Lexikon der Physik: Physikalische Chemie
Physikalische Chemie, Physikochemie, PC, Fachgebiet, eingebettet zwischen Chemie und Physik, in dem physikalisch-chemische Zusammenhänge erforscht und beschrieben werden. Zum einen werden die physikalischen Erscheinungen untersucht, die bei chemischen Vorgängen auftreten. Zum anderen wird in der PC auch der Einfluß physikalischer Einwirkungen auf chemische Vorgänge erforscht, die zugrundeliegenden physikalischen Gesetze formuliert und diese auf technische Verfahren angewendet.
PC bezieht sich heute in erster Linie auf das Studium der molekularen Bausteine makroskopisch auftretender Materie. Hierdurch werden immer mehr Kenntnisse gewonnen, und zwar einerseits über die atomaren und molekularen Bausteine und andererseits über die aus diesen Bausteinen zusammengesetzte Materie.
Geschichte
Die Bezeichnung PC wurde erstmals 1752 von Lomonossow verwendet, der als Professor für Chemie in St. Petersburg und Moskau lehrte und Zusammenhänge zwischen physikalischen und chemischen Eigenschaften von Stoffen untersuchte. Bis Mitte des 19. Jh. wurden Physik und Chemie kaum unterschieden. Oftmals gab es an den Universitäten nur einen einzigen Lehrstuhl für beide Fachrichtungen. Bedeutende Entdeckungen, wie die Spektralanalyse (1859; R.W. Bunsen und G. Kirchhoff) oder das Massenwirkungsgesetz (1867; C. M. Guldberg und P. Waage) wurden infolge der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern beider Fachrichtungen gemacht. Mit wachsender Spezialisierung entwickelten sich jedoch beide auseinander. Zwischen 1860 und 1880 wurden wichtige Beobachtungen gemacht, die der PC zuzurechnen sind, wie Molekulargewichtsbestimmungen in der Gasphase (V. Meyer, 1878), kritische Erscheinungen (T. Andrews, 1869), die Van-der-Waals-Gleichung (1873), Kolloide (T. Graham, 1861), osmotischer Druck (W.F.P. Pfeffer, 1877), Kontaktanalyse und Vergiftung (R. Knietsch, 1875; heterogene Katalyse), Aufstellung des Periodensystems (D.I. Mendelejew, J.L. Meyer 1869) und Reaktionswärmen (P. J. Thomsen, 1853). Thermodynamische und kinetische Methoden fanden zunächst Eingang in die Chemie, dann auch in die Industrie. Dagegen blieben die statistische Thermodynamik und später die Quantentheorie der chemischen Konstitution lange Zeit eine Domäne der Physik.
Nach der Entdeckung des elektrodynamischen Prinzips durch W. Siemens (1867) stand Starkstrom zur Verfügung. Ende des 19. Jh. gingen Elektrotechnik und Chemische Industrie eine Symbiose ein – die Fachbezeichnung ›Elektrochemie‹ wurde geschaffen. Die Nutzung von Strom als chemisches Reagens machte die Chloralkali-Elektrolyse (Chlor, Elektrolyse) möglich. Die Erzeugung von hohen Temperaturen mit Hilfe der Elektrizität ermöglichte die wirtschaftliche Erzeugung von Elektrostahl (1879), Calciumcarbid und Acetylen (1892), Ferrosilicium und anderen Legierungen. Das erste wissenschaftliche Institut für Elektrochemie entstand an der Technischen Hochschule München (1886); an den Technischen Hochschulen in Stuttgart, Dresden und Darmstadt wurden erstmals Vorlesungen in Elektrochemie von Elektrotechnikern für Chemiker gehalten.
Historisch gesehen beschäftigten sich Physikochemiker zunächst mit chemischen Reaktionen, also mit stöchiometrischen Molekülumwandlungen im Elementarprozeß oder mit meßbar auftretenden energetischen Effekten in makroskopischen Phasensystemen. Die PC war in die Gebiete Thermochemie, Elektrochemie, Thermodynamik, Photochemie und Magnetochemie unterteilt. Bald beschäftigten sich Physikochemiker auch mit den entsprechenden meßbaren stofflichen und energetischen Effekten, die bei nichtstöchiometrischen Molekülumwandlungen der Phasen (Phasenumwandlungen, Reaktionen an Phasengrenzen) auftreten. Im weiteren Verlauf wurden Gesichtspunkte aus Atom- und Kernphysik, Strukturchemie, Festkörper- und Polymerforschung, Erkenntnisse und Theorie der Valenz, Ungleichgewichstssysteme, Kinetik, Quantenchemie, usw. einbezogen.
W. Nernst, H. J. van't Hoff und W. Ostwald erkannten als erste, daß die PC eine eigene Grundlagenwissenschaft ist. Von der Öffentlichkeit wurde die PC als Fachrichtung mit der erstmaligen Herausgabe der ›Zeitschrift für Physikalische Chemie‹ durch W. Ostwald (Leipzig) im Jahre 1887 wahrgenommen. Ostwald strebte in Zusammenarbeit mit der Industrie die Bildung einer Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft an. 1894 wurde die ›Deutsche Elektrochemische Gesellschaft‹ gegründet, die 1902 in ›Deutsche Bunsen-Gesellschaft für Angewandte Physikalische Chemie‹ umbenannt wurde. Heute trägt sie den Namen ›Deutsche Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie e.V.‹. Das Publikationsorgan dieser Gesellschaft ist heute das ›Bunsenmagazin‹. 1903 wurde die englische Physikalisch-Chemische Gesellschaft – die ›Faraday Society‹ – gegründet. Das erste Publikationsorgan der PC war die ›Zeitschrift für Elektrotechnik und Elektrochemie‹ (1894). Seit dem 01.01.1999 bringen die physikalisch-chemischen Zeitschriften mehrerer europäischer Chemischer Gesellschaften, darunter auch die Deutsche Bunsen-Gesellschaft für Physikalische Chemie und die Royal Society of Chemistry, mit ihrer Zeitschrift ›Faraday Transactions‹ eine gemeinsame europäische Zeitschrift für Physikalische Chemie mit dem Titel ›Physical Chemistry Chemical Physics (PCCP), A Journal of European Chemical Societies‹ heraus.
Der erste Nobelpreis für Chemie wurde 1901 an den Physikochemiker van't Hoff verliehen.
Klassifikation der Teilgebiete, physikalisch-chemische Methoden und Anwendungen
Die PC unterteilt sich – eingebettet zwischen Physik und Chemie – in fünf Kernbereiche (siehe Abb.): 1. die Thermodynamik und 2. die Reaktionskinetik, die Informationen über die Lage chemischer Gleichgewichte, über Phasengleichgewichte und über die Geschwindigkeit von Stoffumwandlungen beisteuern; 3. die Elektrochemie, die besondere Bedeutung für die Energietechnik und die Sensorik hat; 4. die Spektroskopie, die für die Prozeß- und Produktanalytik sowie für die Untersuchung von Material- und Grenzflächeneigenschaften eine bedeutende Rolle spielt, und 5. die Quantenchemie, mit deren Hilfe sich ein sehr genaues Bild der chemischen Bindung, der molekularen Struktur und der Dynamik kleiner Moleküle bzw. der Struktur-Wirkungs-Beziehungen größerer Moleküle (Molecular Modelling) ableiten läßt.
Auf der Grundlage dieser physikalisch-chemischen Kernbereiche erschließen sich für die PC zahlreiche Teilgebiete in anderen, eigenständigen Disziplinen. Neben der Medizin, Biologie und Mineralogie sind folgende Bereiche wichtig:
1) Verfahrenstechnik. Die chemische Verfahrenstechnik, die sich ebenso wie die thermische Verfahrenstechnik aus der PC entwickelt hat, befaßt sich mit der Herstellung chemischer Produkte (Berechnung und Optimierung von Reaktoren sowie der Trennung und Reinigung der Reaktionsmischung). Physikalisch-chemische Grundlagen dieses Teilbereichs bilden die Gesetze der Thermodynamik, der Kinetik und der Transportvorgänge. Für die chemische Prozeßindustrie, wie z. B. die Erdölindustrie, stehen dagegen thermische Trennoperationen im Vordergrund.
2) Sicherheitstechnik. In diesem Teilgebiet werden Methoden der Anlagen- und Verfahrenssicherheit bei Stoffumwandlungen mit Hilfe der Thermodynamik und der Kinetik erarbeitet. Für die Auslegung und Steuerung von Prozessen müssen beispielsweise die Explosionsgrenzen von Gasgemischen oder die Mindestzündenergien von Stäuben bestimmt werden.
3) Makromolekulare Chemie. Innerhalb dieses Fachgebiets ist die Charakterisierung makromolekularer Verbindungen Element der PC. Die anwendungstechnisch wichtigen Eigenschaften von Makromolekülen wie Größe und Verteilung der Molmassen können mit physikalischen Methoden bestimmt werden (Osmose, Ausschlußchromatographie). Die Bildung makromolekularer Verbindungen durch Polymerisation ist kinetisch kontrolliert. Gewünschte Polymereigenschaften können daher über eine entsprechende Einstellung der Reaktionsparameter (Geschwindigkeitskoeffizienten, Konzentration) erzielt werden. Hochdimensionale kinetische Differentialgleichungssysteme können mit Hilfe leistungsfähiger Simulationsprogramme gelöst werden. Die Messung von Geschwindigkeitskoeffizienten radikalischer Polymerisationen ist mit Verfahren möglich, die auf der Pulslaser-Technik basieren.
4) Spezielle Reaktionskinetik. Hier wird die Kinetik chemischer Reaktionen sowohl in flüssigen und gasförmigen Phasen als auch in überkritisch fluiden Phasen (Reaktions- und Lösungseigenschaften sind hier kontinuierlich variierbar) sowie in festen Phasen untersucht. Die Kinetik von Gasphasen-Verbrennungsprozessen wird mit laserdiagnostischen Verfahren bestimmt. Zur Beschreibung der Chemie in Flammen und der Vorgänge in Motoren, Turbinen und Strahltriebwerken werden kinetische Modellierungen durchgeführt, in denen die Kinetik der Elementarschritte genutzt wird. Zur Charakterisierung der chemischen Prozesse, die in der Atmosphäre ablaufen, werden ebenfalls kinetische Messungen und Modellierungen durchgeführt.
5) Biophysikalische Chemie. In diesem Teilgebiet werden biologische Vorgänge mit Hilfe physikalisch-chemischer Methoden untersucht und unter Anwendung physikalischer Methoden erklärt (Biophysik), und zwar in den Fachbereichen Biochemie, Molekularbiologie, Biophysikalische Chemie und Biophysik. Untersuchungsgegenstände sind Membranen, Zelloberflächen, Rezeptor-Liganden-Wechselwirkungen, Strukturen und Konformationsumwandlungen biologisch aktiver Moleküle, kooperative Phänomene, biophysikalisch-chemische Grundlagen von Nerven und Muskeln, Wirkungsweisen der Sinnesorgane und Grundlagen der Photosynthese. Ein weiterer Anwendungsbereich der Biophysikalischen Chemie ist die Medizintechnik. Hier werden Werkstoffe für Prothesen, Anästhesiegeräte, Herzschrittmacher u. a. entwickelt.
6) Materialwissenschaften. Damit Werkstoffe bestimmte mechanische, elektrische, dielektrische, supraleitende, magnetische, lineare, nichtlineare, wärmeleitende, diffusive, ferroelektrische, pieozoelektrische, u. a. Eigenschaften erfüllen, erforschen und entwickeln Materialwissenschaftler die physikalisch-chemischen Grundlagen und Methoden. Dies ermöglicht die Herstellung bestimmter, maßgeschneiderter Werkstoffe. Bei Farbstoffen und photographischen Prozessen spielt die Wechselwirkung von Licht und Materie eine grundlegende Rolle. So hängen die Eigenschaften von Farbstoffen und Pigmenten, wie Absorptions-, Streuungs-, Fluoreszenz- und Interferenzvermögen, von der Art der Moleküle, deren Konzentration, Form und Größe ab. Photoleitende Materialien, die für photographische und photolithographische Prozesse benötigt werden, werden auf der Grundlage der Photochemie entwickelt. Die elektronische und optische Industrie benötigt Materialien mit bestimmten Kristallisationseigenschaften. Beispielsweise werden Materialien mit nichtlinearen Eigenschaften zur Lichtverstärkung zur intensitätsabhängigen Brechungsindexmodulation entwickelt. Mehrkomponentensysteme mit inneren Oberflächen, wie keramische Werkstoffe und Legierungen, können durch gesteuerte Entmischung oder der Bildung von Verbundwerkstoffen neue Eigenschaften aufweisen.
7) Grenzflächenphänomene. Dieses Teilgebiet beschäftigt sich mit Grenzflächenuntersuchungen, die mit Hilfe spektroskopischer Oberflächentechniken durchgeführt werden. Sie werden beispielsweise bei der Entwicklung und Optimierung von Festkörperkatalysatoren sowie von dünnen Schichten aus unterschiedlichen Materialien in der Halbleiter- und der optischen Industrie angewandt. Für die Entwicklung von Klebstoffen, Farben, Lacken, Druckstoffen und Tensiden werden Adhäsionsuntersuchungen zur Bestimmung von Grenz- und Oberflächenspannungen durchgeführt.
8) Chemische Analytik. Die Chemische Analytik kann in zwei Teilbereiche untergliedert werden: a) die Ermittlung der chemischen und räumlichen Struktur sowie der Dynamik von Molekülen, Molekülverbänden und makroskopischen Systemen mit Hilfe spektroskopischer Methoden, insbesondere der NMR-Spektroskopie; und b) die Bestimmung der Zusammensetzung von Stoffgemischen, z. B. in der Produktion und Qualitätskontrolle bei chemischen Verfahren, im Umweltschutz und in der Medizin mit Hilfe der quantitativen Analyse, der qualitativen Analyse und der Spurenanalyse.
9) Sensorik. Dieses meßtechnische Teilgebiet der PC befaßt sich mit der Entwicklung und dem Einsatz von Sensoren, die auf elektrochemische, optische, akustische und kalorische Signale ansprechen. Diese werden in der Prozeßautomatisierung, der Umweltüberwachung, der Brandmeldung und der medizinischen Technik eingesetzt. Die Signale werden in elektrische Meßgrößen übersetzt, verstärkt und dann weiterverarbeitet.
10) Energietechnik. In der Energietechnik hat die Entwicklung von Batterien, Akkumulatoren und Brennstoffzellen mit hohem Wirkungsgrad für den schadstoffarmen Betrieb besondere Bedeutung.
11) Computergestützte Chemie. In vielen Bereichen der Chemie werden sehr aufwendige und teure Experimente zunehmend durch Computersimulationen ersetzt, wie z.B. beim Molecular Modelling (s.o.) zur Entwicklung von pharmazeutischen Wirkstoffen und zur Vorhersage von Festkörpereigenschaften. Grundlage bildet z.B. die computergestützte Lösung von Zustandsgleichungen und die anschließende Bestimmung von Phasendiagrammen oder die Berechnung chemischer Gleichgewichte. Da sich viele reale Systeme fernab vom Gleichgewichtszustand befinden, stützen sich in diesem Fall Computersimulationen auf die Nichtgleichgewichtsthermodynamik, die Chaostheorie (Chaos), die Selbstorganisation und Evolutionstheorien (Evolution).
Physikochemiker sind auch an der Aufstellung und Entwicklung wissensbasierter Expertensysteme beteiligt. Diese Systeme werden einerseits in Forschung und Entwicklung angewandt, beispielsweise, um die Auswahl und Entwicklung heterogener Katalysatoren (heterogene Katalyse) zu unterstützen. Andererseits werden Expertensysteme in der Prozeßsteuerung, wie z.B. in der Biotechnologie zur Überwachung des gesamten Fermentationsprozesses oder eines on-line-Analysengerätes, benötigt. Im letztgenannten Fall beurteilt das Expertensystem die vom Analysensystem erhaltenen Meßsignale bzw. Meßwerte (pH, pO2, Temperatur, Rührergeschwindigkeit, usw.) und führt beim Auftreten von Unregelmäßigkeiten (Meßbereichsüberschreitung, ungewöhnliche Trendverläufe, Ausfall von Komponenten, elektrische Störungen, Verschlechterung von Elektrodenbelegungen, usw.) eine Diagnose durch und grenzt so das Problemfeld ein.
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