Metzler Lexikon Philosophie: Perspektivenübernahme
(auch Perspektivenwechsel). Die Theorie der P. nimmt als einen für soziale Interaktionen und Handlungen grundlegenden Prozess an, dass ein Subjekt (ego) innerhalb einer gegebenen Situation oder eines Bezugssystems, in dem es mit (mindestens) einem anderen Subjekt (alter ego) steht, sich virtuell in die Position des (bzw. der) anderen versetzen kann und dadurch deren Sichtweise von der gegebenen Situation rekonstruiert. Für die Handlungstheorie begründet das Rekonstruieren der Perspektive des anderen das Vermögen, die Handlung des anderen zu verstehen. Schütz interpretiert den Schritt von der P. zum Handlungsverstehen als eine fiktive »Personenvertauschung«, in dem das fremde Handlungsziel gleichsam als eigener Handlungsentwurf gedeutet wird. – Bei G. H. Mead wird die als »taking the attitude of the other« bezeichnete Operation zum einen als Grundlage einer Theorie der Interaktion entwickelt: Das Individuum antizipiert die Sichtweise und Erwartungen anderer, hat seinerseits Erwartungen an das Verhalten anderer und nimmt an, dass die anderen sich ihrerseits genauso orientieren. Zum anderen stellt die P. die fundamentale Bedingung für die Konstitution des Subjekts dar: Jeder Handlung oder Haltung des Einzelnen korrespondiert ein Spektrum von möglichen sozialen Reaktionen der anderen. Aufgrund der Fähigkeit des Einzelnen, die Haltungen der anderen (bzw. der gesellschaftlichen Erwartung) einzunehmen und sie als Reaktionen auf seine Handlung vorwegzunehmen, wird er sich seiner eigenen Identität bewusst. Wobei die Identität zwei Komponenten des Ich beinhaltet: (a) ein Wissen um die gesellschaftlichen Erwartungen, die in seinen eigenen Haltungen und Handlungsmöglichkeiten präsent sind, (b) eine subjektive Reaktion auf diese Erwartungen (Symbolischer Interaktionismus). Für Piagets Konzept der kognitiven Entwicklung stellt die P. einen Entwicklungsschritt dar, der die Perspektive des Egozentrismus (d.i. Beschränkung auf die eigene Sichtweise) ablöst. Sie stellt die Bedingung sowohl für das soziale (kommunikative und moralische) Verhalten dar, als auch für das Erkennen räumlicher Strukturen: Sich an eine soziale Situation oder an eine ganz bestimmte physische Umgebung anzupassen besteht darin, eine Gruppe von Relationen zu konstruieren und durch eine Operation der Koordination, die ihrerseits eine Anpassung und Reziprozität der Gesichtspunkte beinhaltet, sich selbst eine Stelle in dieser Gruppe zuzuweisen.
Literatur:
- D. Geulen (Hg.): Perspektivenübernahme und soziales Handeln. Frankfurt 1982. S. 24 ff
- W. Edelstein/M. Keller (Hg.): Perspektivität und Interpretation. Frankfurt 1982. S. 9 ff
- G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt 1973. S. 207 ff
- J. Piaget: Psychologie der Intelligenz. Zürich 1966
- Ders.: Denken und Sprechen des Kindes. Düsseldorf 1972
- A. Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Frankfurt 1974. S. 158 f.
PP
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