Metzler Lexikon Philosophie: Utilitarismus
Position der Ethik, welche die Richtigkeit einer Handlung nach der Nützlichkeit ihrer Folgen beurteilt. Die anthropologische Grundlage stellt das natürliche menschliche Streben nach Lust und Vermeiden von Unlust dar. Ein solches hedonistische Prinzip gibt zwar den Beurteilungsmaßstab für den Nutzencharakter ab, stellt aber nicht das Handlungsziel dar. Das Handeln ist vielmehr an möglichst großer Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse und Interessen ausgerichtet. Daraus ergibt sich die Definitionskette: Lust bestimmt das Streben nach Glück, Glücksstreben erfüllt sich in der Bedürfnisbefriedigung, die Möglichkeit und das Ausmaß der Befriedigung ergibt den Nutzencharakter. Dabei ist unterstellt, dass sich die Befriedigungen hinsichtlich ihrer Lustquantität und -qualität unterscheiden und eindeutig beurteilen lassen. Bentham führt zu diesem Zweck als rationalen Beurteilungsmaßstab einen hedonistischen Kalkül an: Der individuelle Gratifikationswert einer Handlungsfolge bemisst sich (1) an der Intensität des aus der Handlungsfolge zu erwartenden Lustgewinns, (2) an der Dauer und dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der der Lustgewinn zu erwarten ist, (3) an der zeitlichen und räumlichen Nähe des Eintreffens der Folgen, (4) an der Frage, ob mit diesen Handlungsfolgen weitere (sekundäre) positive oder negative Folgen verbunden sind. Bentham war der Ansicht, dass man für jeden einzelnen den individuellen Lustgewinn errechnen und von dem individuellen Gratifikationswert auf den kollektiven Gratifikationswert schließen könne. Als rational i.S. des utilitaristischen Prinzips ist die Wahl jener Handlung zu werten, deren kollektiver Gratifikationswert größer ist als der jeder anderen möglichen Handlungsalternative. Mit Hilfe dieses Kalküls wird das hedonistische Prinzip, das primär auf den eigenen Lustgewinn ausgerichtet ist, übersetzt in ein universalistisches Beurteilungsprinzip, das besagt, dass diejenige Handlung als die ethisch wertvollste einzuschätzen ist, die das größtmögliche Glück der größten Zahl (der Betroffenen) hervorruft. Durch diese Verbindung von hedonistischem Prinzip und Universalisierung unterstellt Bentham ein Subjekt, das aus aufgeklärtem Eigeninteresse heraus urteilt und handelt und nicht nur sein individuelles Glück erstrebt. Eine solche Annahme der Übereinstimmung von persönlichem und allgemeinen Wohlergehen ist unter der Perspektive denkbar, dass der Einzelne aufgrund der vielfältigen Abhängigkeiten der Menschen untereinander sein Glück nur dadurch realisieren kann, wenn er auch das allgemeine Wohlergehen zum Ziel seiner Handlungen macht. – Benthams Intention richtete sich darauf, einen Beurteilungsmaßstab bereitzustellen, nach dessen Maßgabe rechtliche und gesetzliche Maßnahmen zur Sicherstellung einer langfristigen Interessensharmonie in Gesellschaft und Staat getroffen werden können. Im Unterschied zu Benthams Kalkül trifft Mill eine grundlegende Unterscheidung zwischen den Formen von Lust und bewertet die geistigen Freuden höher als die leiblichen Lustempfindungen. – Die kritische Diskussion des U. problematisierte mehrere Aspekte: (a) das Problem der Vergleichbarkeit und der Quantifizierung: Um zwischen Handlungsalternativen rational entscheiden zu können, bedürfte es geeigneter Maßstäbe und Kriterien, mittels derer unterschiedliche Freuden vergleichbar gemacht würden; (b) das Problem der Verallgemeinerbarkeit hinsichtlich der individuellen Einschätzung, was Lust und Bedürfnisbefriedigung bereitet; (c) das Prinzip des größten Nutzens für die größten Zahl der Betroffenen lässt zum einen unbestimmt, wie der Kreis der Betroffenen festzulegen ist, und zum anderen lässt es ohne die Zusatzannahme eines Prinzips der Gerechtigkeit die Benachteiligung einzelner Personen(gruppen) zu; (d) G. E. Moore (Principia Ethica) kritisiert an Mills Ausführungen, dass er das Gute, nach dem jeder strebt und worauf sich jeder Wunsch richtet, als natürliche Qualität definiere. Er kritisiert einen solchen Definitionsversuch als naturalistischen Fehlschluss, da die Frage der ethischen Beurteilung des Wertes (d.i. des Wünschenswerten) durch das Aufzeigen des Wünschbaren beantwortet wird. – Im Verlaufe der Diskussion hat sich eine Differenzierung zwischen Handlungsutilitarismus und Regelutilitarismus herausgebildet. Der Handlungsutilitarismus entspricht den dargestellten Positionen von Bentham und Mill. Der Regelutilitarismus bestimmt das Prinzip der Nützlichkeit nicht mehr in Bezug auf einzelne Handlungen, sondern in Bezug auf Regeln von Handlungen oder Handlungstypen. Danach ist jede Handlung sittlich erlaubt, die mit einer an dem sozialen Wohlergehen ausgerichteten Handlungsregel übereinstimmt (Urmson, Brandt).
Literatur:
- J. Bentham: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. London 1789 (dt.: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung. In: O. Höffe (Hg.): Einführung in die utilitaristische Ethik. München 1975. S. 35 ff.)
- H. Brandt: Einige Vorzüge einer bestimmten Form des Regelutilitarismus. In: O. Höffe (Hg.): a.a.O. S. 133 ff
- O. Höffe: Einleitung zu: Einführung in die utilitaristische Ethik. In: a.a.O. S. 77 f
- N. Hoerster: Utilitaristische Ethik und Verallgemeinerung. Freiburg/München 21977
- J. St. Mill: Utilitarismus: Stuttgart 1975
- J. Rawls: Zwei Regelbegriffe. In: O. Höffe (Hg.): a.a.O. S. 96
- H. Sidgwick: Methods of Ethics. London 1875
- J. J. C. Smart: Extremer und eingeschränkter Utilitarismus. In: O. Höffe (Hg.): a.a.O.S. 121 ff
- R.W. Trapp: Nicht-klassischer Utilitarismus. Frankfurt 1988
- J. O. Urmson: Zur Interpretation der Moralphilosophie J. St. Mills. In: O. Höffe (Hg.): a.a.O.S. 87 ff
- B. Williams: Kritik des Utilitarismus. Frankfurt 1979.
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