Metzler Lexikon Philosophie: Ritual
Es gibt keine eindeutige Definition des R.s. Ob in der Form sozialen Handelns oder als Aspekt eines Verhaltens, das mit sakralen oder profanen Praktiken verbunden ist, ist der Begriff des R.s immer als eine analytische Kategorie innerhalb eines bestimmten Diskurses zu verstehen. Die meisten ihm zugeschriebenen Differenzierungsadjektive sind: formal, stereotypisch, repetitiv, zweckmäßig, paradigmatisch, zeitlos, performativ. Dass die Axiomatik der analytischen Begriffsbildung innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses nicht objektiv, neutral und unvoreingenommen bleibt, zeigt die Geschichte ihrer Anwendung. Die von Robertson-Smith beeinflusste Theorie Durkheims sieht das R. als Mittel für die Unterstützung der sozialen Solidarität innerhalb kleiner, traditioneller Gesellschaften, was nichts anderes als eine Reaffirmation des sozialen status quo bedeutet. Die öffentlichkeitsbezogene Natur des R.s und seine Auswirkung auf die Kontinuität der sozialen Strukturen – vertreten von Malinowski und Radcliffe-Brown – finden ihren Ausdruck in einem moderneren Paradigma des ökologischen Funktionalismus bei Rappaport. Aufgrund der strukturalistischen Analysen Lévi-Strauss’ verstehen E. Leach und M. Douglas das R. als eine Art Kommunikation, in der die Bedeutung als Konstituent anerkannt wird. In seinem symbolischen Aspekt wird das R. als »model of« und »model for« zum Inbegriff kultureller Interpretationen bei C. Geertz. – Eine neue Perspektive in der Ritualtheorie ist von den Turner’schen Begriffen Antistruktur und communitas gekennzeichnet. Anschließend an die Grundgedanken van Genneps der »rites de passage«, betont Turner nicht mehr die konservativen Momente des R.s, sondern seine Dynamik und Prozessualität. Durch die liminale Phase, die die Bedingung der Antistruktur darstellt, ermöglicht das rituelle Handeln communitas als ein transzendentales Gefühl des sozialen Zusammenseins. Erst aufgrund der communitas als Antistruktur ist eine Transformation der alten sozialen oder symbolischen Ordnung in eine neue möglich. Die Wende in der Ritualforschung kam mit der Anthropologie der Erfahrung, die den einzelnen rituellen Akteuren große Bedeutung zuschreibt. Sie spielen keine Mythen mehr, sie kreieren sie aufs Neue. Mit Einbeziehung der Erfahrbarkeit in die Ritualtheorie versucht man die Individuationsprozesse zu erkennen, die gleichzeitig eine Universalität beanspruchen, in der das R. und seine Akteure identisch werden, weil das Leben als Ganzes ritualisiert wird. Solche Ansätze eröffnen den Raum für einen neuen Diskurs (Ritual Studies), in dem das R. nicht mehr als ein hermeneutischer Begriff zur Repräsentation von Religion, Gesellschaft oder Kultur dient.
Literatur:
- É. Durkheim: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt 1994
- C. Geertz: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. New York 1973
- B. Malinowski: Magie, Wissenschaft, Religion. Frankfurt 1973
- R. Rappaport: Pigs for the Ancestors. Ritual in the Ecology of a New Guinea People. New Heaven 1968
- V W. Turner: From Ritual to Theatre. The Human Seriousness of Play. New York 1982.
SZ
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