Metzler Lexikon Philosophie: Religionsphänomenologie
Die religionswissenschaftliche R. ist von der philosophischen Phänomenologie, v.a. von Scheler und Husserl beeinflusst, aber sowohl in ihren Methoden, als auch in ihrer Begrifflichkeit von ihr zu unterscheiden. – Die klassische R. fasst Religion als autonome Größe auf, die nicht auf psychologische oder soziologische Momente reduzierbar ist. Sie sucht über kulturelle und zeitliche Zusammenhänge hinweg nach übergreifenden Strukturen, in denen sich religiöse Erscheinungsweisen ordnen lassen. Dabei geht es wesentlich um das Verstehen, weniger um das Erklären des religionsgeschichtlichen Materials. Die empirischen Religionen werden als Erscheinungsweise eines gemeinsamen Grundes aufgefasst, der häufig mit der Kategorie des Heiligen (R. Otto) bezeichnet wird. Die Annahme eines einheitlichen Menschseins ermöglicht ein zeit- und kulturübergreifendes Nachvollziehen fremden religiösen Erlebens. Dies soll zum Verständnis des Sinnes und Wesens religiöser Erscheinungsweisen bzw. religiöser Phänomene führen.
Van der Leeuw bestimmt ein Phänomen als etwas, das sich zeigt. Dabei wird es weder von demjenigen, dem es sich zeigt, produziert, noch existiert es unabhängig von ihm. Das Phänomen ist nicht die Wirklichkeit an sich, die sich hinter den Erscheinungen verbirgt. Die Wirklichkeit an sich, das reine Leben selbst ist unfassbar, denn jedes Erleben unterliegt Deutungen. So wird selbst die Wahrnehmung des eigenen Lebens immer rekonstruiert. Die Rekonstruktion ist eine Strukturierung der Wirklichkeit, deren Hervorgang in der Spannung von Erleben und Konstruieren die Trennung von verstehendem Subjekt und verstandenem Objekt übersteigt. Hierdurch entsteht »sinnvoll gegliederte Wirklichkeit«. Verstehen kann sich nie auf Einzelnes beziehen, sondern sieht dieses immer schon in einem Zusammenhang. Denn anderes wird zugleich mitverstanden, das durch Ähnlichkeit oder Verschiedenheit in Beziehung gesetzt wird. So spielen in der Wahrnehmung »Typen«, oder auch »Idealtypen« eine Rolle. Ein Typus besitzt zwar für sich keine Realität, aber er zeigt sich als Zusammenhang in der historischen Realität. – Van der Leeuw unterscheidet folgende Momente des phänomenologischen Arbeitens, die nicht in einem strikten Nacheinander, sondern in gegenseitigem Bedingtsein zu verstehen sind: Die R. gibt den Phänomenen Namen, z.B. Opfer, Gebet, Heiland, Mythos. Eine Deutung dessen, was sich zeigt ist nur möglich, wenn dieses in das eigene Leben eingeschaltet wird. Die R. ist sich dessen bewusst, sie will »methodisch er-leben« (Phänomenologie der Religion, Epilegomena, § 107, 2). Sie stellt die Phänomene in idealtypische Zusammenhänge, und aus all dem ergibt sich das Verstehen. In ihrer Methode übt sie »epoché«, d.h. sie beschränkt sich auf »das, was sich zeigt« und schließt die Wahrheitsfrage aus. Sie bemüht sich jegliches Vorverständnis und wertendes Beurteilen zu vermeiden. Das verbietet nicht das Einbringen eigener Religiosität, die ohne dogmatische Voreingenommenheit gerade in dem Einleben in fremde Zusammenhänge ihre Berechtigung hat.
Der klassischen R. wird häufig vorgeworfen, einzelne Phänomene unter Missachtung ihrer historischen Entwicklung und ihrer spezifischen Bedeutung im kulturellen und religiösen Gesamtsystem in übergeordnete Strukturen einzuordnen. – Einen Neuansatz bietet J. Waardenburgs »Neustilphänomenologie«. Tatbestände besitzen keinen religiösen Wert an sich, sondern werden erst durch ihre subjektive Deutung durch die Gläubigen zu religiösen Tatbeständen, indem ihnen ein »Mehrwert« zugeschrieben wird. Der Deutung religiöser Handlungen, Vorstellungen etc. liegen Intentionen zugrunde, die sich auf eine Sinnwirklichkeit richten, die eine absolute Qualität beansprucht. Intentionen selbst sind zwar empirisch nicht messbar, aber sie bieten den Interpretationsschlüssel für die in der Empirie vorfindlichen Daten. Das Verstehen richtet sich so im Gegensatz zur klassischen R. nicht auf allgemeine Strukturen, sondern auf die subjektive Bedeutung religiöser Tatbestände für den einzelnen, bzw. eine Gruppe, d.h. im Besonderen auf die darin enthaltenen Intentionen, unter Einbezug des historischen Kontextes.
Literatur:
- E. Hirschmann: Phänomenologie der Religion. Würzburg 1940
- G. Van der Leeuw: Phänomenologie der Religion. Tübingen 1933
- J. Waardenburg: Religionen und Religion. Berlin 1986.
DL
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