Metzler Lexikon Philosophie: Zeitbewusstsein, inneres
bezeichnet in der Phänomenologie Husserls den Modus der Zeiterfahrung. Dieser Modus wird phänomenologisch nicht in Beziehung zur objektiven Weltzeit bzw. zur Zeit, die an realer Bewegung erscheint (Aristoteles), sondern im Hinblick darauf untersucht, wie er in der Erfahrung Zeit zum Erscheinen bringt. Dabei gilt die phänomenologisch entscheidende Prämisse einer Ausschaltung aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem (Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, Hua. X, S. 4). Demgemäß ist in der Phänomenologie des inneren Z.s auch nicht von der wirklichen Dauer realer Dinge, sondern nur von »erscheinender Dauer« die Rede. Diese Prämisse unterläuft auch die Dimension wahrgenommener Zeit, sofern diese sich auf die Zeit von wirklich Existierendem bezieht, und beschränkt den phänomenologischen Ansatz zunächst auf empfundene Zeit als Gegebenheit »ursprünglichen Zeitbewußtseins« (Analysen zur passiven Synthesis, Hua. XI, S. 72). Dieses Z. erfährt, wie Husserl im Anschluss an Brentano am Beispiel des Hörens einer Melodie erläutert, im Zuge einer passiven Synthesis bzw. »ursprünglicher Assoziation« eine temporale Ausdehnung, durch die in der Gegenwart auch die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft des Empfindens präsent sein soll. Die Präsenz des Vergangenen wird dabei gerade nicht auf eine »vergegenwärtigende« (= »sekundäre«) Erinnerung zurückgeführt, sondern auf eine »retentionale« Erfahrung des Vergangenen (etwa des eben gehörten Tons) im Jetzt (= »primäre Erinnerung«). In ähnlicher Weise soll eine Präsenz von unmittelbar Bevorstehendem erklärt werden durch den Begriff der Protention, der eine Art »vorgreifenden Meinens« bezeichnet, in dem sich die Zeiterfahrung in ihre unmittelbar bevorstehende Zukunft hinein kontinuiert. Die re- und protentionale Kontinuität und Ausdehnung der Gegenwart kann als Struktur erfahrener Zeit nicht auf die Dimension realer Zeit zurückgeführt werden, sondern bedarf einer subjektiven Konstitutionsanalyse der Weise, in der Zeiterfahrung »gezeitigt« wird und sich dabei selbst als zeitlich darstellt. Die Leistung einer Konstitution der Zeiterfahrung wird einem transzendentalen Ich zugeschrieben, das freilich in dieser Funktion nicht selbst in der Zeit (»verzeitlicht«) sein kann. Das Ich erscheint nicht in der »immanenten Zeit« der Zeiterfahrung. Hauptprobleme der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins liegen in der Frage, ob diese Phänomenologie überhaupt ohne Anleihen bei einer anderen (realen) Zeit zu entwickeln ist; ob die Prämisse, derzufolge jeglicher Bezug auf Wirklichkeit von Existierendem ausgeschlossen sein soll, nicht damit auch die Wahrnehmung und Sichtbarkeit von Zeit ausschließt; ob Husserls Begriff des Jetzt einer Metaphysik der Präsenz und einer instantanen Temporalität verhaftet bleibt, die in der Begründung der Kontinuität von Retentionen und Protentionen auf den Abweg eines unendlichen Regresses zu führen droht. Aporetisch droht die Idee des »Jetzt« auch zu werden, wenn es nur retrograd, von der Spur her als solches in den Blick kommen kann, die es im Späteren hinterlässt. Dann gilt: »Das Bewußtsein von Zeit ist keine Reflexion über die Zeit, sondern die Zeitigung selbst: Die Nachträglichkeit der Bewußtwerdung ist das eigentliche Nachher der Zeit« (E. Levinas: En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger. Paris 31974. S. 154).
Literatur:
- G. Brand: Welt, Ich und Zeit. Den Haag 1955. S. 73
- M. Frank: Zeitbewußtsein. Pfullingen 1990
- K. Held: Lebendige Gegenwart. Den Haag 1966
- M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966.
BL
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.