Januar 2014: Physikalische Tarnkappen
Warum sehen wir Dinge? Weil sie das Licht auf dem Weg in unser Auge verändert haben: in seiner Richtung, Helligkeit oder Laufzeit. Täten sie das nicht, wären sie nicht von ihrer Umgebung zu unterscheiden. Wenn es uns also gelänge, das Licht so an einem Objekt vorbeizulenken, als wäre dieses nicht da, hätten wir erfolgreich eine Tarnkappe gebaut.
Doch Sehen ist nur eine Weise, unsere Welt wahrzunehmen. Ein Objekt macht sich auch dadurch bemerkbar, dass es Schall reflektiert oder absorbiert, dass es die Ausbreitung der Wärme behindert und dass es der Berührung Widerstand entgegensetzt. Eine allumfassende Tarnkappe müsste also nicht nur für Licht, sondern auch für Schall und Wärmeleitung eine perfekt täuschende Umleitung bereitstellen. Obendrein müsste sie das Objekt durch so etwas wie eine elastische Tarnverpackung unfühlbar machen.
Seit ein paar Jahren sind Tarnkappen nicht mehr bloß Sciencefiction – sogar über die Optik hinaus. Wir wissen nicht nur, wie sie theoretisch funktionieren können, sondern haben dieses Wissen auch schon teilweise im Labor umgesetzt. Gleichgültig, ob es um Licht-, Schall- oder mechanische Wellen geht: Die zu Grunde liegende Physik mitsamt der zugehörigen Mathematik ist in allen Fällen im Prinzip dieselbe und anschaulich greifbar.
Wie konstruiert man nun eine solche Umleitung? Ersetzen wir in Gedanken das Licht – oder eine andere Welle – durch Autos, die mit konstanter Geschwindigkeit eine Stadt durchqueren. Wir nehmen eine Luftaufnahme der Stadt und verzerren sie – zum Beispiel mit einem Bildbearbeitungsprogramm wie Photoshop – so, dass sich in der Mitte ein kreisförmiges Loch auftut. Das Ergebnis kann ziemlich komisch aussehen: Manche ursprünglich geraden Straßen werden krumm und vor allem länger, andere werden zusammengestaucht. Wendet man diese Verzerrung auf einen ganzen Film an, so scheinen die Autos auf den verlängerten Straßen entsprechend schneller und auf den verkürzten langsamer zu fahren.
Die Kunst besteht nun darin, gewissermaßen eine Stadt zu bauen, in der die Autos in Wirklichkeit so schnell fahren, wie sie sich im Zerrbild zu bewegen scheinen. Insbesondere muss man ihnen auf den verlängerten Straßen eine höhere, auf den verkürzten eine niedrigere Geschwindigkeit vorschreiben. Dann sieht ein Beobachter die Autos aus der umgebauten Stadt zur gleichen Zeit und mit der gleichen Geschwindigkeit herauskommen wie aus der ursprünglichen. Er kann also unter keinen Umständen wahrnehmen, dass in der Mitte ein Loch ist, und erst recht nicht, was darin steckt, – eine perfekte Tarnkappe.
Für echtes Licht an Stelle von Autos bedeutet das: Man muss dem Licht an jedem Punkt der »Stadt« eine andere Geschwindigkeit vorgeben, und diese Geschwindigkeit hängt auch noch von der Richtung ab. Das genügt allerdings, um dem Licht den richtigen Weg zu weisen; denn wie ein Autofahrer, der möglichst schnell von A nach B kommen möchte, wählt das Licht nach dem fermatschen Prinzip zwischen zwei Punkten stets den Weg kürzester Laufzeit.
Der Konstrukteur einer Tarnkappe muss also eine geeignete Verzerrung (mathematisch: eine Koordinatentransformation) finden. An dieser Stelle ist Kreativität gefragt. Theoretiker wie John Pendry vom Imperial College London mit seinen Kollegen und Ulf Leonhardt von der University of St Andrews in Schottland haben für Licht im Jahr 2006 unabhängig voneinander erstmals Lösungen vorgelegt. Die Mathematik ist dabei derjenigen der allgemeinen Relativitätstheorie recht ähnlich.
Aus der Verzerrung ergibt sich eine Funktion, die zu jedem Ort und zu jeder Richtung eine Geschwindigkeit vorschreibt. Diese wäre nun durch ein geeignetes Material zu realisieren.
In der Natur gibt es zwar Stoffe, bei denen die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts von der Richtung abhängt; diese Anisotropie ist jedoch nur sehr schwach ausgeprägt. Ein viel verwendetes und vergleichsweise stark anisotropes Material ist Kalkspat; aber seine zwei Lichtgeschwindigkeiten unterscheiden sich gerade einmal um zehn Prozent. Hier helfen künstliche Werkstoffe weiter, die aus verschiedenen Materialien zusammengesetzt sind.
Schon 1874 dachte James Clerk Maxwell (1831 – 1879), einer der Väter des Elektromagnetismus, über künstliche, effektiv anisotrope Materialien (so genannte Laminate) nach. Ein Eisenklotz leitet den elektrischen Stromfluss in allen Richtungen gleich. Macht man hingegen daraus einen Satz dünner geradliniger paralleler Drähte, die gegeneinander isoliert sind, kann der Strom nur noch entlang der Drahtachsen fließen. So einfach lässt sich mit ganz normalen Ausgangsmaterialien eine massive Anisotropie herstellen, oder auch eine mildere, indem man die Isolierung durch einen schlechten Leiter ersetzt.
An die Stelle der Drähte und Isolatoren setzen wir heute anisotrope Anordnungen sehr vieler Atome, die manchmal auch als Metaatome bezeichnet werden. Diese funktionellen Baugruppen spielen dieselbe Rolle wie die Einheitszellen in einem gewöhnlichen Kristall: Sie sind periodisch angeordnet. Die solcherart künstlich hergestellten Strukturen sollen sich wie ein Material verhalten, dessen Eigenschaften über die eines gewöhnlichen Materials hinausgehen – entsprechend taufte man sie Metamaterial. Da wir deren Herstellung noch nicht lange beherrschen, werden auch Tarnkappen erst in den letzten sieben Jahren intensiv erforscht.
Auf eine durchlaufende Welle soll ein Metamaterial wie ein homogenes Medium wirken. Dazu muss die Größe der Einheitszellen deutlich kleiner sein als die Wellenlänge. Denn sind diese beiden Längen vergleichbar, so entsteht Interferenz: Die Welle merkt gleichsam, dass sie durch ein strukturiertes Medium läuft, und wird reflektiert oder gebeugt. Das ist hier nicht erwünscht, da wir lediglich die effektive Wellengeschwindigkeit beeinflussen wollen.
Bei Tarnkappen für mechanische Vibrationen oder Wärme lässt sich dies noch leicht umsetzen; hier sind die Strukturen einige Millimeter oder Zentimeter groß. Für Lichtwellen brauchen wir Nanostrukturen, die man erst seit wenigen Jahren herstellen kann.
Um Metamaterialien zu bauen, braucht man hinreichend unterschiedliche Ausgangsstoffe. Für die Anwendung auf elektrischen Strom sind diese noch leicht zu finden: Ein Stück Metalldraht hat einen elektrischen Widerstand von weit unter einem Ohm, ein guter Isolator mehr als das Zehnmillionenfache. Die elektrische Leitfähigkeit, das Pendant zur Wellengeschwindigkeit, variiert also über sieben bis acht Zehnerpotenzen. Bei sichtbarem Licht dagegen ist Titandioxid immer noch die beste Wahl; aber dort ist die Lichtgeschwindigkeit nur knapp einen Faktor drei geringer als in Luft oder Vakuum. Damit lässt sich die oben skizzierte kreisförmige Tarnkappe mit Geschwindigkeiten von nahezu null in der einen und nahezu unendlich in der dazu senkrechten Richtung nicht einmal annähernd realisieren.
Tarnkappen für Wärmeflüsse
Bemerkenswerterweise lässt sich das Prinzip auch auf die Ausbreitung von Wärme anwenden, obgleich diese kein Wellenphänomen ist. Für zeitunabhängige Systeme gehorchen nämlich die Verteilung der Temperatur und diejenige des elektrischen Potenzials derselben mathematischen Gleichung. Überdies sind bei Metallen die Leitfähigkeiten für Wärme und elektrischen Strom eng miteinander verknüpft und lassen sich durch analoge physikalische Modelle beschreiben. Entsprechend finden sich auch Ausgangsstoffe für ein Metamaterial, bei dem die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Wärme vom Ort und von der Richtung abhängt.
Wir haben 2013 gemeinsam mit unserem Institutskollegen Muamer Kadic und Sebastien Guenneau von der AixMarseille Université eine solche Tarnkappe für Wärme gebaut. Sie besteht aus nur zwei verschiedenen Ausgangsmaterialien: Kupfer und dem leicht zu verarbeitenden Kunststoff Polydimethylsiloxan (PDMS). Deren Wärmeleitfähigkeiten unterscheiden sich um mehr als einen Faktor 1000.
Damit die Wärme leicht um das (kreisförmige) zu tarnende Objekt herumfließt und nur schwer zu diesem vordringen kann, haben wir eine Kupferplatte so mit Schlitzen und Löchern versehen und diese dann mit PDMS aufgefüllt, dass sie dem Wärmefluss auf das Zentrum zu möglichst viele Hindernisse in den Weg legt und ihm seine Umgehung maximal erleichtert. Der zentrale Kreis wird dadurch von der Umgebung entkoppelt und bleibt für längere Zeit kühl; das kann zum Beispiel für Anwendungen in der Elektronik von Nutzen sein.
Insgesamt ist die Wärmeleitfähigkeit innerhalb der Tarnkappe geringer als in einer ungeschlitzten Kupferplatte. Um diesen Effekt zu kompensieren, haben wir auch in die umgebende Kupferplatte Löcher gebohrt und mit PDMS aufgefüllt, so dass die effektive Wärmeleitfähigkeit innen wie außen dieselbe ist. Insbesondere ist die Ausbreitungsgeschwindigkeit, wie gefordert, an gewissen Stellen und in gewissen Richtungen innerhalb der Tarnkappe größer als in der Umgebung. Somit verhält sich der Wärmefluss außerhalb der Tarnkappe genauso wie in der restlichen homogenen Platte.
Vor Vibrationen verbergen
Wenn es nicht mehr um die Ausbreitung von Wärme, sondern um die von Wellen geht, kommt eine weitere Komplikation hinzu: Wellen können entlang der Ausbreitungsrichtung (longitudinal) oder in zwei möglichen Richtungen senkrecht dazu (transversal) schwingen. Lichtwellen sind transversal, Schallwellen in Gasen und Flüssigkeiten longitudinal, und mechanische Wellen in elastischen Stoffen können in allen drei Raumrichtungen schwingen. Eine Tarnkappe sollte im Idealfall für alle möglichen Schwingungsrichtungen (Polarisationen) einer Wellenart funktionieren.
Als einen ersten Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel hat im Jahr 2012 Nicolas Stenger aus unserer Gruppe mit Unterstützung seines Chemikerkollegen Manfred Wilhelm eine zweidimensionale Tarnkappe hergestellt. Es handelt sich um eine Platte, die wie die Membran einer Trommel schwingen kann. Sie transportiert also nur Wellen, welche die Membran senkrecht zu ihrer Ebene auslenken. In der Mitte gibt es einen Bereich, den wir festhalten und der dadurch die Ausbreitung der Welle stören würde, wenn wir ihn nicht mit einer Tarnkappenstruktur umgeben hätten.
Stenger wählte als Ausgangsmaterialien den harten Kunststoff Polyvinylchlorid (PVC) und das schon genannte PDMS, das weich und fast gummiartig ist. Die Wellengeschwindigkeit in einer Membran oder Platte ist für PVC knapp 40-mal so groß wie für PDMS. Wir haben die PVC-Platte nach demselben Prinzip, das wir später für die Kupferplatte bei der Wärmeleitung verwendeten, mit Löchern versehen und diese mit PDMS aufgefüllt. In der Umgebung haben wir wieder in regelmäßiger Anordnung Löcher ins PVC gebohrt und diese mit PDMS aufgefüllt, damit die effektive Laufzeit mit und ohne Tarnkappe dieselbe ist. Die Ringbreite von drei Millimetern liegt deutlich unter der Wellenlänge von knapp zehn Zentimetern bei einer Frequenz von 200 Hertz, wie es sich für eine Tarnkappe gehört.
Für eine Welle, die um den festgehaltenen Bereich herumläuft, liegen der harte und der weiche Kunststoff parallel. Diese Situation ist analog zu einer weichen und einer harten Schraubenfeder. Sind diese parallel angeordnet, so bestimmt die harte Feder mit ihrem größeren Widerstand die Eigenschaften des Paars. Das Material verhält sich daher hart, und die Wellen breiten sich schnell aus. In Richtung Zentralbereich sind die beiden Federn hingegen hintereinandergeschaltet. Nun ist die weiche Feder maßgeblich, die sich leicht strecken oder zusammendrücken lässt. Im Effekt reagiert das Metamaterial weich, und die Wellen laufen langsamer.
Ein Lautsprecher versetzt die Platte am linken Rand in Auf-und-ab-Schwingungen. Von dort aus läuft die Welle durch die Tarnkappe. Mittels stroboskopischer Beleuchtung der Platte konnten wir die Ausbreitung vermessen und bestätigen, dass die Tarnkappe ihre Funktion erfüllt.
Zu unserer eigenen Überraschung könnte das Prinzip der mechanischen Tarnkappe praktischen Nutzen abwerfen. Die Anordnung tarnt nämlich nicht nur ein Objekt, sondern entkoppelt es auch von seiner Umgebung. Eine Forschergruppe um Sebastien Guenneau und Stefan Enoch von der Aix-Marseille Université hat jüngst spekuliert, dass Tarnkappen für Vibrationen auf diese Weise Gebäude vor Erdbeben schützen könnten, genauer: vor den besonders zerstörerischen Wellen mit Wellenlängen von einigen Metern bis einigen hundert Metern, die sich parallel zur Erdoberfläche ausbreiten (»Rayleigh-Wellen«). Erste Vorexperimente in Zusammenarbeit mit der französischen Firma Menard sind ermutigend. Gleichwohl ist diese Anwendung noch umstritten, weil die Bewegungen des Gesteins bei großen Auslenkungen nicht mehr korrekt durch die Bewegungen gewöhnlicher (»linearer«) Schraubenfedern zu modellieren sind und damit eine wesentliche Voraussetzung der Theorie wegfällt. Doch selbst wenn dadurch die Tarnkappe im Erdboden zerstört würde, wäre der Schutz des Gebäudes das wert.
Für seismische Wellen ist die Bedingung, dass die Strukturen des Metamaterials viel kleiner als die Wellenlänge sein müssen, kein ernsthaftes Problem – für Licht mit seiner Wellenlänge zwischen 400 und 800 Nanometern (millionstel Millimetern) dagegen sehr. Ausgerechnet die Tarnkappe im ursprünglichen Sinn des Worts stellt also die Konstrukteure vor die größten Schwierigkeiten.
Entsprechend arbeiteten die ersten Hersteller von Tarnkappen für elektromagnetische Strahlung mit Mikrowellen, deren Wellenlängen einige Zentimeter betragen können. Der Gruppe um David Smith an der Duke University in Durham (North Carolina) gelang 2006 die erste experimentelle Demonstration einer kreisförmigen Tarnkappe (Spektrum der Wissenschaft 3/2007, S. 16). Allerdings arbeitet sie wie die bisher genannten Tarnkappen in nur zwei Dimensionen – so dass sie nur für einen extrem eingeschränkten Raumwinkelbereich funktioniert –, für eine von zwei Schwingungsrichtungen der Strahlung und für einen extrem schmalen Frequenzbereich: Die Wellenlänge darf nur um ungefähr zwei Prozent von 3,5 Zentimeter abweichen.
Gegen die letzte Beschränkung wird keine Ingenieurskunst helfen. Die Geschwindigkeit elektromagnetischer Wellen in Materie ist von der Frequenz abhängig (»Dispersion«). Daher kann eine Tarnkappe immer nur auf Wellen einer bestimmten Frequenz abgestimmt sein; bei allen anderen stimmen die für die Funktion entscheidenden Geschwindigkeitsverhältnisse nicht mehr. Es ist aus prinzipiellen physikalischen Gründen aussichtslos, nach einem dispersionsfreien Material zu suchen – insbesondere wenn die Geschwindigkeit stark von der Vakuumlichtgeschwindigkeit abweichen soll. Seit den Experimenten von David Smith hat sich daher nicht viel verbessert.
Krummer Zauberspiegel
In dieser Situation schlug Jensen Li aus der Gruppe von John Pendry am Imperial College in London 2008 einen interessanten Ausweg vor: die Teppich-Tarnkappe. Der Name spielt auf einen Teppich an, der eine Wölbung hat, so dass man etwas unter ihn kehren könnte. Eigentlich handelt es sich dabei eher um einen gewölbten Spiegel, der durch Manipulation der Umgebung flach aussehen soll.
Ein Lichtstrahl, den die Wölbung reflektiert, hat einen kürzeren Weg und würde daher schneller zurückkehren als einer, der bis zum ungestörten Spiegel vordringt. Um den externen Beobachter zu täuschen, muss also die Geschwindigkeit in der Nähe der Wölbung geringer sein. Die zugehörige Koordinatentransformation kann aus einer Klasse von Abbildungen gewählt werden, die in der Mathematik »konform« genannt werden. Konforme Abbildungen sind insbesondere winkeltreu, mit dem Effekt, dass die Geschwindigkeit zwar vom Ort, nicht aber von der Richtung abhängen muss. Daher braucht man für eine Teppich-Tarnkappe keine anisotropen Materialien.
Außerdem sind die geforderten Geschwindigkeitsunterschiede weitaus geringer als in der kreisförmigen Tarnkappe. In unserer Umsetzung verhält sich die kleinste zur größten Geschwindigkeit wie 1 zu 1,5. Daher kommt man mit geringeren Materialkontrasten aus, und die Dispersion (deren Ausmaß von diesem Geschwindigkeitsverhältnis abhängig ist) macht sich weniger störend bemerkbar. Ein Geschwindigkeitsverhältnis (oder, was dasselbe ist, ein Brechungsindex) von 1,5 ist sogar mit gewöhnlichem Fensterglas oder transparenten Kunststoffen erreichbar. Daraus muss man dann lediglich ein Metamaterial erstellen, um die ortsabhängige Verteilung der Lichtgeschwindigkeit zu erreichen.
Wir haben diese Tarnkappe durch eine Mischung aus Kunststoff und Luft realisiert. Dort, wo der Anteil des Kunststoffs groß ist, bewegt sich das Licht langsam. Wo wenig oder gar kein Kunststoff vorkommt, rast es mit der üblichen hohen Geschwindigkeit. Im Mittel liegt die Lichtgeschwindigkeit innerhalb der Tarnkappe unterhalb der Vakuumlichtgeschwindigkeit. An den »dünnen« Stellen liegt sie also »über dem Durchschnitt«, ohne das physikalische Prinzip zu verletzen, dass keine Masse oder Energie sich schneller fortpflanzen kann als das Licht (im Vakuum).
Interessanterweise haben wir unser Metamaterial ungefähr mit dem gleichen Licht hergestellt, das hinterher von diesem Material beeinflusst werden soll. Der Strahl eines Lasers mit 800 Nanometer Wellenlänge wird zu einem Lichtfleck fokussiert. Wo das Licht ein Molekül eines durchsichtigen Fotolacks trifft, löst es eine chemische Reaktion aus, durch die sich der Lack an dieser Stelle zu einem Polymer vernetzt. Das bleibt stehen, während der unbelichtete Fotolack in einem späteren Fertigungsschritt ausgewaschen wird. Unser Laser ist also gewissermaßen ein Schreibstift – mit einer Strichdicke in der Größenordnung der Wellenlänge.
Die Einheitszellen des Metamaterials haben aber eine Strukturbreite von 100 Nanometern, damit sie unterhalb der »Wahrnehmungsschwelle« des Lichts liegen. Wie kann man mit einem 800 Nanometer dicken Stift einen 100 Nanometer dicken Strich ziehen? Die Strichdicke ist die Breite der Verteilung, die beschreibt, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Photon aus dem Laser an welchem Ort auftrifft. Unser Polymerisationsprozess erfordert jedoch zwei Photonen auf einmal (»nichtlineare Optik«); daher ist die quadrierte Wahrscheinlichkeitsverteilung maßgeblich, und die ist schmäler. Zusätzlich verwenden wir als »Radiergummi« einen zweiten Laser mit einer Wellenlänge von 532 Nanometer. Der ist so eingestellt, dass er in der Mitte des Strichs die Aktivität null und in einer gewissen Entfernung vom Strich maximale Aktivität hat. Damit verhindert er die Polymerisation an den Rändern des Strichs und macht diesen nochmals dünner. Dieses Prinzip hat Stefan Hell (heute am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen) vor etwa 20 Jahren für eine Anwendung in der Mikroskopie erfunden.
Tolga Ergin und Joachim Fischer aus unserer Gruppe gelang in den Jahren 2010 und 2011 die erste dreidimensionale Teppich-Tarnkappe, zuerst im infraroten und dann im sichtbaren Bereich. Letztere funktioniert in einem breiten Frequenzbereich vom Roten bis ins Infrarote, sie arbeitet für beide Polarisationsrichtungen des Lichts und für alle Beobachtungsrichtungen; darüber hinaus rekonstruiert sie auch die Laufzeiten des Lichts innerhalb des Mediums korrekt.
Bislang könnten allerdings nur Bakterien einen Unterschlupf finden, denn die Wölbung misst nur wenige Mikrometer. Prinzipiell lässt sich die Tarnkappe auch in größerem Maßstab bauen. Um unser Modell herzustellen, braucht das oben beschriebene Lasergerät etwa eine halbe Stunde. Möchten wir es in jeder Raumrichtung beispielsweise um einen Faktor 100 vergrößern, womit es mit bloßem Auge gerade erkennbar wäre, bräuchten wir die millionenfache Zeit, also zirka 57 Jahre. Andere Gruppen haben zwar schon über makroskopische optische Tarnkappen berichtet, aber diese funktionieren nur für eine Polarisationsrichtung des Lichts, nur für bestimmte Beobachtungsrichtungen, die Laufzeit des Lichts stimmt nicht, oder es treten Kombinationen dieser Probleme auf.
Matratzen für empfindsame Prinzessinnen
Im Märchen von Hans Christian Andersen spürte die Prinzessin noch durch dicke Matratzen die harte Erbse. Doch eines Tages könnte eine dünne Schicht aus Metamaterial – vielleicht ähnlich zur Teppich-Tarnkappe – selbst die empfindsamste Prinzessin täuschen. Dazu muss man in der Teppich-Tarnkappe eigentlich nur »langsam« beim Licht durch »weich« in der Elastizität sowie »schnell« durch »hart« ersetzen.
Genauer: Das Material soll dem Druck der Prinzessin von oben so nachgeben, als wäre der Platz für die absolut starre Erbse nicht ausgespart; es muss also oberhalb der Erbse weicher sein als anderswo. Andererseits hat der Mathematiker Graeme W. Milton von der University of Utah in Salt Lake City 2006 gezeigt, dass dies mit normalen elastischen Materialien nicht möglich ist. Man bräuchte Materialien, die nicht nur kompressibel sind, sondern vor allem dem Druck bereitwillig zur Seite ausweichen, allerdings ohne gleich wie eine Flüssigkeit davonzufließen. Diese so genannten pentamodigen mechanischen Metamaterialien haben Tiemo Bückmann, Muamer Kadic und Michael Thiel in unserem Team 2012 zwar erstmals hergestellt, doch stecken diese elastischen Metaflüssigkeiten noch in den Kinderschuhen.
Einige der diskutierten Tarnkappen gleichen Löchern im Raum. Kann man auch Löcher in der Zeit erzeugen? Und was würde das überhaupt bedeuten? Alle bisher diskutierten Tarnkappen waren zeitunabhängig. Wer einen Verdacht geschöpft hätte, könnte zum Beispiel an den Ort einer optischen Tarnkappe hingehen, sie anfassen oder dagegentreten und sofort merken, dass da etwas ist. Gelänge es hingegen, die Tarnkappe nur für einen bestimmten Zeitraum einzuschalten, dann wäre später nicht mehr rekonstruierbar, dass die Tarnkappe etwas an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit verborgen hat. Vielmehr fände man nur noch ein homogenes Medium vor. Das raumzeitliche Ereignis könnte dann nicht mehr rekonstruiert werden. Der Theoretiker Martin McCall vom Imperial College London und seine Kollegen haben diese Idee im Jahr 2011 ins Spiel gebracht.
Betrachten wir zur Veranschaulichung einen Autokorso, in dem alle Autos mit konstanter Geschwindigkeit und gleichem, festem Abstand zueinander fahren. Wenn an einer Kreuzung die Ampel auf rot schaltet, stauen sich die nachfolgenden Autos, und der Korso wird unterbrochen. Eine Gruppe von Fußgängern kann nun die Straße kreuzen. Eine Beobachterin am Ende der Straße würde sofort bemerken, dass die Autos nicht mehr im gleichen Abstand zueinander an ihr vorbeifahren, und könnte auf das Kreuzen der Fußgänger schließen. Fahren die Autos jedoch in der darauffolgenden Grünphase zeitweilig schneller als zuvor, können sie zu den voranfahrenden Autos aufschließen, so dass wieder alle im gleichen Abstand fahren. Dadurch wird jeder Hinweis auf das Ereignis der kreuzenden Fußgängergruppe gelöscht.
Tomografie-Problem
Kann man die innere Struktur eines Objekts eindeutig erschließen, wenn man nur Wellen durch das Objekt hindurchschicken und deren Intensität, Richtung und Laufzeit messen kann? Wäre die Antwort ja, könnte es keine Tarnkappen geben. Das Loch in unserer gedachten Stadt würde sich bemerkbar machen.
Zuerst gestellt wurde diese Frage in einem ganz anderen Zusammenhang: der medizinischen Diagnostik. Man schickt – zum Beispiel – Röntgenstrahlen aus verschiedenen Richtungen durch den menschlichen Körper, misst, wie stark diese absorbiert werden, und versucht daraus ein Bild des Inneren zu rekonstruieren.
In der Impedanz-Tomografie misst man den elektrischen Widerstand zwischen verschiedenen Punkten auf der Körperoberfläche oder auch, für geophysikalische Zwecke, auf der Erdoberfläche. Der argentinische Mathematiker Alberto Calderón stellte 1980 die als Tomografie-Problem bekannt gewordene Frage, ob man aus den Impedanzmessungen eindeutig auf die Struktur des Inneren schließen kann.
Dieses Problem ist im Prinzip nur dann eindeutig lösbar, wenn das durchquerte Medium nicht anisotrop ist. Davon kann man bei den typischen Bestandteilen des menschlichen Körpers jedoch ausgehen.
Das Problem, aus der inneren Struktur die Messwerte am Rand zu bestimmen, ist nicht besonders schwierig. Hier geht es um das umgekehrte (in der Fachsprache: das »inverse«) Problem. Dies ist nicht nur weitaus schwieriger, sondern auch »schlecht gestellt«: Die Lösung ist nicht unbedingt eindeutig, und wenn sie existiert, hängt sie nicht stetig von den Daten ab.
Was lässt sich davon heute experimentell umsetzen? In der Optik war es ja schon zeitunabhängig schwer genug, die Geschwindigkeit des Lichts räumlich zu beeinflussen. Mit langen quasieindimensionalen Glasfasern konnten Alexander Gaeta von der Cornell University in Ithaca (New York) und seine Kollegen 2012 jedoch beeindruckende Modellexperimente durchführen. Dabei verformten sie eine Lichtwelle durch ein Medium mit starker und zeitabhängiger Dispersion: Ein Teil des Lichts wurde beschleunigt, ein anderer gebremst, woraufhin sich eine Lücke innerhalb der Welle öffnete. Durch diese konnten sie eine zweite Lichtwelle schicken, entsprechend den Fußgängern im obigen Beispiel. Hiernach wurde die Lücke geschlossen und die ursprüngliche Welle rekonstruiert, indem sie ein Medium mit umgekehrter Dispersion durchlief. Auf diese Weise konnten die Forscher getarnte zeitliche Löcher von zirka 50 Pikosekunden (billionstel Sekunden) Dauer in einem kontinuierlichen Strom von Licht erzeugen. Der zeitliche Anteil der Löcher betrug jedoch nur ein Zehntausendstel eines Prozents. Dies entspricht Fußgängern, die nur einmal im Jahr für 30 Sekunden die Straße kreuzen dürfen. Eine andere Gruppe um Andrew Weiner von der Purdue University in West Lafayette (Indiana) hat dieses Ergebnis 2013 im Experiment auf erstaunliche 46 Prozent bei ähnlich langen Zeitlöchern verbessert.
Aus den vorstehenden Beschreibungen dürfte eines deutlich geworden sein: Tarnkappen sind noch lange nicht reif für die Anwendung in der Praxis. Es geht auch nicht allein um das Verstecken von Objekten. Vielmehr finden wir es spannend, auszuloten, wie man mit Hilfe von Metamaterialien Wellen und andere Energieflüsse in der Physik gezielt beeinflussen kann. Die Grenzen des Möglichen verschieben sich ständig und manchmal schneller, als die Forscher selbst erwarten. Sicher ist aber jetzt schon, dass die Verzerrung von Raum und Zeit als anschauliches und ästhetisches Hilfsmittel eine entscheidende Rolle spielen wird.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen