Sie liebt mich, sie liebt mich nicht
Die Scheibenblüten von Gänseblümchen und Sonnenblumen wie auch die Schuppen von Tannenzapfen folgen einer Dynamik, die ihre spiralige Anordnung quasi von selbst hervorbringt.
Die Bienen summten träge umher, die Sonne brannte am Himmel, und die Sonnenblumen wiegten sich in einer lauen Brise. Hans-Martin, der Hütejunge, zerzupfte ein Gänseblümchen: "Sie liebt mich, sie liebt mich nicht..." Aber Margarete, das Gänsemädchen, schalt ihn darob einen Dummkopf: "Wenn du danach gehst, liebt sie dich nie."
"Wieso?"
"Diese Art Gänseblümchen hat immer 34 Blütenblätter. Wenn du mit ,sie liebt mich' anfängst, endest du jedesmal bei ,sie liebt mich nicht'. Ist doch logisch."
Hans-Martin schätzte Margaretes Logik nicht immer. Er zupfte still weiter und rief plötzlich: "Sie liebt mich! Es waren nämlich nur 31 Blütenblätter."
"Merkwürdig."
"Ich finde es viel merkwürdiger, daß es stets dieselbe Anzahl sein soll. Haben die Gänseblümchen es in den Genen, wie viele Blütenblätter sie haben sollen?"
"Das glaube ich nicht. Die genetischen Anweisungen sind normalerweise nicht von der Art. Die Gene sagen den Pflanzen zum Beispiel, wie sie Chlorophyll herstellen müssen, aber nicht, daß es grün sein soll. Das ergibt sich dann aus der Chemie."
"Und die Blütenform?"
"Im Erbgut können so ziemlich alle Gestaltmerkmale festgelegt sein, aber mathematische Regelmäßigkeiten sind normalerweise auf Physik, Chemie und Wachstumsdynamik zurückzuführen."
"Was ist denn an der Zahl 34 so mathematisch regelmäßig?"
Jetzt fing Margarete an zu zupfen. "An der Zahl alleine nicht viel", gab sie zu. "Aber die Anzahlen – nicht nur von Blütenblättern, sondern von allen möglichen Merkmalen der Pflanzen – sind normalerweise sehr genau festgelegt. Lilien haben drei Blütenblätter, Butterblumen fünf, Ringelblumen 13, Astern 21 und die meisten Gänseblümchen 34, 55 oder 89. Andere Zahlen findest du nur selten, und die sind meistens entweder das Doppelte der Zahlen, die ich gerade genannt habe, oder sie gehören zur sogenannten anomalen Folge – 3, 4, 7, 11, 18 und so weiter."
Hans-Martin kratzte sich am Kopf. "Kommt mir irgendwie bekannt vor."
"Kein Wunder. Die Zahlen 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 bilden den Anfang der..."
"... Fibonacci-Folge. Jedes Glied der Folge ist die Summe der beiden vorhergehenden. Das gilt auch für deine anomale Folge" (Spektrum der Wissenschaft, November 1995, Seite 10).
"Richtig", erwiderte Margarete. "Der arme Leonardo Fibonacci. Eigentlich wollte er im Jahre 1202 mit seinen Zahlen die Vermehrung der Karnickel beschreiben, aber das funktionierte nicht so recht. Dafür findet man seine Folge an vielen anderen Stellen. Schau dir diese Sonnenblume an."
Hans-Martin öffnete widerwillig die Augen. "Na schön. Spiralen. Wart mal... 34 winden sich in Rechtskurven, wie Speichen, nur gekrümmt halt. Und linksherum zähle ich – 55" (Bild 1).
"Also aufeinanderfolgende Fibonacci-Zahlen. Welche es sind, hängt von der Sonnenblumensorte ab; es gibt die Kombinationen 34 und 55, 55 und 89 oder auch 89 und 144. Bei Gänseblümchen auch. Tannenzapfen, Ananas..."
"Seltsam."
"Kann man wohl sagen. Man sollte doch meinen, daß die Gene einer Blüte jede beliebige Anzahl Blütenblätter vorschreiben können. Woher kommen dann die vielen Fibonacci-Zahlen?"
Hans-Martin schnippte mit den Fingern. "Willst du damit sagen, daß diese Zahlen durch irgendeinen mathematischen Mechanismus zustande kommen? Physik, Chemie oder..."
"Dynamik."
"Na, erzähl schon", bat Hans-Martin.
Der Gipfel des Irrationalen
"Es gibt viele verschiedene Erklärungen. Aber am aufregendsten finde ich diejenige, die Stéphane Douady und Yves Couder vom Labor für Statistische Physik in Paris gegeben haben. Die beiden haben kürzlich mit Computermodellen und Laborexperimenten nicht nur das Auftreten der Fibonacci-Zahlen beim Pflanzenwachstum erklärt, sondern noch vieles andere."
"Ach... bitte nicht alles auf einmal."
"Na gut. Die grundlegende Idee ist schon alt. Wenn du dir den Sproß einer wachsenden Pflanze ansiehst, erkennst du die Anlagen für alle ihre Teile – Blätter, Kelchblätter, Blütenblätter und so weiter. An der Spitze ist ein kegelförmiges Gebiet mit Gewebe ohne besondere Eigenschaften; man nennt es den Apex. Um ihn herum erheben sich eine nach der anderen kleine Schwellungen; diese Blattanlagen wandern während des Wachstums von ihrer Ursprungsstelle weg und entwickeln sich schließlich zu Blättern, Blütenblättern oder was immer. Man muß also erklären, warum man Spiralformen und Fibonacci-Zahlen in den Blattanlagen findet."
"Und zwar?"
"Zuerst muß man merken, daß diese auffälligen Spiralen, die Parastichen, gar nicht das Ursprüngliche sind. Die wichtigste Spirale zeigt sich, wenn man die Blattanlagen in der Reihenfolge ihrer Entstehung mit einer Linie verbindet. Je älter eine Blattanlage ist, desto weiter wandert sie; daran kann man die Reihenfolge ihres Entstehens ablesen. Man findet, daß die Blattanlagen ziemlich lose entlang einer eng gewundenen Spirale aufgereiht sind" (Bild 2).
"Na schön. Aber wie erklärt sich die enge Spirale?"
"Später. Kennst du Auguste Bravais?"
"Nein."
"Macht nichts. Franzose, 1781 bis 1863. Er hat die Kristallographie begründet. Und nebenher hat er gemeinsam mit seinem Bruder Louis 1837 ein quantitatives Merkmal an den Pflanzensprossen entdeckt. Die beiden zogen Linien vom Mittelpunkt jeder Blattanlage zum Mittelpunkt des Apex und maßen die Winkel zwischen aufeinanderfolgenden Blattanlagen aus. Schau dir den Winkel zwischen den Blattanlagen 29 und 30 an und den zwischen 30 und 31. Was stellst du fest?" (Bild 2)
Hans-Martin schielte hin. "Die sehen gleich aus."
"Genau. Das gilt so ungefähr für alle Winkel aufeinanderfolgender Blattanlagen. Der Wert heißt Divergenzwinkel. Was meinst du, wie groß er ist?"
"Ziemlich groß. Größer als ein rechter Winkel."
"Gut. Meist liegt er in der Nähe von 137,5 Grad." Margarete blickte sehr selbstgefällig drein, aber Hans-Martin wußte nicht warum und sagte das auch.
"Nimm aufeinanderfolgende Fibonacci-Zahlen", begann Margarete ihre Erklärung.
"34 und 55?"
"Zum Beispiel. Und nun bilde den Bruch 34/55 und multipliziere ihn mit 360 Grad."
Hans-Martin kramte seinen Solar-Taschenrechner aus der Hosentasche. "Hm. Das ergibt 222,5. Na ja, fast."
"Man kann Winkel in zwei Richtungen messen. Wieviel fehlt denn noch an 360 Grad?"
Hans-Martin subtrahierte seinen Wert von 360 und erhielt 137,5 Grad.
"Siehst du. Das Verhältnis aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen geht mit immer größer werdenden Zahlen gegen (SQRT(5)-1)/2, also 0,618034..., und das ist das Verhältnis des Goldenen Schnitts, das mit dem griechischen Symbol f bezeichnet wird."
"Ich dachte, der Goldene Schnitt sei (SQRT(5)+1)/2", widersprach Hans-Martin.
"Manche definieren ihn auch so. Das ist 1,618034... Diese Zahl ist sowohl gleich 1+f als auch gleich 1/f. Wenn du den Kehrwert bildest, also 55/34, dann kommt 1,6176 heraus, und der Grenzwert dieser Verhältnisse für immer größere Paare aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen ist dann 1,618034. Wie auch immer, der Schlüssel zu dem ganzen Rätsel ist der goldene Winkel 360(1-f) Grad, das sind ungefähr 137,50776 Grad. Die Brüder Bravais entdeckten, daß der Winkel zwischen aufeinanderfolgenden Blattanlagen sehr nahe am goldenen Winkel liegt."
"Na schön."
"Wenn du aufeinanderfolgende Punkte mit einem Winkelabstand von 137,5 Grad entlang einer eng gewundenen Spirale aufträgst, bilden sich wie von selbst zwei Familien sich durchdringender Spiralen, weil man mit dem Auge unwillkürlich benachbarte Objekte zusammenfaßt. Und aufgrund der Beziehung zwischen Fibonacci-Zahlen und dem Goldenen Schnitt sind die Anzahlen der Spiralen in den beiden Familien benachbarte Fibonacci-Zahlen."
Hans-Martin sah den Schmetterlingen beim Flattern zu, während er darüber nachdachte. "Also bleibt nur zu erklären, warum die Anlagen im Abstand des goldenen Winkels aufeinanderfolgen?"
"Ja. Vorausgesetzt, man nimmt an, daß aufeinanderfolgende Anlagen an der Kante des Apex entspringen, wie der Heidelberger Botaniker Wilhelm Hofmeister – er lebte von 1824 bis 1877 – im Jahre 1868 vorgeschlagen hat, und dann radial nach außen wandern."
"Aha."
"An dieser Stelle kommt die Theorie von Douady und Couder ins Spiel", erklärte Margarete weiter. "Stell dir vor, die Pflanze wollte ihre Samen möglichst platzsparend packen, aber mit konstantem Divergenzwinkel. Dann ist der goldene Winkel die optimale Lösung, und der n-te Samen – gezählt vom jüngsten bis zum ältesten – liegt in einer Entfernung proportional zur Wurzel aus n."
"Wieso?"
"Angenommen, du stellst dich dumm an und nimmst einen Divergenzwinkel von 180 Grad. Dann würden aufeinanderfolgende Samen- oder Blattanlagen auf zwei gegenüberliegende Strahlen zu liegen kommen, und dazwischen wäre gar nichts. Bei 90 Grad erhältst du vier Strahlen. Und wenn du irgendein rationales Vielfaches von 360 Grad nimmst, also einen Winkel, der sich in der Form 360 p/q mit ganzen Zahlen p und q darstellen läßt, ergeben sich q Strahlen und dazwischen große Lücken."
Hans-Martin nickte. "Das ist nicht besonders platzsparend."
"Allerdings. Für eine effiziente Packung muß der Divergenzwinkel ein irrationales Vielfaches von 360 Grad sein. Je irrationaler, desto besser. Und die Zahlentheoretiker wissen schon seit langem, daß die irrationalste Zahl von allen der Goldene Schnitt ist."
Hans-Martin blickte verständnislos drein. "Was soll das heißen? Zahlen sind entweder irrational oder nicht, oder?"
"Schon. Aber manche sind irrationaler als andere. Es kommt darauf an, wie gut man eine irrationale Zahl durch rationale annähern kann. Das ist für die Zahl f am schwierigsten; denn ihre bestmögliche Approximation ist gerade die durch die Quotienten der Fibonacci-Folge, und die konvergiert langsamer als die rationale Approximation für jede andere irrationale Zahl" (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1994, Seiten 93 und 98).
"Also ist der Goldene Schnitt durch diese mathematische Eigenschaft etwas ganz Besonderes unter den Zahlen."
Blattdynamik mit Verzweigungen
"Gut gesagt", stimmte Margarete zu. "Aber Douady und Couder haben den goldenen Winkel nicht einfach wegen der optimalen Packungsdichte postuliert, sondern als Folge der Dynamik erklärt. Sie konstruierten ein dynamisches System, in dem gewisse Elemente – entsprechend den Blattanlagen – in gleichen Zeitabständen am Rand einer Kreisscheibe – des Apex - entstehen. Diese wandern dann zunächst mit einer Anfangsgeschwindigkeit radial nach außen. Außerdem wirken zwischen ihnen abstoßende Kräfte. Dadurch ergibt sich eine stetige Bewegung, und jedes neue Element entsteht so weit wie möglich entfernt von seinen Vorgängern."
"Du meinst, es kommt in der größten Lücke zum Vorschein?" versuchte Hans-Martin klarzustellen.
"Richtig. Du kannst ziemlich sicher sein, daß ein solches System eine effiziente Packung realisieren wird. Deshalb sollte sich der goldene Winkel von selbst einstellen. Und das tut er auch – aber mit interessanten Variationen."
"Nämlich?"
"Es gibt zwei Möglichkeiten, das herauszufinden. Einmal kann man, wie Douady und Couder, ein Experiment machen. Sie füllten eine kreisförmige Schale mit Silikonöl und stellten sie in ein vertikales Magnetfeld. Dann ließen sie periodisch kleine Tropfen einer magnetischen Flüssigkeit in die Mitte der Schale tropfen. Das Magnetfeld polarisierte die Tropfen, so daß sie einander abstießen. Um eine auswärts gerichtete Kraft auszuüben, machten die Forscher die Feldstärke am Rande der Schale größer als in der Mitte. Je nachdem, wieviel Zeit zwischen aufeinanderfolgenden Tropfen verging, entstanden verschiedenartige Muster. Aber oft lagen die Tropfen auf einer Spirale und waren durch einen Divergenzwinkel von 137,5 Grad getrennt."
"Und die zweite Möglichkeit?"
"Computersimulationen. Die haben Douady und Couder auch gemacht. Es stellte sich heraus, daß der Divergenzwinkel von der Zeitspanne zwischen je zwei Tropfen abhängt, und zwar auf komplizierte Weise. Es ergeben sich mehrere hin- und herschwankende Kurven. Die Stellen, an denen die Kurve die Richtung ändert, entsprechen jeweils einem Zahlenpaar von Spiralenfamilien. Außerdem sind diese Punkte sogenannte Verzweigungspunkte. Eigentlich müßte sich die Kurve dort in Zweige mit wesentlich verschiedenem Verhalten aufteilen. Aber hier ist das zu einem der Zweige gehörige Verhalten instabil, deswegen sieht man ihn nicht. Der Hauptzweig verläuft in der Nähe eines Divergenzwinkels von 137,5 Grad. Wenn du ihn entlanggehst, findest du alle Paare benachbarter Fibonacci-Zahlen in der üblichen Reihenfolge" (Bild 3).
Hans-Martin überlegte eine Zeitlang. "Da sind doch auch Zweige, die nicht in der Nähe von 137,5 Grad liegen."
"Stimmt. Aber der größte von ihnen entspricht der anomalen Folge. Man bekommt also je nach Vorgabe der Zeitabstände die Fibonacci-Regel oder ihre häufigste Ausnahme – die deswegen eigentlich gar keine Ausnahme ist."
"Bis jetzt weiß man das nur durch Experimente – mit den Tröpfchen oder mit dem Computer. Kann man das auch beweisen?" fragte Hans-Martin.
"Ja. Ein theoretischer Physiker namens Hervé Kunz von der Technischen Hochschule Lausanne hat kürzlich einen rein analytischen Beweis gegeben."
"Und die Natur hält sich brav an das mathematische Modell?"
"Nicht genau. Das wäre unüblich. In vielen Pflanzen kann die Bildungsrate für die Blattanlagen während des Wachstums größer oder kleiner werden – zum Beispiel, wenn statt eines gewöhnlichen Blatts ein Blütenblatt heranwächst."
"Also bestimmen die Gene vielleicht diese Bildungsrate?"
"Das sollte man annehmen. Aber die Gene brauchen die Anordnung der Anlagen im einzelnen nicht festzulegen. Das ergibt sich durch die Dynamik von selbst."
"Sag mal – wenn ich diese Sonnenblumenkerne aufesse, werde ich dann besser in Mathematik?"
Literaturhinweise
- The Algorithmic Beauty of Plants. Von Przemyslaw Prusinkiewicz und Aristid Lindenmayer. Springer, 1990.
– Phyllotaxis as a Self-Organized Growth Process. Von Stéphane Douady und Yves Couder in: Growth Patterns in Physical Sciences and Biology. Herausgegeben von Juan M. Garcia-Ruiz und anderen. Plenum Press, 1993.
– La physique des spirales végétales. Von Stéphane Douady und Yves Couder in: La Recherche, Band 24, Heft 250, Seiten 26 bis 35, 1993.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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