Oberflächliche Spannungen
Wenn wir ein Blatt Papier mit dem angefeuchteten Finger anheben – wirkt dann eine Klebkraft? Nein, es ist die allgegenwärtige, aber nur selten bemerkte Oberflächenspannung.
Ein Saugnapf aus Wasser: Wer feuchte Hände hat, sollte mit Gegenständen, die einerseits leicht und andererseits durch Wasser benetzbar sind, vorsichtig umgehen. Wenn Sie im Badezimmer ein leichtes Parfümfläschchen mit der nassen Hand auf die Konsole vor dem Spiegel stellen und die Hand eilig zurückziehen, müssen Sie damit rechnen, dass die Flasche an Ihrem Finger haften bleibt, ins Rutschen kommt und ins Waschbecken purzelt.
Das liegt nicht etwa daran, dass Ihre Finger klebrig wären. Reines Wasser ist kein Klebstoff. Vielmehr wirken in diesem Fall Kapillarkräfte, die auf seiner Oberflächenspannung beruhen. Sie können wohl eine Hand vorübergehend an einer Flasche haften lassen, aber keine dauerhaften Verbindungen herstellen. Für Lebewesen von der Größe eines Menschen sind sie eine vergleichsweise schwache Naturkraft, leichter zu messen als zu fühlen, und werden daher im täglichen Leben nur selten zur Kenntnis genommen.
Dagegen ist für kleine Tiere von einem Zentimeter Länge und weniger, die dicht unter oder über der Oberfläche des Wassers zu Hause sind, die Oberflächenspannung groß und von lebenswichtiger Bedeutung. Sie kann ebenso Schutz oder Helfer wie dauernde Bedrohung sein.
Die räuberische Wasserspinne (Argyroneta aquatica) webt sich unter Wasser eine große Luftglocke mit so engen Maschen, dass die Oberflächenspannung sie abdichtet. In ihr lebt und atmet sie, pflanzt sich fort und zieht ihren Nachwuchs groß.
Der grazile Wasserläufer (Gerris lacustris) lässt sich sogar von der Wasserfläche tragen, auf der er sich flink bewegt und nach Beute jagt. Dichte, Wasser abstoßende Behaarung an den Beinen und am ganzen Körper schützt die kleinen Luft atmenden Insekten vor der Gefahr, vom Wasser aufgesogen und ertränkt zu werden. Die Wasserspinne nutzt darüber hinaus sogar aktiv das kleine Volumen zwischen ihren Körperhaaren, um den zum Leben nötigen Luftvorrat in ihre Wohnblase zu transportieren.
Auch wir nutzen Kapillarkräfte aus, zum Beispiel, wenn wir kleine Papierstückchen von der Tischplatte klauben oder ein Stück Aluminium- oder Plastikfolie vom Fußboden auflesen. Um uns die Oberflächenspannung dienstbar zu machen, feuchten wir einen Finger durch Anhauchen oder Anlecken an und drücken ihn fest aufs Objekt. Beim Anheben der Hand bleiben Papier oder Folie am Finger haften, wenn sie nicht zu schwer sind. Für den Zusammenhalt sorgt ein dünner Wasserfilm, in dem ein leichter Unterdruck herrscht wie in dem Luftvolumen unter der Glocke eines gewöhnlichen Gummi-Saugnapfes. Aber dieser geringere Druck wird durch keine Gummi-Manschette gegen den äußeren Überdruck abgedichtet, sondern die Oberflächenspannung in seinem Meniskus – das ist seine rund herum gekrümmte Oberfläche gegen die Luft – macht den Drucksprung möglich. Die Bezeichnung "Saugnapf" trifft in beiden Fällen nicht den Sinn, denn da stehen keine kleinen grünen Männchen bereit und saugen Papiere oder Folien an. Vielmehr werden diese vom höheren Außendruck angepresst, und es wäre sinnvoller, von "Drucknäpfen" zu sprechen. Auf dem Mond, wo überhaupt kein Luftdruck herrscht, wären "Saugnäpfe" unbrauchbar.
Oberflächenspannung: Flüssigkeiten haben keine Häute, besitzen aber durch die wechselseitige Anziehung ihrer Moleküle, durch die sie überhaupt zu Flüssigkeiten werden, an der Oberfläche eine besondere Spannung. Wo nach außen gerichtete Kräfte fehlen, stellt die Oberflächenspannung Gleichgewicht her.
Mit der Spannung einer elastischen Gummihaut hat diese Art von Spannung sehr wenig gemein. Während beispielsweise die Haut eines Luftballons in jedem Zustand aus denselben Gummiteilchen besteht und zur Vergrößerung ihrer Oberfläche Arbeit gegen die mit zunehmender Ausdehnung in der Regel wachsenden elastischen Bindungskräfte zu leisten ist, hängt der Aufwand an mechanischer Arbeit zur Vergrößerung einer Flüssigkeitsoberfläche von ihrer aktuellen Größe überhaupt nicht ab. Die aufzuwendende Energie dient allein dazu, Moleküle aus dem Inneren herbeizuschaffen und mit ihnen neue Oberfläche zu bilden. Umgekehrt verkleinern Flüssigkeiten gerne ihre Oberfläche, indem sie andere Körper benetzen, sofern sie dadurch einen energetisch günstigeren Zustand einnehmen können.
Wie gern Wasser Oberflächen benetzt, lässt sich ohne viel Aufwand mit Utensilien aus der Küche vorführen. Setzen Sie in die Mitte eines kleinen Stücks Aluminiumfolie (von wenigen Quadratzentimetern Fläche und wenigen hundertstel Gramm Masse) einen Wassertropfen. Nützlich zum Dosieren kann ein ausgedienter Tropfer aus der Hausapotheke sein. Geht man sehr langsam mit dem Finger an den Tropfen heran, kann man den Augenblick abpassen, in dem die Fingerkuppe den Tropfen berührt und die Folie mitsamt dem Tropfen einen kleinen Sprung nach oben macht: Der Tropfen breitet sich begierig über die Fingerkuppe aus, wird dabei flacher und muss dazu die Folie etwas anheben. Von der Seite zeigt sich ein ringförmiger "Meniskus", der den zusammengedrückten Wassertropfen umschließt. Je dünner und je ausgedehnter der Wasserfilm ist, desto größere Lasten kann er tragen. Mikroskopier-Gläschen (Objektträger) mit großen Flüssigkeitsfilmen sind sehr schwer voneinander zu lösen; es bleibt einem nichts anderes übrig, als sie parallel zu verschieben (und dabei gegen die innere Reibung der Flüssigkeit Arbeit zu leisten).
Aufschlussreich ist ein ähnliches Experiment mit einem genauso kleinen Rechteck aus sehr dünner, flexibler Frischhaltefolie. Ein Wassertropfen, den man in seine Mitte setzt, wickelt sich allmählich in die Folie ein! Auf ebener Folie ist der Tropfen offenbar nur dann im mechanischen Gleichgewicht, wenn die Folie steif genug ist und ihrer Verbiegung durch die Oberflächenspannung widerstehen kann (was für Aluminiumfolie der Fall ist). Flexible Folie wird von der Oberflächenspannung am Tropfenrand nach oben gezogen. Der Tropfen kann also Energie gewinnen, indem er ein Stück freie Oberfläche mit der Luft gegen ein Stück Grenzfläche mit der Folie eintauscht. Das genaue Endergebnis der Einwickel-Aktion ist schwer vorhersagbar, weil der Tropfen selten genau in die Mitte der Probe fällt und außerdem der von der Verformung abhängige Flächeninhalt der Tropfenoberfläche und ihr folienbedeckter Teil nur schwer abzuschätzen sind.
Riesentropfen: Stellen Sie sich vor, Sie erwachen eines Morgens, schauen aus dem Fenster und finden sich in einer Welt wieder, in der die Oberflächenspannung um vier bis fünf Zehnerpotenzen gewachsen ist. Die Straße, die Häuser, die geparkten Autos sehen wie immer aus, aber zur gewohnten Tageszeit fehlen die sonst vertrauten Passanten. In der Nacht hat es wohl geregnet, davon sind Pfützen stehen geblieben. Aber was für Pfützen! Sie sehen eher wie riesige Wassertropfen aus. Eine Kolonne Stadtreiniger bemüht sich mit großen Besen, die übrig gebliebene Flut zu beseitigen. Ihre Besen sehen aus der Entfernung ziemlich merkwürdig aus. Rund herum und sogar am Stiel scheinen sie dicht mit feinen Borsten besetzt zu sein. Auch die Männer tragen borstige Kleidung bis zu den Schuhen hinunter. Voller Wissbegier ziehen Sie sich rasch etwas über, rennen auf die Straße und gehen auf eine der Pfützen zu, die wie große Tropfen am Wege stehen. Ein Arbeiter läuft noch erschrocken auf Sie zu und ruft: "Vorsicht, nichts anfassen!" Aber zu spät: Sie haben sich längst gebückt und die flache Hand auf einen der meterhohen Tropfen gelegt, um ihn anzufühlen. Und augenblicklich erfasst Sie eine tonnenschwere Kraft und zieht Sie am Arm in den Tropfen oder, je nach der Menge, das Wasser kommt über Sie und saugt Sie auf. Dabei können Sie noch von Glück reden, dass der Riesentropfen trotz seiner zwei Tonnen Wasser viel zu klein ist, um Sie völlig zu umhüllen und zu ertränken.
Erwachen wir aus unserem Traum – er ist ohnehin ziemlich unphysikalisch. Aber was für uns wilde Fantasie ist, das ist für Tiere von Insektengröße bittere Realität. Nicht umsonst tragen Bienen und Fliegen so viele Borstenhaare. Umgekehrt: Freuen wir uns unserer Größe! Wir müssten sonst, im Interesse unseres Überlebens, ziemlich kratzbürstig sein.
Literaturhinweis
Air and Water. Von Mark W. Denny. Princeton University Press, Princeton (NJ) 1993, Nachdruck 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2001, Seite 112
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