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Lernen im Schlaf

Diese alte Wunschvorstellung der Menschheit wird sich als solche wohl nie erfüllen. Die Ergebnisse psychologischer und neurobiologischer Studien zeigen nun aber, daß der Schlaf auf andere Weise durchaus zum Lernen beiträgt: In ihm wird das aufbereitet und verfestigt, was man am Tag geübt oder sich eingeprägt hat.

Bereits Anfang der siebziger Jahre hatte Vincent Bloch an der Universität Paris entdeckt, daß bei Ratten, die sich in Labyrinthen zurechtfinden mußten, anschließend der sogenannte REM-Schlaf verlängert ist. Diese mehrmals wiederkehrende Phase des Schlafzyklus ist durch rasche Augenbewegungen (rapid eye movements) unter den geschlossenen Lidern und im Elektroenzephalogramm (EEG) durch unregelmäßige Wellenmuster mit niedrigen Amplituden gekennzeichnet; nur in ihr träumt der Mensch (wie wahrscheinlich die meisten Säugetiere). Beim Tiefschlaf treten im EEG dagegen langsame, synchrone Delta-Wellen höherer Amplitude auf. Wenn Bloch die Ratten am REM-Schlaf hinderte, nahm ihre Fähigkeit ab, die gelernten Wege in einem erneuten Test auf Anhieb wiederzufinden.

Ähnliche Experimente mit Menschen ergaben widersprüchliche Ergebnisse. Ob man beispielsweise auswendig gelernte Wortlisten schneller vergißt, wenn in der nächsten Nacht das Träumen unterdrückt wird, ist noch umstritten. Allerdings bezogen sich die bisherigen Untersuchungen nur auf das deklarative Gedächtnis, in dem Fakten und Ereignis-se gespeichert sind, die man bewußt, schnell und flexibel abrufen kann (wenngleich sie einem manchmal partout nicht mehr einfallen). Daran sind außer der Großhirnrinde vor allem der mittlere Schläfenlappen und das Zwischenhirn beteiligt.


Leistungssteigerung im Traum

Eine Gruppe israelischer Wissenschaftler unter Leitung von Avi Karni und Dov Sagi hat am Weizmann-Institut in Rehovot nun erstmals auch den Zusammenhang von Schlaf und prozeduralem Gedächtnis untersucht. Dieses umfaßt Gewohnheiten, konditionierte Reaktionen sowie motorische, perzeptuelle und kognitive Fertigkeiten. Der Zugriff vollzieht sich unbewußt, und die Inhal-te sind praktisch immer zugänglich, aber nur in den Zusammenhängen einsetzbar, in denen sie erworben wurden. Das prozedurale Gedächtnis hat seinen Sitz in anderen anatomischen Strukturen als das deklarative – unter anderem im Kleinhirn und in den Basalganglien unter der Großhirnrinde.

Karni und Sagi präsentierten ihren Versuchspersonen kurz gleichförmige Strichmuster, in denen einige Linien eine abweichende Orientierung hatten. Durch Übung konnten die Probanden die Unregelmäßigkeiten mit der Zeit immer rascher erkennen. Dabei stellten die Wissenschaftler verwundert fest, daß sich diese Leistung über Nacht jeweils weiter verbesserte.

Daraufhin wurden die Versuchspersonen systematisch geweckt – und zwar die einen, wenn sie in den REM-, und die anderen, sobald sie in den Tiefschlaf fielen. Das geschah bis zu 60mal in einer Nacht. Wie sich zeigte, beeinträchtigte der Tiefschlaf-Entzug die Verbesserung der eingeübten Fertigkeit am nächsten Tag nicht, während bei einem Mangel an REM-Schlaf die Erkennungsgeschwindigkeit nicht höher war als am Vortag.

Andere Aufgaben erledigten die Versuchspersonen dagegen gleich gut wie vor dem Schlafentzug, so daß sich das Ausbleiben einer Leistungssteigerung nicht auf Konzentrationsmangel zurückführen läßt. Die Konsolidierung des prozeduralen Gedächtnisses ist also ein aktiver Prozeß, der Zeit und REM-Schlaf benötigt ("Science", Band 265, Seite 679).

Wie Träumen eine zuvor geübte Fertigkeit verbessert, ist allerdings noch unklar. Aus Tierversuchen weiß man, daß die REM-Phase von Nervenzellen unterhalb der Großhirnrinde ausgelöst wird, die den Botenstoff Acetylcholin freisetzen. (Bei der Alzheimer-Krankheit, die mit dramatischen Gedächtnisverlusten einhergeht, sind diese Zellen häufig degeneriert.) Dazu paßt, daß man nach Entzug von REM-Schlaf eine niedrigere Acetylcholin-Konzentration findet. Außerdem hat sich dieser Botenstoff unter anderem als unerläßlich für die Plastizität der Sehrinde erwiesen. Ohne ihn können sich Nervenzellverbindungen (Synapsen) dort weder verstärken noch neu bilden; die spezifische Modifikation der Erregungsleitung zwischen Neuronen gilt wiederum als eine der Grundlagen von Lernen und Gedächtnis.


Festigung von Erlerntem im Tiefschlaf

Wenn für die langfristige Festigung des prozeduralen Gedächtnisses der REM-Schlaf verantwortlich ist, scheint nach anderen Forschungsergebnissen aus jüngster Zeit die gleiche Funktion beim deklarativen Gedächtnis der Tiefschlaf zu haben. Für diese Gedächtnisart bildet der Hippocampus, eine auch Ammonshorn genannte Struktur im Inneren des Schläfenlappens, gewissermaßen die Eintrittspforte. Ohne seine Mitwirkung vermag man keine neuen Informationen zu behalten.

John O'Keefe vom University College in London hatte schon in den siebziger Jahren entdeckt, daß bei Ratten manche Nervenzellen im Hippocampus besonders dann aktiv sind, wenn sich die Tiere in einer bestimmten Umgebung aufhalten; in einer anderen Umgebung feuern dagegen andere Zellgruppen. Es schien, als repräsentierten diese ortsspezifischen Neuronen räumliche Informationen wie eine Karte.

Bruce L. McNaughton von der Universität von Arizona in Tucson und Matthew A. Wilson, der inzwischen am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge arbeitet, konnten diese Hypothese 1993 bestätigen, indem sie mit stark verfeinerten Elektroden die Erregungsmuster von bis zu 150 Nervenzellen gleichzeitig ableiteten (Bild 1): Kam ein Tier in eine neue Umgebung, änderte sich die Verteilung der aktiven Neuronen, und bei wiederholten Aufenthalten dort prägte sich dieses Erregungsmuster immer stärker aus.

Wann und wie aber gelangen die räumlichen Repräsentationen ins Langzeitgedächtnis? Offenbar geschieht dies im Schlaf. Schon 1989 wies Gyorgy Buzsaki von der Rutgers-Universität in New Brunswick (New Jersey) kurze, relativ starke elektrische Entladungen im Hippocampus während des Tiefschlafs nach. Im selben Jahr entdeckten Jonathan Winson und Constantine Pavlides von der Rockefeller-Universität in New York, daß bestimmte Hippocampus-Neuronen, die aktiv sind, wenn eine Ratte eine neue Umgebung erkundet, im Schlaf danach mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder feuern als während der vorangegangenen Ruheperiode (siehe Spektrum der Wissenschaft, Januar 1991, Seite 126).

McNaughton und Wilson überprüften dies nun mit ihren Vielkanal-Elektroden ("Science", Band 265, Seite 676). Sie leiteten die Aktivitäten von 50 bis 100 Zellen in der CA1-Region im Hippocampus von Ratten ab und verglichen die Erregungsmuster, die bei einem Labyrinth-Experiment sowie während des Schlafs davor und danach entstanden. Tatsächlich feuerten die meisten Neuronen, die im Experiment gemeinsam aktiv wurden, auch im anschließenden Tiefschlaf (hauptsächlich in den ersten Stunden). Besonders während der starken Entladungen ergaben sich hohe Korrelationen in den Aktivitätsmustern (Bild 2). Zu den Erregungen, die während des Tiefschlafs vor der Orientierungsaufgabe aufgezeichnet worden waren, bestand dagegen keine Ähnlichkeit.

Offensichtlich wurden Informationen, welche die Ratten während der Wachperiode erworben hatten, im Schlaf in hochverdichteter Weise noch einmal abgerufen und weiterverarbeitet. Im Wachzustand integriert der Hippocampus sozusagen im On-line-Betrieb die sensorischen Eindrücke und bewahrt sie vorübergehend auf. Wenn er im Tiefschlaf dann off-line ist, kann er seinen Gedächtnisinhalt aufarbeiten und in die weit verstreuten Bereiche der Großhirnrinde weiterleiten, in denen die Informationen mit früheren ähnlichen Inputs in Verbindung gebracht und langfristig gespeichert werden. Dieses Playback der Hippocampus-Neuronen wäre somit für die Konsolidierung des Gelernten erforderlich, indem es die Kontakte zwischen Nervenzellen im Cortex verstärkt, die verschiedene Teile der Gedächtnisinhalte repräsentieren; dadurch könnten die Einzelinformationen zu einem kohärenten Ganzen verbunden werden, das sich später wieder abrufen läßt.

Ob die Informationen tatsächlich ins Langzeitgedächtnis gelangen, müssen weitere Experimente freilich erst erweisen. Dazu könnte man beispielsweise mit bestimmten Substanzen den Erwerb räumlicher Kenntnisse unterbinden; dann dürften auch keine korrelierten Aktivitäten im Hippocampus während des Schlafes auftreten.

Unklar bleibt bis auf weiteres auch die Rolle des REM-Schlafes für die Konsolidierung des deklarativen Gedächtnisses. Welchen Sinn hat es, daß er sich mit den Tiefschlafphasen abwechselt? Und sind Träume vielleicht bloß Abfallprodukte beim neuronalen Festlegen unserer Erinnerungen? Im Schlaf werden wir darüber jedenfalls nichts lernen können, sondern allein durch weitere ausgeklügelte Experimente.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 22
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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