu etlichen bekannten Paradoxien der Verhaltensökonomie, bei denen Menschen vermeintlich unlogisch handeln, wenn sie mit Unsicherheit konfrontiert sind. Tatsächlich bringen aber nicht nur solche mehr oder weniger konstruierten Paradoxien die Wissenschaft in Erklärungsnot. Schließlich liegt jeder Entscheidungsfindung eine gewisse Ungewissheit zu Grunde.

Wir haben schlicht nicht genügend mentale Ressourcen, um alle Aspekte einer Sache gleichzeitig zu erfassen und sie in unsere Überlegungen miteinzubeziehen. Fachleute sprechen in dem Zusammenhang von »begrenzter« oder »eingeschränkter Rationalität«. Deshalb entscheiden wir mittels einer Heuristik – das ist ein Vorgehen, bei dem wir Aussagen auf die Schnelle nur anhand weniger Informationen treffen. Und abhängig davon, welche Informationen wir analysieren und in welcher Reihenfolge wir sie aufnehmen, ändert sich die Perspektive und letztlich unser Verhalten.

Metapher für die Fluidität des Denkens

Um diesen Sachverhalt mit Wahrscheinlichkeitsmodellen zu erfassen, mussten Psychologen, Kognitionsforscher und Theoretiker mitunter umständliche mathematische Formalismen erdenken. Das hat dazu geführt, dass viele unterschiedliche psychologische Modelle existieren, die sich teilweise widersprechen und von denen sich keines auf jede Situation anwenden lässt. Einige Experten halten daher die klassische Statistik für nicht geeignet, um menschliches Verhalten zu beschreiben und präzise vorherzusagen.

Stattdessen vermuten sie, dass die Quantenmechanik hier zu Hilfe kommen könnte. Um diesen Gedankengang zu verstehen, muss man sich den Unterschied zwischen quantenphysikalischem und klassischem Weltbild veranschaulichen. In der klassischen Realität hat ein System zu einem Zeitpunkt nur einen einzigen Zustand. Man denke an Schrödingers Katze in der Kiste – ein Gedankenexperiment des berühmten Physikers Erwin Schrödinger (1887–1961) (siehe »Schrödingers Katze«). Selbst wenn man nicht in die Box schaut, ist die Katze ganz eindeutig entweder tot oder lebendig. In einer quantenmechanischen Realität wäre sie jedoch so lange in einem überlagerten Zustand, also gewissermaßen sowohl lebendig als auch tot, bis man die Kiste öffnet und nachprüft. Erst dann »kollabiert die Wellenfunktion« – wie ein Physiker sagen würde –, die den Zustand der Katze beschreibt; erst jetzt ist das Tier faktisch tot oder lebendig. In der Welt der Quanten können Objekte also in einer Überlagerung mehrerer möglicher Zustände existieren. Das nennt man Superposition.

In den 1990er Jahren schlug der belgische Physiker Diederik Aerts erstmals vor, die quantenphysikalische Superposition zu verwenden, um menschliches Verhalten zu beschreiben. Unter anderem die beiden Psychologen Emmanuel Pothos von der City University of London und Jerome Busemeyer von der Indiana University Bloomington verfolgten seine Idee in den 2000er Jahren weiter. Ihre Erklärung: Entscheidungen beruhen auf unbestimmten Zuständen, die die intuitiven Gefühle von Konflikt, Mehrdeutigkeit oder Ungewissheit beinhalten. »Die Superposition fängt diese gemischten Gefühle ein. Das bedeutet nicht, dass unsere Gehirne buchstäblich Quantencomputer sind, wie einige Physiker spekulieren. Vielmehr ist die Quantenphysik eine nützliche Metapher für die Fluidität des menschlichen Denkens«, sagte Busemeyer 2012 gegenüber »Scientific American«.

»Anders als die klassische Logik ist die Quantenlogik geeignet, unterschiedliche Standpunkte oder Auffassungen gleichzeitig darzustellen«Günther Wirsching, Mathematiker

Wenn wir über verschiedene Optionen nachdenken, stellen wir sie uns mental vor. Zunächst existieren alle Möglichkeiten nebeneinander, und jede hat sozusagen eine gewisse Wahrscheinlichkeit, ausgewählt zu werden. Dies entspricht der quantenmechanischen Überlagerung mehrerer Zustände. Wenn wir uns dann auf eine Option konzentrieren, kollabiert die Wellenfunktion, und die anderen Auswahlmöglichkeiten existieren für uns plötzlich nicht mehr.

»Je nachdem, auf welche Umweltreize man bewusst oder unbewusst fokussiert, bekommt man das eine oder das andere Ergebnis«, erklärt der Mathematiker Günther Wirsching von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Das sei ähnlich wie bei einem Messversuch in der Quantenmechanik. »Misst man den Impuls eines Teilchens, sieht man den Ort nicht mehr und umgekehrt« (Impuls ist gleich Masse mal Geschwindigkeit). Mit unserer Art zu messen – was letztlich bedeutet, bestimmte Aspekte in die Entscheidung einzubeziehen und andere wegzulassen – beeinflussen wir das Ergebnis. So oder ähnlich würden Physiker wohl den Vergleich ziehen. Mathematiker wie Wirsching nutzen quantenmechanische Wahrscheinlichkeitsmodelle, um diese Entscheidungsprozesse zu beschreiben: »Anders als die klassische Logik ist die Quantenlogik geeignet, um unterschiedliche Standpunkte oder Auffassungen gleichzeitig darzustellen«, erklärt er (siehe »Die Mathematik hinter der Quantenkognition«).

Überlagerung mehrerer mentaler Zustände

Was bedeutet das in Bezug auf den eingangs beschriebenen Münzwurf? Bis zu dem Moment, in dem eine Entscheidung getroffen wird, befindet sich der Geist von Hans weder in einem Zustand von Kopf noch in einem Zustand von Zahl – er befindet sich in einem Zustand der Überlagerung, wie der britische Mathematiker Dorje C. Brody von der University of Surrey 2023 im Magazin »Scientific Reports« schreibt. Denn in der Quantenmechanik geht man davon aus, dass der Wurf gleichzeitig zu einem Gewinn und einem Verlust führt (mit anderen Worten: Schrödingers Katze ist sowohl tot als auch lebendig). In jenem zweideutigen Zustand der Superposition ist die endgültige Entscheidung von Hans eigentlich unvorhersehbar. Gemäß der Quantenlogik kann aber nun die Information über den Ausgang des vorangegangenen Experiments mit der Wellenfunktion auf eine Art wechselwirken, dass diese tendenziell in die Richtung von »Ja« kollabiert, also zur Entscheidung, erneut zu spielen. Die Information an sich, also Verlust oder Gewinn, ist dabei nicht ausschlaggebend.

Ein weiteres Beispiel ist ein bekanntes Experiment aus der Spieltheorie: das Gefangenendilemma. Hier hat ein hypothetischer Inhaftierter die Wahl, entweder mit seinem Komplizen zu kooperieren, also über ihre Verbrechen zu schweigen, oder gegenüber der Polizei auszupacken. Gestehen beide, wartet auf sie jeweils eine Haftstrafe von vier Jahren. Wenn beide schweigen, bekommen sie zwei Jahre aufgebrummt. Gesteht allerdings nur einer und der zweite schweigt, wird der Geständige frei gelassen und der andere für fünf Jahre eingesperrt.

Schrödingers Katze |

1935 schlug Erwin Schrödinger ein scheinbar paradoxes Gedankenexperiment vor: Man nehme eine Katze und sperre sie in eine Kiste. Außerdem stelle man noch ein Giftfläschchen (grün auf dem Bild) dazu sowie ein radioaktives Element (lila Kiste). Ein Geigerzähler (gelb) ermittelt, ob der Atomkern zerfällt, und löst in einem solchen Fall einen Mechanismus aus, der das tödliche Gift freisetzt. Das klingt grausam, verdeutlicht aber nur ein fundamentales Dilemma der Quantentheorie, mit dem der österreichische Theoretiker ihre Unvollständigkeit demonstrieren wollte. Das Problem: Der radioaktive Atomkern ist nach den Gesetzen der Quantentheorie zunächst in einem Überlagerungszustand aus »zerfallen und nicht zerfallen«. Würden jene Gesetze nun auch für makroskopische Objekte wie eine Katze gelten, müsste sich diese ebenfalls in einem Überlagerungszustand, nämlich »lebend und tot«, befinden. In einer derartigen Phase sind für Atom und Katze lediglich Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich.

Erst beim Öffnen der Kiste (dem Moment der Beobachtung oder Messung) ändert sich die Lage dramatisch. Dann enthüllt das Atom einen der beiden Zustände »zerfallen« oder »nicht zerfallen« – und die Katze erweist sich entsprechend als »tot« oder »lebendig«. So erklärt es jedenfalls die Kopenhagener Interpretation dieser bizarren Quantenphänomene, der die meisten Physiker anhängen. Als Ursache wird in dem Kopenhagener Bild ein »Kollaps der Wellenfunktion« postuliert, also eine Reduzierung von einem überlagerten Mischzustand zu einem eindeutigen Zustand.

Erfahren die Probanden nun, dass ihr Komplize »gesungen« hat, entscheiden sich die meisten ebenfalls fürs Überlaufen. Hat er hingegen den Mund gehalten, so wird der Großteil trotzdem auspacken (und somit ungeschoren davonkommen). Das Verhalten ist erwartbar, wenn man davon ausgeht, dass Menschen eigennützig handeln. Das Seltsame: Wird den Teilnehmern nicht mitgeteilt, welche Entscheidung der andere getroffen hat, schweigt die Mehrheit.

Die Erklärung aus Sicht der Quantenphysik liefert die Kognitionswissenschaftlerin Zheng Joyce Wang von der Ohio State University gegenüber dem Magazin »The Atlantic« sinngemäß wie folgt: In der Vorstellung des Gefangenen kann der andere schweigen oder abtrünnig werden. Jede dieser Möglichkeiten sei wie eine Gedankenwelle. Und wie Wellen aller Art – etwa von Licht, Schall, Wasser –, können sie sich gegenseitig stören und sogar auslöschen. Die beiden Neigungen des Spielers – sowohl überlaufen, wenn der Komplize redet, als auch, wenn er schweigt – können sich zum Beispiel gegenseitig aufheben, wenn mit beiden Optionen im Kopf jongliert werden muss. Verstärkt sich allerdings die Gedankenwelle »Der andere wird kooperieren« im Kopf eines Spielers, könnte er sich genauso dafür entscheiden, auszupacken.

Auf die Reihenfolge kommt es an

In der klassischen Wahrscheinlichkeitstheorie hängen die Antworten auf mehrere Fragen zudem nicht von deren Reihenfolge ab. Die Realität sieht jedoch anders aus. In einer vor mehr als 20 Jahren veröffentlichten Studie wurden Freiwillige gefragt, ob sie den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton für ehrlich hielten. Anschließend sollten sie dieselbe Einschätzung gegenüber seinem Vizepräsidenten, Al Gore, treffen. Auf die Frage, ob Clinton ehrlich ist, antworteten etwa 50 Prozent mit »ja«, und bezogen auf Gore erwiderten ungefähr 60 Prozent »ja«. Bei der umgekehrten Reihenfolge änderten sich die Zahlen zu 68 Prozent »ja« für Gore und 60 Prozent für Clinton.

Auch in der Quantenmechanik können die Ergebnisse entscheidend von der Reihenfolge der Versuche beeinflusst werden. Misst man beispielsweise die Position eines Teilchens und anschließend seinen Impuls, erhält man andere Ergebnisse, als wenn erst der Impuls und dann die Position gemessen wird. Man spricht hier von so genannten komplementären Observablen. Dem zu Grunde liegt das Prinzip der Komplementarität, das der Physiker Niels Bohr 1928 einführte, um sich dem Welle-Teilchen-Dualismus zu nähern: Zwei methodisch verschiedene Beobachtungen eines Phänomens schließen einander aus, gehören aber dennoch zusammen und ergänzen sich. Beobachtet man also Welleneigenschaften, verschwinden die Teilcheneigenschaften. Gleiches gilt für den Impuls und den Ort eines Teilchens: Misst man eine der beiden Größen exakt, lässt sich die andere nicht mehr genau bestimmen.

»Ich würde nicht final ausschließen, dass im Gehirn auf mikroskopischer Ebene auch Quanteneffekte auftreten«Günther Wirsching, Mathematiker

Busemeyer und Wang beschrieben 2015, was dies übertragen auf die Entscheidungsfindung bedeutet: »Komplementarität entsteht, wenn eine Person nicht gleichzeitig eine klar definierte Position zu jedem Politiker einnehmen kann. Man kann die »Ehrlichkeit« in Bezug auf Clinton oder Gore messen, aber nicht auf beide gleichzeitig. Die Reihenfolge, in der man misst, wirkt sich wiederum auf die Antworten aus.« Das liegt daran, dass die Antwort auf die erste Frage (Ist Clinton ehrlich?) einen Kontext erzeugt, der die Antwort auf die nächste (Ist Gore ehrlich?) verändert. Diese Inkompatibilität hat in der Quantenlogik zur Folge, dass eine Person, die sich über die Antwort auf eine Frage sicher ist, sich über die Antwort auf die andere Frage unsicher sein kann.

Das Gehirn, ein Quantencomputer?

»Wenn ein mathematisches Modell die Ergebnisse gut beschreibt, können durchaus materielle Strukturen dahinterstecken, die sich entsprechend verhalten«, sagt Wirsching. Daher würde er es nicht endgültig ausschließen, dass im Gehirn auf mikroskopischer Ebene auch Quanteneffekte auftreten. »Wir wissen es schlichtweg nicht, und es ist unglaublich schwer, das zu überprüfen.«

Dass im Gehirn Parallelen zu Phänomenen aus der Quantenphysik existieren, konnte der Physiker und Neuroinformatiker Peter beim Graben zeigen. Anfang der 2000er Jahre stellte er sich folgende Frage, an der er heute noch forscht: »Wie lassen sich Beschreibungen vom Gehirn, die man durch grobe Messungen wie ein EEG bekommt, mit den Prozessen verbinden, die auf mikroskopischer Ebene in den Neuronen vor sich gehen?« Beim Grabens Idee war damals, dass hier eine Komplementarität wie in der Quantenmechanik existieren könnte.

Zusammen mit dem deutschen Physiker Harald Atmanspacher arbeitete beim Graben eine Theorie aus, die dieses Prinzip auf Hirnmessungen anwendet: einerseits Gehirnwellen mittels EEG-Aufzeichnungen, andererseits Kernspintomografie-Scans, die auf Eigenschaften von Atomkernen im Gehirn beruhen – also auch hier eine Gegenüberstellung von Wellen und Teilchen. »Wir zeigten, dass sich der Formalismus der Komplementarität eignet, um die Beziehung zwischen makroskopischen Messungen und Vorgängen auf der mikroskopischen Ebene zu beschreiben«, erzählt beim Graben. Sie nannten ihren Ansatz »epistemische Quantisierung« (von altgriechisch »epistéme« für Erkenntnis, Wissen).

Die Mathematik hinter der Quantenkognition

Günther Wirsching und andere nutzen ein mathematisches Gebilde aus der Quantenphysik zur Beschreibung menschlichen Verhaltens: Man kann die Gesamtheit der möglichen Entscheidungen als Vektoren in einem einheitlichen Hilbertraum – eine bestimmte Art von Vektorraum mit Skalarprodukt – darstellen. »Mit diesem mathematischen Konstrukt aus der Quantenmechanik lassen sich die Entscheidungsoptionen und der Prozess des Fokussierens auf einen Aspekt unter vielen modellieren und schließlich die Wahrscheinlichkeiten für ein bestimmtes Verhalten berechnen«, erklärt Wirsching. »Und die Werte stimmen ziemlich gut mit den Ergebnissen aus psychologischen Verhaltensexperimenten überein.«

Einen offensichtlichen Bezug zu echten kognitiven Vorgängen und menschlichem Verhalten gab es zunächst nicht. Den stellte erst der theoretische Physiker und Sprachwissenschaftler Reinhard Blutner her. Er und beim Graben hatten 2015 die Idee, die epistemische Quantisierung auf die begrenzte Rationalität anzuwenden. »Ausgehend von den beschränkten mentalen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, kann man einen Formalismus ausarbeiten, der in der Darstellung der epistemischen Quantisierung endet.« Und siehe da: Mit diesem mathematischen Konstrukt aus der Quantenmechanik ließen sich plötzlich die oben beschriebenen fundamentalen Probleme der Psychologie und Kognitionsforschung lösen.

Zu der Zeit war das Forschungsfeld der Quantenkognition noch relativ jung. 2009 fand in Amsterdam ein Kongress zur mathematischen Psychologie statt, erinnert sich beim Graben. Viele weitere Kollegen, die auf dem Gebiet der Quantenlogik forschten, waren ebenfalls zugegen. »Wir haben ausgiebig diskutiert, wie wir das neue Forschungsgebiet nennen sollen.« Die Wahl fiel schließlich auf »Quantenkognition« – beim Graben nennt es ein »Buzzword«.

Erstaunlich viele Anwendungsfälle

Doch der mutmaßlich attraktive Name hat dem Forschungsbereich nicht die erhoffte Anerkennung gebracht. Weltweit sind es etwa ein paar dutzend Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen; in Deutschland lassen sie sich an einer Hand abzählen. »Die zugehörigen Arbeiten werden gut zitiert«, sagt beim Graben. Aus eigener Erfahrung bei Jobbewerbungen weiß er allerdings, dass in der Kognitionsforschung weiterhin die klassische Statistik bevorzugt wird. Laut Wirsching spielt hier möglicherweise Folgendes eine Rolle: »Solange man die Welt nur materialistisch auffasst, also lediglich die zu Grunde liegenden Atome, Moleküle und biochemischen Prozesse betrachtet, hat man kaum einen Zugang zur Quantenkognition.«

Trotz der geringen Beachtung in der Forschercommunity sind die Anwendungsfälle der Quantenkognition erstaunlich vielfältig. Beim Graben und Blutner haben zum Beispiel gezeigt, dass man damit Versuchsergebnisse aus der Musikpsychologie nachvollziehen kann, nämlich, weshalb für unser Gehör gewisse Töne besser zueinander passen als andere. In diesen Experimenten spielte man Versuchspersonen einen so genannten Priming-Kontext vor, etwa eine Tonleiter oder einen Akkord, der eine Tonart festlegt, beispielsweise C-Dur. Darauf folgt ein Ton, der zufällig aus den zwölf Stufen der chromatischen Tonleiter ausgewählt wird. Die Probanden müssen dann beurteilen, wie gut der Ton zum Priming-Kontext passt. Im genannten Kontext wird C (die Tonika) als maximal passend bewertet, gefolgt von den beiden anderen Mitgliedern des C-Dur-Dreiklangs G (der Dominante) und E (der Mediante). »Ausgehend vom Quintenzirkel haben wir Wellenfunktionsbeschreibungen für den zu Grunde liegenden Tonraum entwickelt«, sagt beim Graben. Am Ende ergab sich eine Zustandsbeschreibung, die wie die zentrale Gleichung der Quantenmechanik aufgebaut ist: die Schrödingergleichung.

»Mit der Quantenkognition könnten wir KI so gestalten, dass sie in der Lage ist, Perspektiven auszuwählen«Peter beim Graben, Physiker

Außerdem lässt sich die Quantenkognition womöglich für Anwendungen der künstlichen Intelligenz (KI) nutzen. Geforscht wird hierzu etwa in der Arbeitsgruppe von Matthias Wolff an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus–Senftenberg, mit der auch Peter beim Graben und Günther Wirsching zusammenarbeiten. »Für die KI verwendet man bislang hauptsächlich tiefe neuronale Netze. Das Problem: Man weiß eigentlich überhaupt nicht, welche internen Repräsentationen auf den tieferen Schichten entstehen«, sagt beim Graben. Die Algorithmen sind daher teilweise völlig intransparent und es ist unklar, wie die KI ihre Fähigkeiten entwickelt.

Würde man die Formalismen aus der Quantenkognition mit herkömmlichen KI-Modellen kombinieren, könnten die Systeme transparenter werden, erläutert beim Graben. Denn: »Die mathematischen Strukturen aus der Quantentheorie lassen sich interpretieren.« So hätten die Aktivitäten der künstlichen neuronalen Netze zu jedem Zeitpunkt eine symbolische Repräsentation – eine Bedeutung – und die ließe sich auslesen.

Ein weiterer Vorteil der Algorithmen auf Basis der Quantenlogik ist, dass sie schneller lernen als klassische neuronale Netze. Das liege in der mathematischen Natur dieser Systeme, erklärt Wirsching: »Ausgehend von einem in der Sprache der Quantenlogik formulierten Kontext werden für manche Fragestellungen wesentlich weniger Übungsdaten benötigt als zum Training eines neuronalen Netzes.« Ihm schwebt daher eine Kombination aus beiden Ansätzen vor. Ein neuronales Netz könnte man zum Beispiel relativ einfach mit vielen tausend, gut verfügbaren Bildern darauf trainieren, Blätter zu erkennen. »Aber damit kann die KI noch nicht zwischen Blättern verschiedener Pflanzen unterscheiden.« Sprich: Ist es ein Eichenblatt oder ein Buchenblatt? Die Fähigkeit ließe sich KI-Programmen, die auf Quantenlogik basieren, mit sehr wenigen Beispielen beibringen, meint Wirsching.

Und noch etwas: Derzeitige KI-Systeme nehmen lediglich eine Perspektive ein; Menschen hingegen haben viele und müssen sich für eine entscheiden. »Mit der Quantenkognition könnten wir KI so gestalten, dass sie in der Lage ist, Perspektiven auszuwählen«, sagt beim Graben. Gewissermaßen würde man die begrenzte Rationalität in die Systeme einbauen. »Dann hätte der KI-Agent eine Reihenfolge an Präferenzen, die sich aber verändern kann.« Auf diese Weise ließen sich Motive und Bedürfnisse in die KI implementieren: »Damit wären sie in ihrem Denken und Handeln qualitativ viel näher am Menschen als bisherige KI-Systeme.«

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  • Quellen

Beim Graben, P., Blutner, R.: Quantum approaches to music cognition. Journal of Mathematical Psychology 91, 2019

Beim Graben, P. et al.: Vector Symbolic Architectures for Context-Free Grammars. Cognitive Computation 2021

Beim Graben, P., Blutner, R.: Quantum cognition and bounded rationality. Synthese 193, 2016

Huber-Liebl, M. et al.: Quantum-inspired cognitive agents. Frontiers in Applied Mathematics and Statistics 8, 2022

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