Metzler Lexikon Philosophie: Utopie
in Anlehnung an Thomas Mores Utopia (1516) entwickelte Bezeichnung für literarische Gegenentwürfe zur bestehenden gesellschaftlich-politischen Ordnung. U.n beschreiben dabei einen phantasierten Ort der Realisation der vom jeweiligen Autor für positiv gehaltenen Leitkanten gesellschaftlicher und staatlicher Organisation. Mit der Ausweitung des U.-Begriffs von der literarischen Gattungsbezeichnung zur allgemeinen politischen Kategorie erhält U. neben der Bedeutung einer ortlosen Kritik an bestehenden Verhältnissen die Konnotation einer positiven Zukunftsvorstellung. Wobei sich an den jeweiligen utopischen Zielbestimmungen eine Auseinandersetzung knüpfen kann. U. wird damit auch zum politischen Kampfbegriff; zur U. gesellt sich schließlich die Gegen-U. (bspw. Orwells 1984, Bradburys Fahrenheit 451, Semjatins Wir). Gegen diese dem utopischen Denken vorgeworfene Beliebigkeit seiner Konzeptionen des besseren Lebens traten Marx/Engels mit ihrem Anspruch an, statt Rezepten aus den »Garküchen der Zukunft« wissenschaftliche Aussagen über zukünftige gesellschaftliche Entwicklung formulieren zu können. Während konservative Kritiker die utopische Zielbestimmung der idealen Gemeinschaft überhaupt ablehnen. Zwischen diesen Polen ist der politisch-wissenschaftliche Diskurs über den Stellenwert utopischen Denkens angesiedelt. Wobei gerade in neueren Veröffentlichungen auf die Qualität von U. als Zeugnisse bestimmter zeitdiagnostischer Wahrnehmungsrahmen hingewiesen wird. Nach K. Mannheim ist: »U. … ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ˲Sein˱ nicht in Deckung befindet. Diese Inkongruenz erweist sich stets darin, daß ein solches Bewußtsein im Erleben, Denken und Handeln sich an Faktoren orientiert, die dieses ˲Sein˱ als verwirklicht nicht enthält« (K. Mannheim: Ideologie und Utopie. Berlin 1929. S. 157). In der U. manifestiert sich danach ein über Gegenwart und Realität hinauszielendes Denken. Im Gegensatz zur Ideologie jedoch, ist in dieser wissenssoziologischen Formbestimmung utopisches Bewusstsein in seiner Zukunftsorientierung unsystematisch und voluntaristisch. Auch die Verzeitlichung und Dynamisierung der ehemaligen Raum-U. hätte somit an ihrer Funktion einer literarischen Gegenwartskritik nichts geändert. Anders argumentiert E. Bloch, für den utopisches Bewusstsein eine anthropologische Grundfigur darstellt: »Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und, was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt zu leben, organisiert sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege, rufen was nicht ist, bauen ins Blaue hinein und suchen dort das Wahre, wirkliche, wo das bloß Tatsächliche verschwindet – incipit vita nova« (E. Bloch: Geist der Utopie (1918). Frankfurt 1971. S. 9). In der Menschheitsgeschichte entfaltet sich danach eine Kraft der U., die allerdings »konkret« werden müsse, um das Sein wirklich transzendieren zu können. Eine solche Konkretion sah Bloch etwa in der proletarischen Revolution. Er versucht die utopische Spekulation, den Tagtraum, das Luftschloss historisch-materialistisch (hier eher ein Synonym für Lebenswelt) zu unterfüttern.
Literatur:
- E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt 1959
- L. Hölscher: Utopie. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck: Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur Politisch-Sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 6. Stuttgart 1990. S. 733 ff
- T. Franz: Revolutionäre Philosophie in Aktion. Hamburg 1985.
TN
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