Direkt zum Inhalt

Metzler Lexikon Philosophie: Tugendethik

In der gegenwärtigen Ethikdiskussion zeigt sich in Abgrenzung zur Pflichtethik Kants eine Rückbesinnung auf den Tugendbegriff und ein allgemeines Interesse an einer Wiedergewinnung der Tugendvorstellung als leitende Idee ethischer Einstellung. A. MacIntyre (Der Verlust der Tugend) stellt aus kulturkritischer Perspektive heraus eine moralische Krise der Gegenwart fest. Seine Kritik zielt gleichermaßen auf die angelsächsische Metaethik, die Pflichtethik Kants und die Nützlichkeitsethik des Utilitarismus. Darin wird das Ideal einer wissenschaftlich begründeten und universalistischen Moral als ein unerreichbares und irreführendes Unterfangen dargestellt. Seiner Ansicht nach müsse die Moral an die Tugenden zurückgebunden werden, die als Veranschaulichung von Lebenshaltungen zu begreifen sind. Die Grundlegung der Moral kann demzufolge nicht über eine rationale Konstruktion gelingen, sondern bedarf der Einübung in moralischen Gemeinschaften. Die Moral hat ihre Grundlage in einer Lebenswelt und ist geprägt vom Kontext eines sozialen Gruppenethos. An die Stelle der rationalen Argumentation setzt MacIntyre die Orientierung an einer geschichtlich vielfältigen, kontextuellen Tugendlehre. Für den Rückgriff auf die Tugend lassen sich drei Intentionen ausmachen: (1) Die Theorie der Moral soll nicht abstrakt reflektiert werden, da sie ihre eigentliche motivationale Grundlage in der sozialen Lebenswelt hat. (2) Nicht die Beurteilung einer einzelnen Handlung steht im Vordergrund, sondern die Frage: Wie will ich leben?, Was für ein Mensch will ich sein? Damit wird die Identität einer Person in den unterschiedlichen Lebenszusammenhängen zur Sprache gebracht. (3) Nicht das vernünftige Kalkül, sondern erst die Verwurzelung in der Tradition ermöglicht die Praxis des guten Lebens.

In den neueren Beiträgen zum Thema T. wird wiederholt darauf hingewiesen, dass die vorliegenden Ausführungen zur T. nur als Vorarbeiten, nicht aber ausgearbeitete Positionen zu verstehen sind. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen zur T. die Forderung, dass nicht die Handlungen im Vordergrund ethischer Überlegungen zu stehen haben, sondern die moralischen Akteure. Grundlegend für die Ethik sind also die Urteile über die Tugenden i.S. von Charaktereigenschaften. Dabei wird betont, dass die Tugenden kontextrelativ, d.h. bezogen auf eine konkrete soziale Lebenswelt sind. Das hat zur Folge, das der Katalog des Tugendhaften je nach gesellschaftlicher Praxis anders aussehen könnte. Obwohl die T. durch ihren Kontextbezug im Gegensatz zu normativen Ethiken steht, für die ethische Postulate und Normen universal, d.h. für alle Gesellschaften gültig sein sollen, wird doch zumindest der Anspruch erhoben, dass auch Tugenden universale Geltung haben sollen. Die Herausstellung des Primats der Tugend hat zur Folge, dass eine Handlungsweise danach zu beurteilen und als moralisch zu qualifizieren ist, ob ihre Wahl durch den Wunsch motiviert war, einer Tugend zu entsprechen. Das Wesen der Moral wäre dann nicht in der Befolgung gewisser Grundsätze zu sehen, sondern in der Ausbildung gewisser Dispositionen und Eigenschaften. T. thematisiert jene Gestalt des Charakters, den ein moralisch guter Mensch haben soll. – Strittig ist, ob die T. in praktischen Fragen eine Orientierung erbringen kann. Darüber hinaus ist es fraglich, ob die Beschränkung auf die Beurteilung des Charakters und die Ausgrenzung der einzelnen Handlungen nicht zu einer unzulässigen Verkürzung moraltheoretischer Probleme führt (bspw. wenn sich jemand tugendhaft für eine falsche Sache einsetzt). – Nietzsche formulierte eine polemische Kritik der Tugendlehre und T. Er sieht im tugendhaften Menschen die Verkörperung des Moralisten, da der Mensch seinen Wert einzig dadurch erhält, indem er sich dem Schema Mensch gemäß verhält.

Literatur:

  • G. E. M. Anscombe: Moderne Moralphilosophie. In: G. Grewendorf/G. Meggle (Hg.): Seminar: Sprache und Ethik. Frankfurt 1974. S. 217–243
  • Ph. Foot: Virtues and Vices and Other Essays in Moral Philosophy. Berkeley 1978
  • Dies.: (Hg.) A.Leist/U. Wolf: Die Wirklichkeit des Guten. Frankfurt 1997
  • M. Honnecker: Schwierigkeiten mit dem Tugendbegriff. In: K. P. Rippe/P. Schaber (Hg.): Tugendethik. Stuttgart 1998. S. 166–184
  • A. MacIntyre: After Virtue. A Study in Moral Theory. London 1981 (dt. Der Verlust der Tugend, Frankfurt 1987)
  • D. Mieth: Die neuen Tugenden. Ein ethischer Entwurf. Düsseldorf 1984
  • O. O’Neill: Tugend und Gerechtigkeit. Berlin 1996
  • F. Nietzsche: Werke in 3 Bden. Hg. Karl Schlechta. München/Darmstadt 1954–56. Bd. III. S. 604, 691
  • K.P. Rippe/P. Schaber (Hg.): Tugendethik. Stuttgart 1998
  • A. Schuster: Moralisches Können. Würzburg 1997.
  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
OFS Orrin F. Summerell, Bochum
PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
RE Rolf Elberfeld, Hildesheim
REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
RH Reiner Hedrich, Gießen
RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.