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Metzler Lexikon Philosophie: Vertragstheorie

auch Kontraktualismus. Das Problemfeld der politischen Philosophie der Neuzeit ist durch den Verlust des Glaubens an die Existenz vorgegebener objektiver Normen und Ordnungen gekennzeichnet. Die Vertragstheorie soll den früheren Autoritätsglauben dadurch ersetzen, dass sie ein Modell offeriert, nach dem Individuen aufgrund ihrer natürlichen Interessen zu einer Vereinbarung über eine legitime gesellschaftliche oder staatliche Ordnung gelangen. Eine solche Vereinbarung wird als Vertrag gedacht, den die Individuen aus freiem Willen und eigenem Interesse eingehen. Die grundlegende Idee der V. ist, dass durch einen solchen vertraglichen Zusammenschluss eine Selbstverpflichtung für jeden einzelnen und gleichzeitig eine wechselseitige Verbindlichkeit entsteht, die als Grundlage einer Herrschaftsordnung die Zustimmung aller Vertragspartner finden kann. Die logische Struktur dieser Idee der V. ist in drei Schritten aufgebaut: (1) der Natur- oder Urzustand als fiktive Annahme, von der die rationale Überlegung auszugehen hat, (2) der Vertragsschluss als Resultat einer rationalen Überlegung und dessen Bedingungen, (3) die Benennung der Aufgaben der Herrschaftsordnung und deren Sicherstellung.

Auszugehen ist von einem vorvertraglichen Zustand, in dessen Beschreibung jene Probleme namhaft gemacht werden, die die Vorzüge der für den Naturzustand charakteristischen unbegrenzten Freiheiten beeinträchtigen. Gleichzeitig muss ersichtlich werden, dass deren Beseitigung in dem wohlverstandenen Interesse eines jeden Einzelnen liegen muss. Wenn die Beseitigung der Probleme die Beschränkung der absoluten Freiheiten zur Voraussetzung hat, so darf diese doch nicht über das unbedingte Mindestmaß hinausgehen. Da diese Aspekte die für eine rationale Entscheidung zu berücksichtigenden Elemente darstellen, können sie als die Eingangsbedingungen der vertragstheoretischen Argumentation bezeichnet werden. Ihnen kommt insofern eine Bedeutung für die weitere Argumentation zu, als die Charakterisierung der Probleme bereits implizit die Zielvorgaben für den Vertragsschluss enthalten. Der zweite Schritt der Argumentation kennzeichnet den Vertragsschluss als möglichen Weg zur Beseitigung der Probleme. Eine Beschränkung der natürlichen Freiheiten wird nur dann freiwillig eingegangen, wenn sie dem natürlichen Eigeninteresse aller entspricht. D.h. in der Vielzahl der individuellen Interessen müssen sich einige für alle Individuen gleichermaßen fundamentale Interessen ausmachen lassen, so dass eine Interessensidentität gegeben ist, die in letzter Konsequenz in das gemeinsame Interesse am Verlassen des Naturzustandes einmündet. Die Sicherung der menschlichen Grundgüter: Leben, Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und Freiheit stellen solche gemeinsame Interessen dar. Gleichzeitig sind diese unter den Bedingungen des Naturzustandes bedroht. Wenn plausibel gemacht werden kann, dass keine Person sich dieser Gefährdung aus eigener Kraft auf Dauer erwehren kann, dann entspricht es dem rationalen Interesse aller, zumindest eine beschränkte Kooperation mit anderen einzugehen. Insofern ist eine auf dem Vertragsschluss beruhende Ordnung in einer ersten Hinsicht rational begründet. Die vollständige rationale Begründung ergibt sich erst, wenn die Bedingungen der Vereinbarung hinreichend gekennzeichnet sind. Kooperation bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Individuen sich in Bezug auf das gemeinsame Interesse einer gegenseitigen Respektierung versichern, d.h. dass jeder zur Einschränkung seiner Freiheit angesichts der angemessenen Gegenleistung im normativ geordneten Vertragszustand bereit ist (und nur dann), wenn es der andere auch und in gleicher Weise ist. Diese wechselseitige Bereitschaft (d.i. die Reziprozitätsbedingung) zur Aufgabe der unbegrenzten Freiheit ist Teil der Rationalitätsbedingung, da im Vertragsschluss die natürliche Autonomie durch den Grundsatz der Gleichheit und Reziprozität gewährleistet sein muss. Im dritten Argumentationsschritt werden die Ausführungsbedingungen des Vertragsinhalts bestimmt. Diese unterscheiden sich je nach Zielvorstellungen. Soll die staatliche Herrschaft legitimiert werden, wie es in den staatsphilosophischen Konzeptionen von Hobbes und Locke der Fall ist, werden die seitens des Staates zu erbringenden Leistungen und das Verhältnis der Bürger zu diesem Staat näher bestimmt. In der rechtfertigungstheoretischen V. werden die Verfassung oder bestimmte Normen einer Beurteilung im Hinblick auf ihre Rechtfertigbarkeit unterzogen. Dabei soll das vertragstheoretische Verfahren aufzeigen, wie Prinzipien ermittelt werden können, die als allgemein gerechtfertigt angesehen werden können. – Die staatsphilosophische V. liefert die Legitimation von Herrschaft in Gestalt einer rationalen Nachkonstruktion der Entstehung des Staates aus dem vereinten Willen der Vertragsschließenden und fordert als Gegenleistung die Beseitigung der Unsicherheit unter Naturzustandsbedingungen (Hobbes) bzw. die Sicherstellung der natürlichen Rechte (Locke) ein. Die rechtfertigungstheoretische V., wie sie von Kant und Rawls vorgetragen wird, stellt ein Gedankenexperiment zur Bestimmung allgemeiner Prinzipien des Zusammenlebens dar, denen jeder aufgrund einer allgemeinen Ausgangssituation hätte zustimmen können. In der skizzierten Gestalt soll die V. den Glauben an die Autorität vorgegebener Herrschaftsordnungen ersetzen und gleichzeitig dem Begriff der Verpflichtung (aufgrund wechselseitiger Vereinbarung) und der Legitimität (aufgrund des Vertrages) einen neuen Inhalt geben. Der in der V. konzipierte Gesellschaftsvertrag löst den im ma. Denken etablierten Herrschaftsvertrag ab, der eine reale oder fiktive Vereinbarung zwischen einem Herrscher und einer Volksgemeinschaft darstellt.

Literatur:

  • W. Euchner: Naturrecht und Politik bei John Locke. Frankfurt 1969 – I. Fetscher: Rousseaus politische Philosophie. Frankfurt 1975
  • Th. Hobbes: Leviathan. Frankfurt 1984
  • I. Kant: Metaphysik der Sitten. Akad.-Ausg. Bd. 4
  • W. Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages. Darmstadt 1994
  • Ders.: Die Logik des kontraktualistischen Arguments. In: V. Gerhardt (Hg.): Der Begriff der Politik. Stuttgart 1990. S. 216 ff
  • J. Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt 1977
  • J. Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt 1975
  • J.-J. Rousseau: Der Gesellschaftsvertrag. Stuttgart 1971
  • Ders.: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit. In: Schriften zur Kulturkritik. Hamburg 1983. S. 77 ff
  • B. Willms: Die Antwort des Leviathan. Neuwied/Berlin 1970.
  • Die Autoren
AA Andreas Arndt, Berlin
AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
AW Astrid Wagner, Berlin
BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
BCP Bernadette Collenberg-Plotnikov, Hagen
BD Bernhard Debatin, Berlin
BES Bettina Schmitz, Würzburg
BG Bernward Gesang, Kusterdingen
BI Bernhard Irrgang, Dresden
BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
BS Berthold Suchan, Gießen
BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
CT Christian Tewes, Jena
CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
DH Detlef Horster, Hannover
DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
DIK Dietmar Köveker, Frankfurt a.M.
DK Dominic Kaegi, Luzern
DKÖ Dietmar Köhler, Witten
DL Dorothea Lüddeckens, Zürich
DP Dominik Perler, Berlin
DR Dane Ratliff, Würzburg und Austin/Texas
EE Eva Elm, Berlin
EJ Eva Jelden, Berlin
EF Elisabeth Fink, Berlin
EM Ekkehard Martens, Hamburg
ER Eberhard Rüddenklau, Staufenberg
EWG Eckard Wolz-Gottwald, Davensberg
EWL Elisabeth Weisser-Lohmann, Bochum
FBS Franz-Bernhard Stammkötter, Bochum
FG Frank Grunert, Basel
FPB Franz-Peter Burkard, Würzburg
FW Fabian Wittreck, Münster
GK Georg Kneer, Leipzig
GKB Gudrun Kühne-Bertram, Ochtrup
GL Georg Lohmann, Magdeburg
GM Georg Mildenberger, Tübingen
GME Günther Mensching, Hannover
GMO Georg Mohr, Bremen
GN Guido Naschert, Tübingen
GOS Gottfried Schwitzgebel, Mainz
GS Georg Scherer, Oberhausen
GSO Gianfranco Soldati, Tübingen
HB Harald Berger, Graz
HD Horst Dreier, Würzburg
HDH Han-Ding Hong, Düsseldorf
HG Helmut Glück, Bamberg
HGR Horst Gronke, Berlin
HL Hilge Landweer, Berlin
HND Herta Nagl-Docekal, Wien
HPS Helke Pankin-Schappert, Mainz
HS Herbert Schnädelbach, Berlin
IR Ines Riemer, Hamburg
JA Johann S. Ach, Münster
JC Jürgen Court, Köln
JH Jörg Hardy, Münster
JHI Jens Hinkmann, Bad Tölz
JK Jörg Klawitter, Würzburg
JM Jörg F. Maas, Hannover
JOP Jeff Owen Prudhomme, Macon/Georgia
JP Jörg Pannier, Münster
JPB Jens Peter Brune
JQ Josef Quitterer, Innsbruck
JR Josef Rauscher, Mainz
JRO Johannes Rohbeck, Dresden
JS Joachim Söder, Bonn
JSC Jörg Schmidt, München
JV Jürgen Villers, Aachen
KDZ Klaus-Dieter Zacher, Berlin
KE Klaus Eck, Würzburg
KG Kerstin Gevatter, Bochum
KH Kai-Uwe Hellmann, Berlin
KHG Karl-Heinz Gerschmann, Münster
KHL Karl-Heinz Lembeck, Würzburg
KJG Klaus-Jürgen Grün, Frankfurt a.M.
KK Klaus Kahnert, Bochum
KRL Karl-Reinhard Lohmann, Witten
KS Kathrin Schulz, Würzburg
KSH Klaus Sachs-Hombach, Magdeburg
LG Lutz Geldsetzer, Düsseldorf
LR Leonhard Richter, Würzburg
MA Mauro Antonelli, Graz
MB Martin Beisler, Gerbrunn
MBI Marcus Birke, Münster
MBO Marco Bonato, Tübingen
MD Max Deeg, Cardiff
MDB Matthias Bloch, Bochum
ME Michael Esfeld, Münster
MFM Martin F. Meyer, Koblenz/Landau
MK Matthias Kunz, München
MKL Martin Kleinsorge, Aachen
MKO Mathias Koßler, Mainz
ML Mark Lekarew, Berlin
MLE Michael Leibold, Würzburg
MM Matthias Maring, Karlsruhe
MN Marcel Niquet, Frankfurt a.M.
MQ Michael Quante, Köln
MR Mathias Richter, Berlin
MRM Marie-Luise Raters-Mohr, Potsdam
MS Manfred Stöckler, Bremen
MSI Mark Siebel, Hamburg
MSP Michael Spang, Ellwangen
MSU Martin Suhr, Hamburg
MW Markus Willaschek, Münster
MWÖ Matthias Wörther, München
NM Norbert Meuter, Berlin
OB Oliver Baum, Bochum
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PE Peter Eisenhardt, Frankfurt a.M.
PCL Peter Ch. Lang, Frankfurt a.M.
PK Peter Kunzmann, Jena
PN Peter Nitschke, Vechta
PP Peter Prechtl †
RD Ruth Dommaschk, Würzburg
RDÜ Renate Dürr, Karlsruhe
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REW Ruth Ewertowski, Stuttgart
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RHI Reinhard Hiltscher, Stegaurach
RK Reinhard Kottmann, Münster
RL Rudolf Lüthe, Koblenz
RLA Rolf-Jürgen Lachmann, Berlin
RM Reinhard Mehring, Berlin
RP Roland Popp, Bremen
RS Regina Srowig, Würzburg
RTH Robert Theis, Strassen
RW Raymund Weyers, Köln
SD Steffen Dietzsch, Berlin
SIK Simone Koch, Bochum
SP Stephan Pohl, Dresden
SZ Snjezana Zoric, Würzburg
TB Thomas Bausch, Berlin
TBL Thomas Blume, Dresden
TF Thomas Friedrich, Mannheim
TG Thomas Grundmann, Köln
TH Thomas Hammer, Frankfurt a.M.
TK Thomas Kisser, München
TM Thomas Mormann, Unterhaching
TN Thomas Noetzel, Marburg
TP Tony Pacyna, Jena
TW Thomas Welt, Bochum
UB Ulrich Baltzer, München
UT Udo Tietz, Berlin
UM Ulrich Metschl, München/Leonberg
VG Volker Gerhardt, Berlin
VM Verena Mayer, München
VP Veit Pittioni, Innsbruck
VR Virginie Riant, Vechta
WAM Walter Mesch, Heidelberg
WB Wilhelm Baumgartner, Würzburg
WH Wolfram Hinzen, Bern
WJ Werner Jung, Duisburg
WK Wulf Kellerwessel, Aachen
WL Winfried Löffler, Innsbruck
WM Wolfgang Meckel, Butzbach
WN Wolfgang Neuser, Kaiserslautern
WP Wolfgang Pleger, Cochem/Dohr
WS Werner Schüßler, Trier
WST Wolfgang Struck, Erfurt
WSU Wolfgang Schulz, Tübingen
WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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