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Kernphysik: Supersymmetrie in Atomkernen

Eine theoretisch postulierte Symmetrie, die man an Elementarteilchen erst mit künftigen Beschleunigern nachzuweisen hofft, offenbart sich auf überraschende Weise in den Kernen von Platin und Gold.


Die Supersymmetrie ist zunächst eine für Physiker äußerst reizvolle, aber noch unbewiesene Theorie zur Vereinheitlichung der Elementarteilchen. Diese Symmetrie vertauscht zwei grundverschiedene Sorten von Teilchen gegeneinander: einerseits die so genannten Fermionen, zu denen Elektronen, Protonen, Neutronen und andere Bausteine der Materie zählen, andererseits die Bosonen – beispielsweise Photonen –, die Träger der Naturkräfte. Fermionen sind die geborenen Einzelgänger der Quantenwelt: Niemals besetzen zwei zugleich denselben Quantenzustand. Ihre Abneigung gegen allzu enge Nachbarschaft ist so stark, dass sie einen Neutronenstern davon abhält zu kollabieren, selbst wenn die erdrückende Wucht der Schwerkraft alle anderen Naturkräfte übersteigt. Hingegen sind Bosonen gesellige Zeitgenossen, die sich bereitwillig im gleichen Zustand versammeln. Jedes Boson in einem bestimmten Quantenzustand ermutigt seine Artgenossen, es ihm gleichzutun. Unter geeigneten Bedingungen bilden Bosonen disziplinierte Klon-Armeen – etwa die Photonen in einem Laserstrahl oder die Atome in superflüssigem Helium-4.

Erst im Zauberspiegel der Super-symmetrie sehen abweisende Fermionen aus wie umgängliche Bosonen und umgekehrt. Diese Symmetrie erlaubt es gleichsam, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Bildlich gesprochen nimmt ein Apfel im Spiegel der Supersymmetrie die Gestalt und den Geschmack einer Birne an. Allen gewohnten Symmetrien der Physik fehlt diese Zauberkraft; selbst wenn sie – gleich Zerrspiegeln eines Lachkabinetts – gewöhnliche Elektronen wie geisterhafte Neutrinos aussehen lassen, können sie niemals ein Fermion in ein Boson verwandeln. Das vermag nur die Supersymmetrie.

Dies behaupten jedenfalls die Theoretiker, die sich seit den 1970er Jahren intensiv mit der Vereinheitlichung der Elementarteilchenphysik befassen. Viele hoffen, auf diese Weise im Verständnis der fundamentalen Teilchen und Kräfte einen entscheidenden Schritt weiterzukommen. Experimentalphysiker ihrerseits versuchen, die von der Theorie vorhergesagten supersymmetrischen Teilchen zu finden, indem sie in Beschleunigern heftige Teilchenstöße extrem hoher Energien erzeugen. Doch bislang ist diese Suche vergeblich geblieben.

In den 1980er Jahren vermuteten einige Kernphysiker, dass Supersymmetrie nicht erst künftig bei energiereichen Kollisionen einzelner Elementarteilchen zum Vorschein kommen könnte, sondern vielleicht in anderer Form in bestimmten Atomkernen auftritt. Auch dabei sollte der Zauberspiegel eine Beziehung zwischen physikalisch höchst unterschiedlichen Objekten herstellen – zwischen Kernen mit geraden und ungeraden Nukleonenzahlen. Dabei sind wieder Fermionen und Bosonen im Spiel: Die Nukleonen, das heißt die Kernteilchen Proton und Neutron, sind Fermionen, und ein aus einer ungeraden Zahl von Fermionen zusammengesetztes Teilchen verhält sich insgesamt als Fermion, während aus einer geraden Fermionen-Anzahl ein Boson hervorgeht.

Der Atomkern als Tanzsaal

Um die nukleare Supersymmetrie besser zu verstehen, stellen wir uns an Stelle der Nukleonen, die den Atomkern bilden, einen Saal voller Balltänzer vor. Bei einer geraden Anzahl von Tänzern hat jeder Ballbesucher einen Partner, und das Geschehen lässt sich einfach als das Ver-halten von Tanzpaaren beschreiben. Bei einer ungeraden Anzahl stolpert eine überzählige Person einsam auf dem Tanzboden umher.

Doch im Zauberspiegel der Supersymmetrie sieht diese Person wie ein weiteres Tanzpaar aus, das im Gleichschritt mit allen anderen tanzt. Dementsprechend ist ein Atomkern, der eine ungerade Anzahl von Protonen und Neutronen enthält, supersymmetrisch mit einem Kern verknüpft, dessen Nukleonen samt und sonders gepaart sind.

Tatsächlich haben Experimentalphysiker vor kurzem eine Form dieser außergewöhnlichen Symmetrie an Gold- und Platin-Isotopen beobachtet. Protonen und Neutronen verhalten sich dabei wie zwei getrennte Gruppen von Tänzern – wie zwei Tanzkurse, die im selben Saal üben. Die nukleare Supersymmetrie verknüpft darum nicht nur zwei Varianten, sondern sogar vier: Im ersten Fall haben beide Kurse einen überzähligen Tänzer (ungerade Anzahl an Protonen und Neutronen, kurz uu-Kerne), im zweiten und dritten Fall hat jeweils ein Kurs einen überzähligen Schüler (ungerade Anzahl an Protonen, gerade Neutronenzahl beziehungsweise umgekehrt, ug-Kerne und gu-Kerne), und im vierten Fall geht bei beiden Kursen die Zahl der Tänzer auf (gg-Kerne).

Der Atomkern ist ein faszinierendes Quantensystem, das noch viele Geheimnisse birgt und den experimentellen Kernphysikern seit Jahrzehnten überraschende Entdeckungen beschert. Um alle Facetten der komplizierten Kernphysik zu verstehen, benutzen die Theoretiker eine Vielzahl unterschiedlicher Werkzeuge. Das neue Ergebnis liefert ihnen nun ein weiteres Instrument – und zeigt, dass Supersymmetrie nicht nur eine mathematische Kuriosität ist, sondern tatsächlich in der Natur vorkommt.

Mit den Werkzeugen der Kernforschung lassen sich zudem andere Quantensysteme verstehen, die Atomkernen ähneln: die so genannten endlichen Vielteilchen-Systeme. Sie bestehen – im Unterschied zu einem Festkörper – aus einer begrenzten Anzahl von Atomen oder Molekülen. Solche "mesoskopischen" Systeme aus einigen wenigen bis zu mehreren hundert Teilchen, angesiedelt im Grenzbereich zwischen Mikro- und Makrokosmos, können heute experimentell hergestellt und untersucht werden. Die Supersymmetrie dürfte auch in diesem Bereich eine wichtige Rolle spielen.

Alles Materielle in der Welt besteht aus Atomen – Elektronenwolken, die einen winzigen, aber massereichen Atomkern umgeben. Physiker und Chemiker verstehen inzwischen sehr gut, wie sich die Elektronen anordnen und wie die Eigenschaften der materiellen Welt aus diesen Strukturen hervorgehen. Die Details der Elektronen-Energieniveaus im Atom gehören zu den präzisesten Vorhersagen der Naturwissenschaften. Demgegenüber sind die Atomkerne bisher weitgehend rätselhaft geblieben.

Starke Kräfte im Kern

Das liegt an der fundamental unterschiedlichen Art der Kräfte. Die Elektronen werden durch die relativ schwache elektromagnetische Kraft auf ihren Energieniveaus gehalten. Die im Atomkern dominierende Kraft ist hundertmal stärker – daher der Name starke Kraft. Mathematische Verfahren, welche das Verhalten eher schwacher Kräfte wie der elektromagnetischen erfolgreich beschreiben, versagen bei so starken Wechselwirkungen wie der Kernkraft. Außerdem sind die Elektronen Elementarteilchen ohne innere Struktur, während sich Protonen und Neutronen aus punktförmigen Teilchen – Quarks und Gluonen – zusammensetzen. Die zwischen den Nukleonen wirkende Kernkraft ist daher keine fundamentale Kraft wie der Elektromagnetismus, dessen Gleichungen wir genau kennen, sondern vielmehr Resultat vielfältiger Wechselwirkungen zwischen den Quarks und Gluonen.

Die Kernkraft wirkt über wenige Femtometer (10-15 Meter) stark anziehend und fällt dann rapide auf null ab. Sie packt die Kernteilchen dicht zusammen, und jedes Nukleon steht in starker Wechselwirkung mit allen anderen in seiner Reichweite. Zum Vergleich: Die Elektronenbahnen liegen 10000-mal weiter entfernt. Die resultierende Kernstruktur zählt zu den kompliziertesten Quantensystemen überhaupt, und jahrzehntelang haben die Theoretiker viele Modelle entwickelt, um sie wenigstens näherungsweise zu beschreiben. Einige Modelle behandeln den Kern als ein Tröpfchen aus Quantenflüssigkeit, das auf bestimmte Weise vibrieren und oszillieren kann. Andere kopieren das Modell, das sich so hervorragend für die Elektronenhülle bewährt hat: Die Nukleonen füllen nach und nach Schalen mit diskreten Energien auf, beginnend beim niedrigsten Energieniveau.

Die unterschiedlichen Modelle taugen am besten für bestimmte Klassen von Atomkernen – je nach der Gesamtzahl der beteiligten Nukleonen und je nachdem, wie voll die äußersten Schalen der Protonen und Neutronen sind. Da Protonen und Neutronen jeweils gern Paare mit ihresgleichen bilden, hängt das Verhalten des Kerns empfindlich davon ab, ob er eine gerade oder ungerade Anzahl von Protonen und von Neutronen besitzt (siehe Kasten links). Die gg-Kerne (gerade Anzahl sowohl von Protonen als auch von Neutronen) sind am einfachsten zu beschreiben, gefolgt von den ug- und gu-Kernen. Am schwierigsten zu modellieren sind die uu-Kerne (ungerade Protonen- und Neutronenzahl).

Symmetriebetrachtungen sind ein wichtiges und wirkungsvolles Verfahren, um solche Modelle zu entwickeln. Symmetrieprinzipien tauchen überall in der Physik auf – oft dort, wo man sie gar nicht erwartet. Zum Beispiel folgt der Energieerhaltungssatz aus der Zeitinvarianz der Naturgesetze, das heißt ihrer Symmetrie bezüglich Zeitverschiebung. Die Schalen der Elektronen wie auch die der Nukleonen unterscheiden sich durch Größen wie Drehimpuls und Parität, die mit Symmetrieprinzipien zusammenhängen: Die Drehimpulserhaltung folgt aus der Rotationsinvarianz – der Symmetrie bezüglich Drehungen –, und die Parität gibt Auskunft darüber, ob der Zustand eines Systems oder der Ablauf eines physikalischen Prozesses bei Spiegelung unverändert bleibt.

Eigenbrötlerische Fermionen, konformistische Bosonen

Auch die Gleichungen, die das Verhalten der Elementarteilchen beschreiben, enthalten fundamentale Symmetrien. Zu den wichtigsten Folgen gehört der strikte Gegensatz zwischen Bosonen und Fer-mionen mit ihren völlig unterschiedlichen Symmetrie- und Quanteneigenschaften. Fermionen gehorchen dem Pauli’schen Ausschließungsprinzip, dem zufolge zwei gleichartige Fermionen niemals zugleich denselben Quantenzustand belegen dürfen. Hingegen sind Bosonen geradezu erpicht, sich im selben Zustand zu drängeln.

Helium-4 ist ein Beispiel für ein zusammengesetztes Teilchen, das als Boson bei tiefen Temperaturen dem kollektiven Quantenzustand der Superflüssigkeit zustrebt. Es besteht aus sechs Fer-mionen: zwei Protonen, zwei Neutronen und zwei Elektronen. Die Kernteilchen selbst sind Fermionen, die sich wie-derum aus drei fundamentalen Fermionen, den Quarks, zusammensetzen. Generell gilt, dass eine gerade Anzahl von Fermionen ein zusammengesetztes Boson ergibt, eine ungerade Anzahl dagegen ein zusammengesetztes Fermion.

Herkömmliche Symmetrien ordnen Fermionen und Bosonen jeweils immer nur ihresgleichen zu. Indem die Supersymmetrie Bosonen mit Fermionen verknüpft und umgekehrt, eröffnet sie eine neue Klasse von möglichen Beziehun-gen zwischen den Teilchen. Und die neuartige Mathematik, die in den supersymmetrischen Gleichungen steckt, erweitert die rechnerischen Möglichkeiten für die Beschreibung von Quantensystemen ganz enorm.

Symmetrie spielt auch die Schlüsselrolle im so genannten Modell wechselwirkender Bosonen (Interacting Boson Model), das Akito Arima von der Universität Tokio und Francesco Iachello – damals an der Universität Groningen in den Niederlanden – bereits Mitte der 1970er Jahre vorschlugen (siehe Kasten Seite 36/37). Dieses Modell betrachtet den Atomkern als ein Objekt aus Neutronen- und Protonen-Paaren, die sich wie Bosonen verhalten. Arima und Iachello fanden heraus, dass es in diesem Modell drei verschiedene Typen von gg-Kernen gibt, die jeweils mit einer bestimmten Symmetrie verknüpft sind. Zwei Kern-typen und die zugehörigen Symmetrien waren schon aus den älteren Tröpfchenmodellen bekannt und experimentell erforscht, aber die dritte Symmetrie war noch nie an Kernen beobachtet worden.

Einige Jahre später entdeckten Ri-chard F. Casten und Jolie A. Cizewski, damals am Brookhaven National Laboratory in New Jersey, dass Platin-Kerne tatsächlich die neue Symmetrie zeigen. Das gab dem Modell wechselwirkender Bosonen großen Auftrieb; wie sich schon bald herausstellte, liefert es für viele Atomkerne eine gute Näherung.

Die von diesem Modell vorhergesagten Symmetrien gehören zu einem speziellen Typ, den so genannten dynamischen Symmetrien. Gewöhnliche, nichtdynamische Symmetrien ähneln denen, die uns aus dem Alltag vertraut sind wie die Spiegelsymmetrie zwischen linker und rechter Hand. Dynamische Symmetrien beziehen sich hingegen nicht auf die Objekte selbst, sondern auf die Gleichungen, die ihr dynamisches Verhalten beschreiben. Zum Leidwesen der Experimentalphysiker weist nur eine sehr begrenzte Klasse von Atomkernen dynamische Symmetrien auf.

Das Boson-Wechselwirkungsmodell eignet sich natürlich am besten für die doppelt geradzahligen gg-Kerne. Bei den einfach ungeradzahligen ug- oder gu-Kernen bleibt immer ein ungepaartes Nukleon übrig, gleichsam als unglückliches Mauerblümchen in einem Saal voller Tanzpaare. Das Modell behandelt einen solchen Atomkern als n Bosonen plus ein zusätzliches Fermion – das unpaarige Nukleon. In einigen Fällen lassen sich zwar auch solche Kerne mit dynamischen Symmetrien analysieren, aber das Verfahren ist viel aufwendiger als für gg-Kerne.

Dynamische Supersymmetrien

1980 schlug Iachello, mittlerweile an der Yale University, eine kühne Erweiterung des Modells vor, um ug/gu-Kerne mathematisch eleganter zu beschreiben. Er postulierte einen supersymmetrischen Zusammenhang zwischen dem aus n Bosonen plus einem Fermion bestehenden Atomkern und einem Kern mit n + 1 Bosonen. Falls diese dynamische Supersymmetrie in der Natur vorkommt, müssen die Energieniveaus eines ug/gu-Kerns und seines gg-Nachbarn ähnliche Strukturen aufweisen – zum Beispiel die angeregten Energiezustände von Arsen-75 (33 Protonen, 42 Neutronen) mit denen von Selen-76 (34 Protonen, 42 Neutronen).

Quantenzustände werden durch Quantenzahlen, etwa für den Drehimpuls, charakterisiert und in Gruppen geordnet. Im Rahmen der dynamischen Supersymmetrie würde ein einziger Satz von Quantenzahlen ausreichen, um die Zustände von zwei Atomkernen in verwandte Gruppen einzuordnen. Man könnte von den leichter berechenbaren Zuständen des doppelt geradzahligen Selen-76 ausgehen und die Zustände des ungeraden Arsen-75 vorhersagen – das heißt deren Drehimpulse und ungefähre Energien.

Während der 1980er Jahre sammelten die Experimentalphysiker zwar Kandidaten für dynamische Symmetrien und fanden Hinweise auf Supersymmetrie, aber sie konnten Iachellos Idee nicht zweifelsfrei beweisen. Die Struktur eines ug-Kerns ließ sich nicht vollständig aus den Eigenschaften des assoziierten gg-Kerns herleiten. 1984 entwickelten Piet Van Isacker, Kristiaan L. G. Heyde und ich – damals alle an der Universität Gent in Belgien – gemeinsam mit Alejandro Frank von der Universität von Mexiko eine Erweiterung von Iachellos Supersymmetrie. Unser Modell ermöglicht es, ein Quartett aus vier Atomkernen – ein so genanntes magisches Quadrat – in einem gemeinsamen Rahmen zu beschreiben.

Wir beginnen mit einem gg-Kern, dessen Nukleonen – Protonen wie Neutronen – gepaart sind, der also nach dem Boson-Wechselwirkungsmodell vollstän-dig aus Bosonen aufgebaut ist. Supersymmetrische Transformationen, die ein Boson gegen ein Fermion austauschen, liefern einen ug-Kern (bei Austausch eines Protonenpaars) und einen gu-Kern (bei Austausch eines Neutronenpaars). Werden sowohl ein Protonen- als auch ein Neutronenpaar durch Fermionen ersetzt, ergibt sich ein – doppelt ungerader – uu-Kern.

Für Untersuchungen der Kernstruktur bei niederen Energien sind schwere uu-Kerne mit mehr als hundert Nukleonen die schwierigsten Objekte. Doch wenn die neue dynamische Supersymmetrie in der Natur verwirklicht ist, lässt sich das Energiespektrum des uu-Kerns in einem magischen Quadrat aus den einfacheren Spektren seiner drei Partner ableiten. Der experimentelle Nachweis eines solchen Zusammenhangs ist nicht nur für die Kernphysik wichtig, sondern auch für alle anderen Anwendungen der Supersymmetrie: Ihr mangelt es – obschon von Theoretikern eifrig benutzt – an experimenteller Bestätigung.

Um diese Ideen zu untermauern, benötigten die Wissenschaftler genaue Kenntnisse von schweren uu-Kernen. Viele experimentelle und theoretische Arbeitsgruppen begannen daher weltweit mit entsprechenden Untersuchungen. Sie fanden zwar gewisse Indizien für Supersymmetrie, aber der "heilige Gral" – eine detaillierte Karte der Energiezustände von Gold-196 – blieb unerreicht. Dieser doppelt ungerade Kern aus 79 Protonen und 117 Neutronen gilt aus mehreren Gründen als einer der entscheidenden Tests für die Supersymmetrie in der Kernphysik: So weiß man, dass Kerne aus diesem Bereich (rund 80 Protonen und 120 Neutronen) dynamische Symmetrien aufweisen und gute Kandidaten für Supersymmetrie sind. Insbesondere bieten die Atomkerne von Platin-194 (gg), Platin-195 (gu), Gold-195 (ug) und Gold-196 (uu) die idealen Voraussetzungen für ein "magisches Quadrat". Und schließlich sagten wir 1989 mittels Supersymmetrie zahlreiche Zustände von Gold-196 voraus, die damals noch gar nicht gemessen worden waren – das heißt, neue Experimente konnten die Theorie beweisen oder zu Fall bringen.

Die Physiker bombardieren Atomkerne mit Neutronen oder künstlich beschleunigten Teilchen, um ihr Verhalten zu studieren. Der durch den Stoß angeregte Atomkern kehrt schnell über eine Kaskade von instabilen Zuständen in den Grundzustand zurück; bei jedem Übergang sendet er kurzwellige Gamma- oder Röntgenstrahlung aus, deren Energie der Differenz zwischen den beiden Niveaus entspricht und sehr genau gemessen werden kann.

Das Spektrum eines doppelt ungeraden Kerns ist wegen seiner zahlreichen dicht benachbarten Energiezustände viel komplexer als das eines einfach ungeraden oder doppelt geraden Kerns. Das Gold-196-Isotop wartet mit zusätzlichen Schwierigkeiten auf: Es ist radioaktiv und zerfällt binnen einer Woche, wobei es sich meist durch Einfang eines Elektrons – dabei geht ein Proton in ein Neutron über – in Platin-196 umwandelt. Experimentalphysiker müssen das Isotop also ständig neu erzeugen, indem sie stabile Gold-197-Kerne mit energiereichen Protonen beschießen.

Die Schwierigkeit, die Struktur von Gold-196 aus diesen Messungen abzuleiten, erwies sich als so groß, dass einige Gruppen das Unterfangen aufgaben. Ein Team zog aus den experimentellen Daten sogar den Schluss, die dynamische Supersymmetrie sei gebrochen. An diesem Tiefpunkt schlossen sich Mitte der 1990er Jahre meine Gruppe von der Universität Fribourg (Schweiz), die Gruppe von Christian Günther an der Universität Bonn und die von Gerhard Graw an der Universität München zu einer neuen Kollaboration zusammen. Später unterstützte uns auch noch die Gruppe von Richard F. Casten von der Yale University. Wir planten einen letzten Versuch, die Kernstruktur von Gold-196 aufzuschlüsseln, und zwar mittels der so genannten Spektroskopie im Strahl; dabei wird die Strahlung von Gold-196-Ionen gemessen, die in einem Teilchenstrahl erzeugt werden. Wir benutzten drei Beschleunigeranlagen: das Philips-Zyklotron am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz, das Zyklotron der Universität Bonn und den Tandem-Beschleuniger in Yale.

Aufschlussreiche Transfers

Graws Gruppe führte ein so genanntes Transfer-Experiment aus, das die Gamma-Spektroskopie im Strahl wirkungsvoll ergänzte. Bei einem Transfer-Experiment trifft das Projektil den Target-Kern und entwendet ihm eines seiner Nukleonen. Zurück bleibt ein angeregter Tochterkern (siehe Kasten Seite 38). Das auslaufende Teilchen wird in einem Detektor registriert und seine Energie bestimmt. Aus der Energiebilanz kann dann auf die Anregungsenergie des Tochterkerns geschlossen werden.

Transfer-Experimente liefern andere Daten als die Gamma-Spektroskopie: Sie ergeben direkt die Energie der angeregten Zustände anstelle der vielen Energiedifferenzen zwischen den einzelnen Niveaus. Wenn der Kern mit polarisierten Teilchen beschossen wird, lassen sich außerdem die Drehimpulse der angeregten Zustände aus den Streuwinkeln der Stoßprodukte bestimmen.

Um die sehr eng benachbarten Energieniveaus von Gold-196 aufzulösen, benutzten wir das magnetische Q3D-Spektrometer am Beschleunigerzentrum der Universität München. Bei der Analyse der Transfer-Experimente entdeckten Alexander Metz und seine Mitarbeiter in München, dass der Grundzustand dieses Isotops ein Dublett aus zwei sehr dicht benachbarten Energiezuständen ist. Diese Beobachtung löste die Probleme, an denen die Analyse der Kernzustände mittels Gamma-Spektroskopie zuvor gescheitert war. Die spektroskopischen Untersuchungen lieferten außerdem die Energien der meisten angeregten Zustände. Davon ausgehend konnten wir nun aus den Daten Drehimpuls und Parität jedes angeregten Zustands bestimmen.

Die Resultate stimmten gut mit den Vorhersagen der dynamischen Supersymmetrie überein (siehe Kasten Seite 38). Die Zustände aller vier Kerne des magischen Quadrats aus Platin-194, Platin-195, Gold-195 und Gold-196 können in einem gemeinsamen Satz von supersymmetrischen Quantenzahlen zusammengefasst werden, und ein einzi-ger mathematischer Ausdruck mit nur sechs Parametern liefert recht genau die Energien von fast hundert angeregten Zuständen. Dass dies bei einem der kompliziertesten Atomkerne gelingt, bedeutet eine überzeugende Bestätigung der Theorie – aber auch eine neue Herausfor-derung. Gold-196 kann als Spezialfall eines aus vielen wechselwirkenden Quantenteilchen zusammengesetzten Objekts betrachtet werden. Die theoretischen Physiker möchten nun unter diesem Gesichtspunkt einer Quanten-Vielkörpertheorie erklären, warum die Anregungen von Gold-196 der dynamischen Supersymmetrie gehorchen. Verschiedene Forschergruppen arbeiten intensiv an dieser Frage.

Fermionen-Paare, die sich wie Bosonen verhalten, treten in vielen Bereichen der Physik auf, etwa in der Supraleitung. Auch dort könnte sich – ähnlich wie in Atomkernen – die dynamische Supersymmetrie als nützlich erweisen. Eines ist sicher: Symmetrien, ob "super", "dynamisch" oder ganz normal, werden weiterhin den Tanz der Quantenteilchen dirigieren.

Literaturhinweise


Supersymmetrie bei Atomkernen. Von G. Graw et al. in: Physik in unserer Zeit, Bd. 29, S. 264 (1999).

Supersymmetrie in komplexen Spektren. Von Peter Ring in: Physikalische Blätter, Heft 11, S. 13 (1999).

Nuclear Structure of 196Au: More Evidence for Its Supersymmetric Description. Von J. Gröger et al. in: Physical Review C, Bd. 62, S. 64304 (2000).

Supersymmetry Stands the Test. Von P. V. Isacker in: Physics World, Bd. 12, S. 19 (1999).


In Kürze


- Fermionen und Bosonen sind zwei gegensätzliche Typen von Quantenteilchen. Zu den Fermionen zählen Bausteine der Materie wie Elektronen, Protonen und Neutronen. Zu den Bosonen gehören Quanten der Naturkräfte, etwa die Photonen als Träger der elektromagnetischen Kraft oder die Gluonen als Bindungsteilchen der Quarks.

- Symmetrien spielen in der Physik eine zentrale Rolle. Während alle herkömmlichen Symmetrien den Unterschied zwischen Bosonen und Fermionen respektieren, vertauscht die Supersymmetrie die beiden Teilchenarten. Diese Symmetrie wurde zur Vereinheitlichung der Teilchenphysik postuliert, konnte aber bis-lang an Elementarteilchen nicht experimentell bewiesen werden.

- Im Atomkern bilden Protonen und Neutronen – beides Fermionen – gern Paare, die sich wie Bosonen verhalten. Die Kerne ordnen sich somit in vier unterschiedliche Klassen, je nachdem ob Protonen oder Neutronen oder beide vollständig gepaart sind: gerade-gerade, gerade-ungerade, ungerade-gerade und ungerade-ungerade. Eine Variante der Supersymmetrie kann vier solche Kerne zu einem "magischen Quadrat" verbinden. Diese Erwartung wurde jetzt experimentell bestätigt.


Von Photinos und Selektronen


Im Standardmodell der Teilchenphysik sind sämtliche Partikel, aus denen die Materie besteht, Fermionen: insbesondere die Quarks und Elektronen, aber auch exotische Teilchen wie das Myon, das Tau oder die Neutrinos. Hingegen sind alle Teilchen, die Kräfte übertragen, Bosonen: die Photonen, Gluonen, W- und Z-Teilchen sowie die hypothetischen Gravitonen und Higgs-Teilchen.

Symmetrien bilden die Grundlage des Standardmodells. So sind das Elektron und das zugehörige Neutrino über eine Symmetrie verknüpft, die auch das up- und das down-Quark verbindet. Ein anderer Ausdruck dieser Symmetrie ordnet dem Z-Boson das W-Boson zu. Gluonen unterliegen der Farb-Symmetrie, die auch für die verschiedenen "Farben" gilt, in denen Quarks auftreten können. Doch keine dieser Symmetrien überwindet die grundlegende Trennung zwischen Fermionen und Bosonen – dafür verhalten sich die Quantenzustände der beiden Partikelsorten allzu unterschiedlich.

Dieser Unterschied tritt zu Tage, wenn in einem Mehrteilchen-Quantenzustand zwei identische Teilchen vertauscht werden: Handelt es sich dabei um zwei Bosonen, bleibt der Gesamtzustand unverändert. Doch beim Vertauschen zweier Fermionen wechselt der Zustand sein Vorzeichen; die Folge ist das Pauli-Prinzip, das Fermionen verbietet, identische Zustände einzunehmen.

Um die Teilchenphysik zu vereinheitlichen und mit Einsteins Relativitätstheorie zu verbinden, wurde in den 1970er Jahren die Supersymmetrie entwickelt. Sie fügt jedem Teilchen eine weitere fermionische Komponente hinzu, die ausreicht, um Fermionen und Bosonen auszutauschen. Damit die uns vertrauten Elementarteilchen der Supersymmetrie genügen, benötigen sie jeweils einen "Superpartner" – jedes Boson braucht sein fermionisches Gegenstück und umgekehrt.

Da die bislang entdeckten Teilchen nicht die richtigen Eigenschaften besitzen, um füreinander solche Partner zu sein, müssen weitere Teilchen existieren – das Standardmodell wird zum supersymmetrischen Standardmodell erweitert. Die postulierten fermionischen Teilchen tragen die Namen Photino, Gluino, Wino, Zino, Gravitino und Higgsino. Der Name der bosonischen Superteilchen ergibt sich, indem man dem Namen ihres Partners ein "s" hinzufügt: Selektron, Smyon, Sneutrino, Squark. Keines dieser Teilchen wurde bisher entdeckt.

Die Supersymmetrie der Elementarteilchenphysik erweitert außerdem die Raum-Zeit-Symmetrien, die Einsteins Relativitätstheorie zugrunde liegen. Hingegen hat die nukleare Supersymmetrie überhaupt keinen Bezug zur relativistischen Raum-Zeit, sondern stellt nur Relationen zwischen unterschiedlich aufgebauten Atomkernen her. Die Gemeinsamkeit der beiden Formen von Supersymmetrie besteht darin, dass sie Fermionen mit Bosonen mit Hilfe der gleichen Transformation vertauschen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2002, Seite 34
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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