Metzler Lexikon Philosophie: Imaginäre, das
Der Begriff des I.n hat vor allem in der Philosophie des 20. Jh. Bedeutung erlangt. Voraussetzung zur Konzeption des I.n ist ein psychologisch gewendetes Verständnis von Bewusstseinsleistungen, das die kreativen Möglichkeiten der Phantasie in den Vordergrund stellt. Philosoph/innen, die den Begriff verwenden, beziehen sich meist auf die Freud’sche Psychoanalyse. Am wenigsten ausgeprägt ist dieser Bezug bei Sartre, der eher gegen als mit Freud eine »existentielle Psychoanalyse« entwirft. Sartres Orientierung am Bild-Begriff (image) ist vor allem älteren, der Ästhetik zuzurechnenden Vorstellungen imaginärer Leistungen verpflichtet. Für Sartre ist das I. das noematische Korrelat der großen irrealisierenden Fähigkeit des Bewusstseins, die er Imagination nennt. Das I. wird zu einer festen Größe innerhalb einer existentialistisch-phänomenologischen Ästhetik. Im Gegensatz zu Sartre rückt bei Lacan und Castoriadis die realitätsstiftende Funktion des I.n in den Vordergrund. In Lacans frühem Text über das Spiegelstadium ist bereits ein erster Entwurf des I.n zu finden, das dort durch einen narzisstisch gefärbten Selbstentwurf charakterisiert wird. Es lassen sich eine intrasubjektive und eine intersubjektive Bedeutung des I.n unterscheiden. Für den späten Lacan ist das I. ein Aspekt der symbolischen Dreierstruktur, bestehend aus Realem, I.m und Symbolischem. Während das Symbolische intersubjektive Gültigkeit besitzt und das Reale sich unserem Wissen immer entzieht, nimmt das I. eine Mittelstellung ein, in der die kreativen Leistungen, die jedoch noch nicht symbolisch abgesichert sind, im Vordergrund stehen. Lacans Ansatz ist psychoanalytisch und strukturalistisch-sprachtheoretisch zu verstehen. Castoriadis entwirft das I. zwar im Anschluss an Lacan; bei ihm steht jedoch der gesellschaftliche Aspekt des I. im Vordergrund, den er in einer Verbindung von Marxismus und Psychoanalyse zu fassen versucht. Auch Castoriadis setzt das I. vom Symbolischen und seinen Institutionen ab; an die Stelle des Realen tritt bei ihm jedoch eine Untersuchung der materialen, ökonomischen Strukturen der Gesellschaft. Er unterscheidet zwischen einem radikalen und einem aktualen bzw. zwischen einem zentralen und einem sekundärem I.n. Um wirksam zu werden, sei das I. auf das Symbolische angewiesen. Es kennzeichne die subjektiven Wurzeln des revolutionären Entwurfs. Castoriadis’ politischer Akzentsetzung für das I. geht es um »das Denken der sich selbst schöpfenden Gesellschaft« (S. 609). Auch feministische Autorinnen greifen auf die schöpferische Kraft des I.n zurück. So postuliert Irigaray mit kritischem Bezug auf Lacan ein weibliches I.s, das der Entwicklung weiblicher Subjektivität zugrundegelegt werden müsse. Der Begriff wird auch dazu verwendet, die in philosophischen Ansätzen verwendeten bildlichen Vorstellungen und Phantasien zu bezeichnen (Le Doeuff).
Literatur:
- C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Frankfurt 1984
- L. Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts. Frankfurt 1980. S. 169 ff
- J. Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften I. Olten-Freiburg 1973. S. 61–70
- Ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Weinheim-Berlin 1978
- M. Le Doeuff: The Philosophical Imaginary. Stanford 1989
- J.P. Sartre: Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft. Reinbek 1971.
BES
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