Metzler Lexikon Philosophie: Lĭ
(Sitte, Sittlichkeit), Grundbedeutung des chinesischen Begriffs, wie im Deutschen: »die herrschenden Verkehrsformen« eines Volkes oder einer geschichtlichen Epoche. So berichten die alten Historiker über »Li« der vorangegangenen Dynastien. Klassikerwerke sind das Buch Über die Sitten der Zhou (Zhou Li, betreffend die Zhou-Dynastie 1100–711 v. Chr.) sowie das Buch der Sitten (Li Ji). Im Zuo Zhuan (Kommentar des Zuo zur alten Geschichte Chinas) heißt es entsprechend: »Li organisiert die Staaten, festigt die Gesellschaften, ordnet die Völker und bringt den späteren Generationen Nutzen«. Durch Kong Zi (551–479) und den Konfuzianismus wird der »Mos maiorum« (»Sitte der Väter«) zum überzeitlichen ethischen Ideal stilisiert, womit freilich der Sittenkodex der alten Feudalgesellschaft – wie die »Höflichkeit« und »Courtoisie« in Europa – verallgemeinert wird. Die Konfuzianer fordern eine Staats- und Gesellschaftsordnung durch Sittenherrschaft (Li Zhi), dies im Gegensatz zur Philosophie der Legisten (Fa-Schule), die alles durch Gesetzgebung regeln und verändern wollen. Sie besteht wesentlich in der Ordnung der fünf Beziehungen (Wu Lun bzw. Wu Chang) zwischen Fürst und Untertan, Ehemann und Ehefrau, Vater und Kindern, älteren und jüngeren Geschwistern, Freund und Freund gemäß den »Kardinaltugenden« Ren Yi Li Zhi. Meng Zi (372–289) definiert: »Das Wesen von Ren (Menschlichkeit) ist der Respekt vor den Voreltern; das Wesen von Yi (Rechtlichkeit) ist es, älteren Brüdern zu folgen; das Wesen von Zhi (Weisheit) ist es zu wissen, dass dies beides nie wegzulassen ist; das Wesen von Li (Sittlichkeit i.e.S.) ist es, beides mit Bescheidenheit und Takt zu praktizieren« (Meng Zi: Li Lou). Kong Zi selbst stellt in den Mittelpunkt Zhong Shu, d.h. Loyalität und Bescheidenheit, und erläutert: »Wenn einer wünscht eigenständig zu sein, soll er auch anderen Menschen zur Eigenständigkeit verhelfen; und was er zu erhalten wünscht, das soll er anderen Menschen auch einräumen« (Lun Yu, Yong Ye). Wie für den ethischen Intellektualismus des Sokrates oder die Naturrechtslehre der Stoa ist die wahre Sittlichkeit in der Natur des Menschen und der Sachen begründet, so dass der Wissenserwerb darüber in Sachforschung, Studium und Lehre im Konfuzianismus immer auch die höchstrangige sittliche Institution war. Die Große Lehre (Da Xue) aus dem Buch der Sitten formuliert es so: »Ehe die Alten der ganzen Welt ihre klare Tugendordnung erläutern wollten, brachten sie erst einmal ihren Staat in Ordnung. Ehe sie ihren Staat in Ordnung bringen wollten, bestellten sie ihr Hauswesen. Ehe sie ihr Haus bestellen wollten, bildeten sie sich selbst aus. Ehe sie sich ausbilden wollten, reinigten sie ihre Herzen. Ehe sie ihre Herzen reinigen wollten, legten sie sich Rechenschaft über ihre Absichten ab. Ehe sie sich Rechenschaft über ihre Absichten ablegten, verschafften sie sich Erkenntnisse. Erkenntnisgewinnung aber liegt in der Beschäftigung mit den Dingen« (Li Ji, Da Xue). Vgl. auch Gé Wù Zhì Zhī.
Literatur:
- L.Geldsetzer/H.-d. Hong: Chinesisch-deutsches Lexikon der chinesischen Philosophie. Aalen 1986. Art.: Selbstbeschränkung und Rückkehr zur Sitte (Kè Jĭ Fù Lĭ), Sitte (Lĭ), Sittliche Ordnung (Lĭ Zhì)
- R. May: Law and Society East and West. Dharma, Lĭ, and Nomos, their contribution to thought and to life, Heidelberg 1985.
LG/HDH
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