Metzler Lexikon Philosophie: Ātman
(sanskrit, Selbst). Das Begriffspaar Ā.//Brahman hat im Westen schon früh über Schopenhauer und über die theosophischen und anthroposophischen Spekulationen eine breite Rezeption erfahren. In den vedischen Texten vor den Upaniṣaden bezeichnet Ā. im philosophischen Bereich den individuellen Lebenshauch. In den Upaniṣaden verlagert sich das Gewicht der Spekulationen in die Sphäre des menschlichen Seins, und man beginnt sich zu fragen, was die individuelle Persönlichkeit ausmacht (Aitareya-U. 1.3.11.). Die Antwort darauf ist die Konzeption des Ā., der als wahrnehmendes Subjekt (Brhadāraṇyaka-U. 3.4.2., 1.4.7.) der Sinnesempfindungen aufgefasst wird; er ist ewig und ungeboren, somit auch unvergänglich (Kaṭha-U. 2.18.), er ist sowohl winzig klein als auch riesig groß (Chāndogya-U. 3.14.3.). Der individuelle Ā. wird mit dem Kosmos und dem Wahren oder Realen gleichgesetzt (Uddālaka Ārum in Chāndogya-U. 6.8.7.) und von hier aus liegt dann auch der Schluss nahe, dass Ā. und Brahman eine Einheit seien (Yājñavalkya in Bṛhadāraṇyaka-U. 3.5.1.). Die Erkenntnis des eigenen Selbst und seiner Identität mit der Allseele bedeutet die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Subjekt und Objekt (Bṛhadāraṇyaka-U. 4.4.2.) und eine Unabhängigkeit vom Mechanismus des Karma (Bṛhadāraṇyaka-U. 4.4.22.). Während in den älteren Upaniṣaden Geist und Materie noch nicht klar getrennt erscheinen, zeigt sich in den mittleren Upaniṣaden ein Dualismus von Materiellem und Geistigem, wobei das Geistige sich im Einzelwesen als Ā. manifestiert und das Einzelwesen durch Verblendung nicht realisiert, dass Allgeist (Puruṣa, Brahman) und Einzelseele eigentlich identisch sind. Dies ist dann die Grundlehre des Vedānta, der des Weiteren als System versucht, das genaue Verhältnis von Ā. zu Brahman und zur Welt der materiellen Erscheinungen zu bestimmen. Eine Reaktion auf diese Seelenlehre stellt die Behauptung der Materialisten (Lokāyata) dar, die Seele, bzw. das Geistige, sei mit dem Leib, der aus den vier Elementen bestehe, also mit der Materie, identisch. Eine andere Reaktion war die des Buddhismus, der ebenfalls die Haltung vertrat, es gebe keine Seele (anātman, Pali: anatta), jedoch im Unterschied zu den Materialisten innerhalb der pluralistischen Dharma-Lehre geistigpsychische Dharmas annimmt und auch eine transzendente Entität zulässt, das Nirvāṇa. Der Buddha selbst weist eine Stellungnahme zur Frage der Existenz der Seele zurück (vgl. etwa Saṃyutta-Nikāya 44,10), wenn aber die Daseinsfaktoren, aus denen alles Seiende besteht, als ohne Selbst (anātmaka, Pāli: anattā), leidvoll (duḥkha, Pāli: dukkha) und unbeständig (anitya, Pāli: anicca) bezeichnet werden, dann ist klar, dass das scheinbare Individuum, das aus diesen Faktoren besteht, kein beständiges Selbst besitzen kann.
Literatur:
- P. Deussen: Allgemeine Geschichte der Philosophie. Bd. I.1.: Allgemeine Einleitung und Philosophie des Veda bis auf die Upanishad’s. Leipzig 51922. S. 282 ff. u. Bd. I.2.: Die Philosophie der Upanishaden. Leipzig 51922. S. 231 ff
- H. G. Narahari: Atman. Adyar 1944.
MD
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