Metzler Lexikon Philosophie: Mystik
M. im philosophischen Sinn stützt sich auf eine Form von Leben und Denken, wie sie der alltäglichen Erfahrung zunächst und zumeist verborgen bleibt (Esoterisch/exoterisch). Sie erhebt jedoch den Anspruch, keine nur zusätzliche Erkenntnis aufzuzeigen, sondern die Erfahrung der grundlegenden und absoluten Realität zu thematisieren. So erscheint nur für das allgemeine Erfahren und Denken M. als das Verborgene. Der Mystiker selbst erfährt M. als das eigentlich Klare und Gewisse. M. gibt sich somit einerseits als etwas rationaler Logik grundsätzlich Entgegengesetztes und sie Übersteigendes (Transzendentes), andererseits aber auch als Grund jeglichen Erkennens. Die Begründung von M. kann somit durch rationalen Diskurs allein nie geleistet werden, sondern verlangt einen existentiellen Wandel, eine totale Umwandlung des Bewusstseins (Ekstase, Erleuchtung). So wird über die denkende Reflexion hinaus in der mystischen Literatur meist ein diesen Wandel fördernder meditativer Übungsweg (Meditation) sowie eine die spirituelle Erfahrung integrierende Praxis in der Welt beschrieben.
Der Begriff M. ist sprachgeschichtlich abgeleitet von den in den griech. Mysterienreligionen der Antike verwendeten Begriffen myein: schließen (vor allem von Lippen und Augen) oder auch myeín: in das Mysterium einweihen, bzw. von dem Adjektiv mystikos (lat. mysticus): zum Geheimwissen (mysteria) gehörend, geheim, geheimnisvoll, verborgen. Die Bedeutung in Bezug auf die unmittelbare Erfahrung des Absoluten ist zum ersten Mal bei Origines (3. Jh. n.Chr.) in dem Begriff der »mystischen Schau« (theoria) nachzuweisen. Mit dem Titel der Schrift über die »mystische Theologie« des Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500 n.Chr.) wird dann der zentrale Begriff für eine auf spirituelle Erfahrung bezogene Theologie geprägt. Erst im 17. Jh. emanzipiert sich das Adjektiv mystisch von der Theologie und M. ist als eigenständiger Begriff nachzuweisen. M. wird aber bald von der gläubigen Orthodoxie als verdächtiges Phänomen beurteilt, das im Bereich religiöser Verstiegenheit geortet wird. Die Aufklärung verstand unter M. den Bereich des Okkulten, Magischen oder völlig Irrationalen. Diese negativen Beurteilungen von nur oberflächlich verstandener M. herrscht bis heute auf breiter Ebene fort. So scheint es notwendig, zwischen einem Verständnis von M., das populär-esoterische Themen wie Seelenreisen, okkultistische Phänomene usw. meint, sowie der Hochform eines philosophischen Begriffs von M. zu unterscheiden. Das Phänomen der philosophischen M. ist unabhängig von der Verwendung des Begriffs M. in nahezu allen Kulturen und Zeiten aufzuweisen. Im Abendland sind ihre Grundelemente schon in der antiken griech. Philosophie zu finden. Mit dem Begriff der »Einung« (henosis) als der ursprünglichen und eigentlichen Dimension von Erkenntnis und Sein ist dann im Neuplatonismus das zentrale Motiv der christlichen M. vorbereitet, das später in der Vorstellung von der »Einung« der Seele mit Gott (Unio mystica) ihren Ausdruck findet. Als zentraler Vermittler dieses Denkens in das Christentum muss Pseudo-Dionysius Areopagita gelten, dessen Schriften bis zu Beginn der Neuzeit Geschichte machten. Bernhard v. Clairvaux, Hugo u. Richard v. St. Viktor legten im 12. Jh. die theologisch-philosophischen Fundamente der großen Zeit christlicher M. Es treten insbesondere Frauen als Autorinnen hervor (Hildegard v. Bingen, Mechthild v. Magdeburg (12.-13. Jh.). Texte der M. werden in den nationalen Sprachen verfasst, wobei die deutsche M. des 14. Jh. hervorzuheben ist (Eckhart, Tauler, Seuse). Das neuzeitliche Denken scheint dann zunächst der mystischen Philosophie entgegenzulaufen. Ihre zentralen Motive treten jedoch im dt. Idealismus oder in der Romantik in gewandelter Sprache und Form wieder auf. Als man im 19. Jh. die fernöstliche M. zu entdecken begann, war in Folge auch eine Neuaufnahme der Beschäftigung mit der Tradition christlicher M. festzustellen, die im 20. Jh. weitergeführt wurde.
Literatur:
- K. Albert: Einführung in die philosophische Mystik. Darmstadt 1996
- W. Beierwaltes: Denken des Einen. Frankfurt 1985
- P. Koslowski (Hg.): Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. München 1988
- G. Ruhbach, J. Sudbrack (Hg.): Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden. München 1989.
EWG
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