Direkt zum Inhalt

Pubertät: Wie das Gehirn erwachsen wird

Das oft risikoreiche Verhalten von Jugendlichen ist nicht nur unvermeidlich, es spielt vermutlich auch eine wichtige Rolle in ihrer Entwicklung.
Drei Jugendliche fliegen beim Parkour in städtischer Umgebung durch die Luft.
Die Sportart Parkour ist bei Jugendlichen beliebt und erfordert neben sportlichem Können einigen Wagemut.

Es ist Dienstagabend, 23.30 Uhr, und Timm (16) ist mal wieder mit seinen Freunden unterwegs. Dass er morgen eine Mathearbeit schreibt, die über seine Versetzung in die gymnasiale Oberstufe entscheidet, scheint ihn nicht zu kratzen. Noch vor zwei Jahren erfüllte Timm der Geruch von Zigaretten mit Ekel und Alkohol war kein Thema, erzählt seine Mutter. Jetzt scheint es in der Freundesgruppe ein Ritual zu sein, Wodkaflasche, Vapes und Kippen im Kreis herumzureichen. »Lustig« nennt Timm das. Gegen Mitternacht tritt er mit dem Fahrrad den Rückweg an, den Helm auf dem Gepäckträger. Auf Gespräche über Gesundheitsgefahren lässt er sich gar nicht erst ein. »Seid froh, dass ich nicht kiffe«, lautet seine Standardantwort, wenn die Eltern an seine Vernunft appellieren.

Betrachtet man die Statistiken zu Unfällen und Drogenmissbrauch, fällt auf: Das Alter spielt für riskantes Verhalten offenbar eine zentrale Rolle. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene neigen zu Leichtsinn. Sie berauschen sich besonders häufig mit Alkohol oder Cannabis und sind auf der Straße die am stärksten gefährdete Altersgruppe. Nach Auswertungen des Statistischen Bundesamts verunglücken 18- bis 24-Jährige fast doppelt so oft wie andere Verkehrsteilnehmer, unter anderem, weil sie im Schnitt schneller unterwegs sind und sich eher betrunken ans Steuer setzen. Zudem sind sie häufiger in Straftaten und gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt als ältere Menschen.

Höchst empfänglich für Belohnungen

Diese Beobachtungen spiegeln sich auch in der Selbsteinschätzung von Heranwachsenden wider. In einer aktuellen US-Untersuchung von 2024 beantworteten gut eine Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Frage, wie gerne sie mit gefährlichen Aktivitäten ihre Grenzen austesten. Demnach erreicht die Risikobereitschaft im Schnitt mit 16 bis 17 Jahren ihren Höhepunkt – egal ob schwarz oder weiß, Männlein oder Weiblein, Städterin oder Landbewohner. Woran liegt das? Eine wichtige Rolle spielt dabei vermutlich eine gesteigerte Empfänglichkeit für belohnende Erfahrungen. So weiß man aus Versuchen mit Ratten, dass bei ihnen während der Adoleszenz die Produktion des Botenstoffs Dopamin im so genannten Striatum stark ansteigt – einem zentralen Bestandteil des Belohnungssystems. »In der Adoleszenz scheinen die Hirnschaltkreise, die Belohnungen verarbeiten, besonders aktiv zu sein«, erklärt Beatriz Luna, Psychiatrieprofessorin und Leiterin des Labors für neurokognitive Entwicklung an der University of Pittsburgh.

Risikospitze | Mit durchschnittlich 16 bis 17 Jahren erreicht die Bereitschaft zu gefährlichen Aktivitäten ein Maximum. Dies ergab die Befragung von mehr als einer Million Personen ab einem Alter von zwölf Jahren.

Fachleute vermuten darin den Grund, warum wir uns in dieser Lebensphase so sehr zu neuen Erfahrungen hingezogen fühlen – unabhängig von der Kultur, in der wir aufgewachsen sind. Auch bei anderen Säugetieren, etwa bei Ratten oder nichtmenschlichen Primaten, wächst jetzt »der Hunger auf Neues«, im Englischen als »novelty seeking« bezeichnet.

Die Zeichen stehen auf Fortpflanzung

Die Pubertät ist eine Zeit dramatischen Wandels. Alles ändert sich: die Körperproportionen, unsere Gefühle, die Art und Weise, wie wir denken. Jugendliche kriechen unter den schützenden Fittichen der Eltern hervor, probieren sich aus, lernen, was sie mögen und was nicht. Der Dopamin-Schubser motiviert sie ebenso wie andere adoleszente Säugetiere dazu, diese Abnabelung zu vollziehen. Denn genau die ist für den Arterhalt von essenzieller Bedeutung. »In dieser Phase werden wir auf die biologische Notwendigkeit der Fortpflanzung vorbereitet«, sagt Luna. Wer immer bei Mama und Papa bleibt, weil es dort so schön ist, hat schließlich schlechte Karten bei der Suche nach einer Partnerin oder einem Partner.

Doch der Sirenenruf des Dopamins reicht nicht aus, um die erhöhte Risikobereitschaft Heranwachsender zu erklären. Hinzu kommt vermutlich eine zweite Ursache: In jungen Jahren haben wir uns nicht so gut im Griff. Die geistigen Kontrollfähigkeiten sind noch nicht voll ausgeprägt – in der Neuropsychologie spricht man hier von den Exekutivfunktionen. Sie erlauben es uns, ein Ziel zu verfolgen und uns dabei nicht ablenken zu lassen. Ohne sie wären wir ein Spielball unserer impulsiven Eingebungen. Wir würden ständig unser Verhalten ändern, je nachdem, was uns gerade in den Sinn (oder vor die Sinne) kommt. Deshalb fällt es Jugendlichen noch einmal schwerer, Verlockungen zu widerstehen.

Was wollte ich hier noch mal?

Kleinkinder krabbeln beispielsweise in Richtung eines Balls, vergessen aber ihr ursprüngliches Ziel, wenn sie auf dem Weg auf ein anderes Spielzeug treffen. Je älter sie werden, desto schwerer lassen sie sich ablenken. Denn schon kurz nach der Geburt beginnen sich die Fähigkeiten zu entwickeln, die für Exekutivfunktionen essenziell sind. Eine davon ist ein leistungsfähiges Arbeitsgedächtnis: Um an einmal gefassten Plänen festzuhalten, müssen wir sie zunächst im Kopf behalten. Wie wichtig das ist, wissen alle, die hin und wieder rätselnd in der Küche stehen und sich partout nicht daran erinnern können, was sie dort eigentlich wollten.

»Zur Einschulung sind Merkfähigkeit, Konzentrationsvermögen und Flexibilität in der Regel so weit entwickelt, dass wir erstmals von wirklicher exekutiver Kontrolle reden können«Simon Eickhoff, Neurowissenschaftler

Exekutivfunktionen umfassen noch zwei weitere Kernkompetenzen: erstens das Vermögen, sich auf ein Ziel zu konzentrieren und voreilige oder kontraproduktive Verhaltensweisen zu unterdrücken. Und zweitens, zwischen verschiedenen Aufgaben flexibel zu wechseln, je nachdem, welche gerade dringlicher ist. »Bei der Einschulung sind Merkfähigkeit, Konzentrationsvermögen und Flexibilität in der Regel so weit entwickelt, dass wir erstmals von wirklicher exekutiver Kontrolle reden können«, erklärt Simon Eickhoff, Professor für Neurowissenschaften am Forschungszentrum Jülich. »Der nächste große Schritt erfolgt dann im Lauf der Pubertät: In dieser Phase lernen wir vorauszudenken, den größeren Kontext mit einzubeziehen und langfristige Konsequenzen zu berücksichtigen.« Wir wollen nicht länger heute Astronaut und morgen Popstar werden. Und wir behalten zunehmend die Zwischenschritte im Auge, die wir für die Realisierung unserer Zukunftspläne tun müssen. »Höhere Exekutivfunktionen« nennt das Eickhoff.

Turmbau zu London

Dass wir uns als Erwachsene besser im Griff haben als im Kleinkindalter, ist offensichtlich. Doch welchem Verlauf folgt dieser Zuwachs genau? In welchem Alter machen wir besonders schnelle Fortschritte, und wann ist die Entwicklung abgeschlossen? Fachleute haben Dutzende von Tests entworfen, mit denen sich solche Fragen untersuchen lassen. Einer von vielen ist der »Tower of London«: Die Versuchsperson erhält ein Brett mit drei aufrecht stehenden Holzstäbchen, auf die einige Perlen in verschiedenen Farben gefädelt sind. Die Aufgabe besteht darin, diese so zwischen den Stäben umzusortieren, dass sie am Ende ein vorgegebenes Muster bilden. Dabei darf eine bestimmte Zahl von Zügen nicht überschritten werden. Um das zu schaffen, muss die Testperson ihre Aktionen gut vorausplanen. Außerdem muss sie den Impuls unterdrücken, voreilig einfach irgendwelche Züge auszuprobieren.

Tower of London | Bei diesem Test für die exekutiven Funktionen ist Vorausplanung gefragt. Die Versuchsperson erhält ein Brett mit drei darauf festgeleimten aufrecht stehenden Holzstäbchen, auf denen einige verschiedenfarbige Perlen aufgefädelt sind. Nun soll sie die einzelnen Kugeln mit möglichst wenigen Zügen so umstecken, dass ein vorgegebenes Farbmuster entsteht.

Beatriz Luna ist kürzlich der Frage nachgegangen, wie sich die Exekutivfunktionen im ersten Lebensdrittel verändern. Dazu wertete sie vier verschiedene Datensätze von insgesamt mehr als 100 000 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus. Ergebnis: Bis zu einem Alter von durchschnittlich 15 Jahren verbesserte sich die exekutive Kontrolle rapide. Danach flachte der Zuwachs zwar ab, aber auf Erwachsenenniveau stabilisierte sich die Kurve erst mit 18 bis 20 Jahren. Bei entsprechenden Tests im Kernspintomografen hatte sich 2021 gezeigt, dass sich im Lauf der jugendlichen Entwicklung dabei die Arbeitsweise des Gehirns verändert.

Verhaltenssteuerung | Zu den »exekutiven Funktionen« gehört beispielsweise die geistige Flexibilität, die Fähigkeit, sich nicht ablenken zu lassen, oder das Vermögen, kontraproduktive Impulse zu unterdrücken. Wie gut sie ausgeprägt sind, misst man durch verschiedenste Tests. Laut den Ergebnissen bei mehr als 100 000 Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbessern sich die Exekutivfunktionen in der Kindheit und Jugend rapide. Das Niveau eines Erwachsenen erreichen sie dann mit 18 bis 20 Jahren.

Die Psychiatrieprofessorin glaubt daher, dass die Risikofreude von Teenagern die Folge einer Kombination von zwei Faktoren ist: einerseits der ausgesprochen hohen Empfänglichkeit für Belohnungen zu dieser Zeit und andererseits den noch nicht voll ausgeprägten Exekutivfunktionen. Laut der Theorie des »Dual-Systems«-Modells handelt es sich dabei im Gehirn um zwei verschiedene Systeme, deren unterschiedlicher »Reifegrad« es Heranwachsenden schwer macht, angesichts aufregender neuer Erfahrungen einen kühlen Kopf zu bewahren.

Folgen für die Rechtsprechung

Demnach ist durchaus nachvollziehbar, wenn Jugendliche vor Gericht anders als Erwachsene behandelt werden. Der Oberste Gerichtshof der USA etwa hat im Jahr 2012 die Regeln für eine lebenslängliche Haft geändert: Bei Straftätern unter 18 Jahren ist nun in den Vereinigten Staaten die Möglichkeit einer vorzeitigen Entlassung vorgeschrieben (bei entsprechend positiver Führung und Prognose). Der Supreme Court begründete sein Urteil explizit damit, dass das Gehirn von Jugendlichen bezüglich seiner Fähigkeit zu Impulskontrolle und Risikovermeidung noch nicht voll ausgereift sei. Vorher konnten schon 16-Jährige bei schweren Straftaten lebenslang weggesperrt werden; bis 2005 war bei jugendlichen Mördern sogar die Todesstrafe möglich.

»Der Gedanke, dass es ein heißes, emotionales und ein kaltes, rationales System gibt und dass das erste das zweite in der Jugend überwiegt, ist zu stark vereinfacht«Tobias Hauser, Kognitionsforscher

Unumstritten ist das Dual-Systems-Modell jedoch nicht. »Dass Jugendliche die Tendenz haben, weniger weitsichtige Entscheidungen zu treffen, ist sicher korrekt«, sagt Tobias Hauser, Professor für Computational Psychiatry an der Universität Tübingen. »Der Gedanke, dass es ein heißes, emotionales und ein kaltes, rationales System gibt und dass das erste das zweite in der Jugend überwiegt, ist jedoch zu stark vereinfacht. Das spiegelt einfach nicht die komplexe Realität der neuronalen Entwicklung wider.« Für ihn schwingt bei dem Modell zu sehr mit, dass junge Menschen per se unüberlegtere Entscheidungen treffen als ältere. »Das ist aber nicht grundsätzlich so – manchmal sind Jüngere darin sogar besser als Erwachsene.« Das gelte etwa für Kinder, also eine Altersgruppe, bei der die Exekutivfunktionen noch schwächer entwickelt sind als bei Teenagern: »Sie sind oft besonders vorsichtig und sammeln mehr Informationen, bevor sie sich entscheiden.«

»Die Anerkennung der Gruppe ist einer der stärksten Belohnungsreize. Ich glaube, es ist vor allem der soziale Kontext, der das Risikoverhalten fördert«Simon Eickhoff, Neurowissenschaftler

Auch die Rolle des Belohnungssystems ist komplexer, als es das Modell suggeriert. Denn Jugendliche handeln in Anwesenheit ihres Freundeskreises häufig ganz anders als allein. »Die Anerkennung der Gruppe ist einer der stärksten Belohnungsreize«, betont Simon Eickhoff vom Forschungszentrum Jülich. »Ich glaube, es ist vor allem der soziale Kontext, der das Risikoverhalten fördert.«

Tatsächlich suchen junge Menschen vor allem dann den Kick, wenn sie mit ihrer Peergroup zusammen sind. Das hatte bereits 2011 eine Studie des US-Psychologen Laurence Steinberg ergeben. Sein Team setzte Jugendliche und Erwachsene an einen Fahrsimulator. Auf dem Parcours passierten sie verschiedene Ampelkreuzungen. Während sie sich näherten, wechselte das Signal von Grün zu Gelb. Die Versuchspersonen mussten sich nun entscheiden: Fahre ich weiter und riskiere einen Unfall? Oder bleibe ich stehen und gehe auf Nummer sicher? Sehr schnellen Fahrerinnen und Fahrern winkte ein Preisgeld; es gab daher einen Anreiz, die Ampel zu missachten.

Einfluss der Peergroup

Die Heranwachsenden widerstanden der Versuchung im Normalfall ähnlich oft wie die Älteren – jedoch nicht immer: Einige von ihnen wurden bei ihrer Fahrt von Freunden beobachtet. Sie bremsten im Schnitt deutlich seltener und rasselten auf der Kreuzung entsprechend häufiger mit anderen Fahrzeugen zusammen. In Hirnscans, die während des Experiments aufgezeichnet wurden, zeigten sich bei dieser Gruppe im Vergleich zu den anderen Probandinnen und Probanden zwei Bereiche auffallend aktiv: das ventrale Striatum und der orbitofrontale Kortex. Beide Areale sind an der Vorhersage und Einschätzung von Belohnungen beteiligt.

Glaubten die Teens, mit ihrer waghalsigen Fahrweise bei ihrem Freundeskreis zu punkten? Eine andere Studie aus Steinbergs Arbeitsgruppe deutete darauf hin, dass es noch eine andere Erklärung geben könnte. Als Versuchsteilnehmer dienten nun Mäuse. Von menschlichen Jugendlichen weiß man, dass sie vor allem gemeinsam Alkohol trinken. Sie kommen so gut wie nie allein auf die Idee, ihr erstes Glas Bier oder ihren ersten Wodka Feige zu probieren.

Junge Mäuse »saufen« mehr

Steinberg beobachtete: Auch die Nager tranken im Beisein von Altersgenossen deutlich mehr. Und ähnlich wie bei uns Menschen beschränkte sich dieser Effekt auf junge Tiere – erwachsene Mäuse nahmen in Gesellschaft nicht mehr Alkohol zu sich als allein. Gruppendruck schließt das Team als Erklärung für die Ergebnisse aus: »Mäuse sind mit ziemlicher Sicherheit nicht dazu in der Lage, sich über die Überzeugungen oder Vorlieben von Artgenossen Gedanken zu machen oder so zu handeln, dass sie damit die Wahrscheinlichkeit einer späteren sozialen Belohnung erhöhen.« Vielmehr mache allein die Anwesenheit von Peers Heranwachsende – egal ob Tiere oder Menschen – aufgeschlossener für Reize, die das Belohnungssystem stimulieren.

Weitgehend unumstritten ist, dass die Fähigkeiten zur kognitiven Kontrolle erst mit den Jahren vollständig ausreifen. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Stirnhirn, genauer der präfrontale Kortex, der essenziell für zielgerichtetes Handeln ist. Er steuert, worauf wir gerade unsere Aufmerksamkeit richten, und entscheidet zwischen verschiedenen Handlungsalternativen. Dabei steht er in regem Austausch mit dem Belohnungssystem. Der Neurotransmitter Dopamin hilft dem Präfrontalkortex, die Optionen zu bewerten. Dabei fließen auch die Erfahrungen ein, die wir früher in ähnlichen Situationen gemacht haben: War es damals gut, wie wir uns entschieden haben? Oder eher nicht?

Jetzt wird das Gehirn optimiert

In der Kindheit nimmt die Zahl der Nervenzellen im präfrontalen Kortex zu, ebenso wie in vielen anderen Bereichen des Gehirns. Spätestens mit Eintritt in die Pubertät ist dieser Vorgang jedoch abgeschlossen. Stattdessen setzt nun ein Prozess ein, den der Jülicher Neurowissenschaftler Simon Eickhoff als »Optimierung der neuronalen Verknüpfungen« bezeichnet. Dabei gehen wenig genutzte Synapsen verloren – ein Phänomen, das in der Fachwelt als »Pruning« (englisch: to prune = stutzen) bekannt ist. Stark frequentierte Verbindungen werden dagegen verfestigt und ausgebaut. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die isolierende Ummantelung wichtiger Nervenbahnen mit Myelin. Dadurch erhöhen sich die Geschwindigkeit, mit der Nervenimpulse weitergeleitet werden, sowie die Frequenz, mit der die Neurone feuern können. Der US-amerikanische Hirnforscher und Psychiater Jay Giedd schätzt, dass beide Effekte zusammen die Übertragungsrate von Nervenbahnen um den Faktor 3000 steigern.

Diese Optimierung findet in der Jugend an vielen Stellen des Gehirns statt. Sie erlaubt es ihm, sich wiederholende Herausforderungen zunehmend effizient zu meistern. Doch die neuronalen Netzwerke verlieren dadurch ein Stück weit an Flexibilität. Die »Verdrahtung« nach dem Beschnitt des Nervendickichts ist nämlich sehr beständig. Die US-Wissenschaftlerin Beatriz Luna ist daher davon überzeugt, dass es gerade in der Pubertät auf einen möglichst reichhaltigen Input ankommt. Wie soll das Gehirn sonst wissen, welche Verbindungen es künftig brauchen wird und auf welche es verzichten kann? Auch darum sei es wichtig, dass Jugendliche darauf gepolt sind, die Welt zu erkunden.

Kritische Phase für die Psyche

Fehlerhaftes Pruning könne zu psychiatrischen Störungen führen, meint Luna: »Während der Pubertät passt sich das Gehirn an, nach dem Prinzip ›use it or lose it‹. Wenn Sie in dieser Phase des Umbaus regelmäßig depressive Gedanken haben, können die Regionen des Gehirns, die sich mit solchen Gedanken beschäftigen, möglicherweise vorherrschend werden. Das kann dann später ein erhöhtes Risiko für eine psychische Erkrankung zur Folge haben.« Tatsächlich beginnen Störungen wie Schizophrenie, Magersucht und auch viele Depressionen in der Pubertät oder im frühen Erwachsenenalter. Dass die umfassenden Umbaumaßnahmen damit etwas zu tun haben, halten viele Fachleute für ziemlich wahrscheinlich.

Der Hunger nach Neuem ist Luna zufolge also eine Art Trainingsprogramm, das die Weichen für das Funktionieren des Gehirns im Erwachsenenalter stellt. Unser Denkorgan lerne in dieser besonders plastischen Zeit, wie es mit Risiken umgehen sollte. Dass Lernvorgänge dabei eine wichtige Rolle spielen, glaubt auch der Tübinger Neurowissenschaftler Tobias Hauser. Laut ihm ist die Risikobereitschaft junger Menschen unter anderem schlicht eine Konsequenz ihrer Unerfahrenheit: »In der Kindheit sagen uns meist die Eltern, was wir tun und was wir lassen sollen. Wir müssen erst lernen, für uns selbst Entscheidungen zu treffen. Dass die dann nicht immer optimal ausfallen oder uns Erwachsenen manchmal sogar irrational erscheinen, ist nicht überraschend.«

»Persönliche Erfahrung spielt eine wahnsinnig wichtige Rolle. Es macht einen Unterschied, ob ich die Konsequenzen meines Handelns am eigenen Leib gespürt habe oder ob ich sie von jemandem beschrieben bekomme«Simon Ciranka, Bildungsforscher

Simon Ciranka dürfte bei diesen Worten zustimmend nicken. Der Forscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin ist nämlich der Meinung, dass die Rolle der Erfahrungen für das Risikoverhalten sogar deutlich unterschätzt wird. Zwar hält er das Dual-Systems-Modell durchaus für plausibel – und auch, dass die noch nicht voll ausgereifte exekutive Kontrolle zu unüberlegteren Handlungen führen kann. Die mangelnde Erfahrung ist für ihn jedoch ein zentraler Aspekt, der noch hinzukommt. »Um Risiken abschätzen zu können, muss man den möglichen Ausgang seines Handelns antizipieren«, sagt er. »Und dafür spielt persönliche Erfahrung eine wahnsinnig wichtige Rolle. Es macht einen Unterschied, ob ich die Konsequenzen meines Handelns am eigenen Leib gespürt habe oder ob ich sie von jemandem beschrieben bekomme.«

»In meinem Heimatdorf haben wir uns früher oft an der Halfpipe getroffen und den Skatern zugeschaut«, erinnert er sich. »Da waren Typen dabei, die das super konnten und bei denen das ganz locker aussah. Ich konnte nur ein bisschen Skateboard fahren, wollte es aber ausprobieren, so nach dem Motto: So schwer kann das doch nicht sein. War es aber doch: Ich bin übel gestürzt und habe den Rest des Tages beim Unfallarzt verbracht.« Die Erfahrung habe nachhaltige Auswirkungen auf seine Einstellung zum Risiko gehabt. Ähnlich erging es Timm, dem 16-Jährigen, der so gerne mit seinen Freunden um die Häuser zieht. Eines Nachts stürzte er mit dem Fahrrad und hat dadurch auf schmerzliche Weise zumindest eines gelernt: »Alkohol und Radeln zusammen – das lasse ich lieber.«

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

Ciranka, S., Hertwig, R.: Environmental statistics and experience shape risk-taking across adolescence. Trends in Cognitive Sciences 27, 2023

Tervo-Clemmens, B. et al.: The developmental timing but not magnitude of adolescent risk-taking propensity is consistent across social, environmental, and psychological factors. Journal of Adolescent Health 74, 2024

Tervo-Clemmens, B. et al.: A canonical trajectory of executive function maturation from adolescence to adulthood. Nature Communications 14, 2023

Zhang, Z. et al.: Neural substrates of the executive function construct, age-related changes, and task materials in adolescents and adults: A meta-analysis of 408 fmri studies. Developmental Science 24, 2021

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.