Direkt zum Inhalt

Teilchen-Metaphysik

Auf der Suche nach einer einheitlichen Theorie aller Naturkräfte stoßen die Physiker in Bereiche vor, die irdischen Experimenten nicht mehr zugänglich sind.

Vor mehr als 150 Jahren bewies der englische Physiker Michael Faraday (1791 bis 1867) mit einigen Experimenten von genialer Einfachheit, daß Elektrizität und Magnetismus zwei Erscheinungsformen derselben Kraft sind. Angespornt durch diesen Erfolg suchte er einen ähnlichen Zusammenhang zwischen Elektromagnetismus und Gravitation – der 150 Jahre zuvor von Isaac Newton (1643 bis 1727) mathematisch beschriebenen Massenanziehung. Obwohl Faradays Bemühungen erfolglos blieben, war er zeit seines Lebens von der Existenz einer einheitlichen Theorie überzeugt.

Heute teilen viele – wenn auch gewiß nicht alle – Physiker Faradays Ansicht, die scheinbar so unterschiedlichen Naturkräfte seien nur Facetten eines einzigen, symmetrischen Juwels. Der Nobelpreisträger Steven Weinberg von der Universität von Texas in Austin schreibt in seinem kürzlich erschienenen Buch "Dreams of a Final Theory" ("Träume von einer endgültigen Theorie"), darin läge die Erfüllung "der uralten Suche nach Prinzipien, die nicht auf tieferliegenden Prinzipien beruhen". Wird vielleicht diese Suche niemals enden?

Zweifellos ist die Physik seit Faradays Zeiten komplizierter geworden. Zu Beginn unseres Jahrhunderts ersetzte Albert Einstein (1879 bis 1955) Newtons einfache Beschreibung der Schwerkraft durch die allgemeine Relativitätstheorie, die das feste Gitter von Raum und Zeit gleichsam in ein dehnbares Gummigewebe verwandelt. Inzwischen hat man außer Gravitation und Elektromagnetismus zwei weitere Kräfte gefunden: die schwache Wechselwirkung, auf der bestimmte Arten radioaktiven Kernzerfalls beruhen, und die starke Kraft, die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhält.

Doch bis vor kurzem schienen die Physiker sich zielstrebig und stetig der Vereinheitlichung zu nähern. Eine Theorie, die Elektromagnetismus und schwache Kernkraft als zwei Aspekte derselben elektroschwachen Kraft beschreibt, ließ sich vor etwa zehn Jahren mit hochleistungsfähigen Teilchenbeschleunigern und Detektoren experimentell bestätigen (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1982, Seite 88, und Dezember 1984, Seite 12). Durch diesen Erfolg ermutigt, entwickelte man mehrere Versionen einer großen einheitlichen Theorie (grand unified theory, kurz GUT), welche die elektroschwache Wechselwirkung und die starke Kernkraft verknüpft.

Man hat sogar Modelle vorgeschlagen, die alle Kräfte einschließlich der Gravitation umfassen. Die Theorien der sogenannten Quantengravitation suchen Quantenmechanik und allgemeine Relativitätstheorie zu verschmelzen – obgleich beide sich so schlecht vertragen wie Öl und Wasser. Mit derart allumfassenden Theorien hofft man die Vorgänge bei der Entstehung des Universums zu erklären, als vermutlich für einen Augenblick nur eine einzige Kraft herrschte.

Obwohl vermeintlich schon zum Greifen nahe, droht das Ziel nun wieder in unerreichbare Ferne zu rücken. Für die Teilchenphysiker in aller Welt war es ein schwerer Schlag, daß der amerikanische Kongreß im vergangenen Oktober den Bau des auf rund 20 Milliarden Mark Kosten veranschlagten Supraleitenden Super-Colliders (SSC; Spektrum der Wissenschaft, Mai 1986, Seite 64) vier Jahre nach Beginn der Arbeiten einstellte (Bild 1). Wie der Nobelpreisträger Leon M. Lederman vom Illinois Institute of Technology in Chicago betont, schreitet die Teilchenphysik fort, indem sie zu immer höheren Energien und kleineren Entfernungen vordringt. Weil der SSC mindestens zwanzigmal so leistungsfähig gewesen wäre wie die verfügbaren Teilchenbeschleuniger, hätte er die Forscher dem Ziel der großen Vereinheitlichung sprunghaft näher gebracht. "Ohne den SSC oder einen ähnlichen Beschleuniger droht das Gebiet zu veröden", sagt Lederman. Zugleich könnte auch die Kosmologie stagnieren, weil sie für die Rekonstruktion der Geschichte des Universums immer mehr auf vereinheitlichte Theorien angewiesen ist.

Doch vielleicht hat das Ende des SSC nur die Einsicht in ein ohnehin unvermeidliches Debakel beschleunigt. Die Fürsprecher unterstellten oft, der SSC würde den Weg zu einer allumfassenden Theorie weisen; das meint schon der Titel von Ledermans neuestem Buch "The God Particle" ("Das Gott-Teilchen"), in dem er noch energisch für den SSC plädiert hatte. Aber auch Lederman räumt ein, daß selbst dieser Beschleuniger um viele Größenordnungen zu klein wäre, die für eine Vereinheitlichung nötigen Energien zu erreichen. Dafür müßte ein Gerät vom Typ des SSC eine Billion Kilometer Umfang haben – sogar Licht würde für einen Umlauf einen Monat brauchen. Um in den Bereich der Quantengravitation vorzudringen, müßte die Kreisbahn sogar 1000 Lichtjahre lang sein. Zum Vergleich: unser Sonnensystem hat einen Umfang von nur einem Lichttag (siehe Kasten auf Seite 56).

Schon vor dem jähen Ende des SSC hatte ein prominenter Theoretiker vorgeschlagen, man solle die Suche nach der einheitlichen Theorie nicht überbetonen, weil die Teilchenphysik damit ohnehin überfordert sei. In einem kürzlich gehaltenen Vortrag bedauerte Howard Georgi von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) sogar geradezu, daß er vor etwa 20 Jahren eine der ersten großen einheitlichen Theorien entworfen hat: "Eine in meinen Augen für die Teilchenphysik schlimme Folge der Anstrengungen zur großen Vereinheitlichung ist, daß es nun als vernünftig – und sogar schick – gilt, wenn ein sogenannter Teilchentheoretiker nur noch über Entfernungen spekuliert, die viel kleiner sind als alles, was wir je im Labor untersuchen können."

Andere haben die Zuversicht in die Ergiebigkeit des Experimentierens nicht aufgegeben – zum Beispiel John Ellis, Theoretiker am CERN, dem Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik bei Genf; er etablierte Mitte der siebziger Jahre die Begriffe grand unification (große Vereinheitlichung) und zehn Jahre später theory of everything (allumfassende Theorie). Ellis betont, daß bei CERN in den nächsten zehn Jahren ein dem SSC fast gleichwertiger Beschleuniger entstehen soll. Bis dahin könne man durchaus Zwischenergebnisse gewinnen – etwa mit hochpräzisen Experimenten an bestehenden Einrichtungen oder durch die Untersuchung von Neutrinos, die trotz der Schwierigkeit, sie in Detektoren nachzuweisen, in vielen einheitlichen Theorien eine wichtige Rolle spielen; und schließlich verspricht er sich erhellende Befunde bei der Beobachtung der kosmischen Hintergrundstrahlung, eines Relikts aus den frühen Phasen des Universums, als Materie und Strahlung sich voneinander trennten.


Auf der Suche nach neuen Ideen

Vielleicht werden eines Tages neuartige Beschleuniger – in denen die Teilchen zum Beispiel gleichsam auf einer Plasmawelle reiten – die Kosten der Ultrahochenergiephysik senken. Außerdem ist immer denkbar, daß ein mathematisch-theoretischer Durchbruch den Forschern auch ohne experimentelle Hinweise zu einem tieferen Verständnis der Naturgesetze verhilft. Doch obwohl Ellis sich als unerschütterlichen Optimisten bezeichnet, rechnet er – wie andere Experten – in nächster Zeit nur mit indirekten Indizien für eine Vereinheitlichung.

In gewissem Sinne sind die Physiker Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Sie haben ein Theoriegebäude errichtet, das die Wechselwirkung von Teilchen außerordentlich genau zu beschreiben vermag. Das sogenannte Standardmodell (oder, nach Michael Dine von der Universität von Kalifornien in Santa Cruz, die "fast allumfassende Theorie") ruht auf dem soliden Fundament der Quantenmechanik – einer radikal neuen Theorie von Materie und Energie, deren Grundstein große Naturforscher wie Niels Bohr (1885 bis 1962), Werner Heisenberg (1901 bis 1976) und Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts legten. In den fünfziger Jahren entwickelten Richard Feynman (1918 bis 1988) und andere daraus eine Theorie des Elektromagnetismus – die Quantenelektrodynamik –, mit der sich praktisch alle chemischen und elektronischen Vorgänge beschreiben lassen.

Im folgenden Jahrzehnt entstand eine Theorie für die starke Kernkraft: Der Quantenchromodynamik (QCD) zufolge bestehen Protonen und Neutronen aus je drei noch elementareren Teilchen, den Quarks, die untereinander durch spezielle Kraft-Quanten, die Gluonen (von englisch glue, Leim), zusammengehalten werden. (Die Silbe "chromo" besagt, daß Quarks sich durch ihre "Farbe" unterscheiden – eine rein quantenmechanische Eigenschaft, die nichts mit üblichen Farben zu tun hat.)

Ein riesiger Schritt zur Vereinheitlichung gelang schließlich in den sechziger Jahren: Weinberg und Sheldon L. Glashow von der Harvard-Universität entwickelten zusammen mit Abdus Salam vom Internationalen Zentrum für theoretische Physik in Triest (Italien) und anderen die Theorie der elektroschwachen Kraft, der zufolge Elektromagnetismus und schwache Kernkraft zwei Erscheinungsformen derselben Wechselwirkung sind. Sowohl die Quantenchromodynamik als auch die elektroschwache Theorie haben sich bei immer strengeren Tests mit großen Beschleunigern – insbesondere dem Stanford Linear Accelerator Center (SLAC) in Kalifornien, dem Fermi National Linear Accelerator Laboratory (Fermilab) in Batavia (Illinois) und bei CERN – hervorragend bewährt.


Jenseits des Standardmodells

Doch kaum hatten die Experimentalphysiker das Standardmodell bestätigt, stellten sie es schon wieder in Frage. Im Jahre 1983 gab Carlo Rubbia bekannt, seine Arbeitsgruppe bei CERN habe nicht nur Z- und W-Teilchen – die Träger der elektroschwachen Kraft – gefunden, sondern auch sogenannte Monojets, deren Existenz dem Standardmodell widerspreche. "Rubbia sagte, CERN habe nicht nur das Standardmodell bestätigt, sondern es auch zu Grabe getragen", zitiert Glashow aus Gesprächen in der Harvard-Universität, an der Rubbia damals als Gastprofessor weilte.

Rubbia erhielt den Nobelpreis für die Entdeckung der Z- und W-Teilchen. Die Monojets erwiesen sich jedoch bald als mit dem Standardmodell vereinbar. Im Scherz meint Glashow, zur Strafe für den voreiligen Nachruf habe Rubbia als CERN-Direktor von 1989 bis Ende 1993 immer genauere Bestätigungen des Standardmodells beaufsichtigen müssen.

Mittlerweile waren die Theoretiker auf der Suche nach einer fundamentaleren Theorie weit über das Standardmodell vorgedrungen. Dabei nutzten sie den Umstand, daß sowohl die Quantenchromodynamik als auch die elektroschwache Theorie sogenannte Eichtheorien sind, bei denen alle Elemente eines Systems unter bestimmten Transformationen – beispielsweise Rotation oder Spiegelung – im wesentlichen unverändert bleiben. Solche Symmetrieeigenschaften sind für viele Teilchenphysiker zum Inbegriff von Wahrheit und Schönheit geworden.

Anfang der siebziger Jahre entwickelten Glashow und sein jüngerer Harvard-Kollege Georgi eine Eichtheorie namens SU(5), aus der sich sowohl die elektroschwache als auch die starke Wechselwirkung ableiten ließ. (Die "5" steht für die Anzahl der Symmetrien.) Diese große einheitliche Theorie – der Begriff stammt nicht von Glashow und Georgi und wird von ihnen abgelehnt – lieferte die zunächst beunruhigende Vorhersage, daß Quarks sich womöglich in Neutrinos, Elektronen und die entsprechenden Antiteilchen umwandeln könnten; das würde heißen, daß die (aus Quarks bestehenden) Protonen instabil wären und irgendwann zerfallen müßten. Obwohl nach späteren Berechnungen von Weinberg, Georgi und Helen Quinn vom SLAC die Lebensdauer eines Protons größer wäre als das Alter der Sonne, läßt sich die Vorhersage durch Beobachten einer genügend großen Anzahl von Protonen experimentell überprüfen (Spektrum der Wissenschaft, August 1985, Seite 112).

Inzwischen hat man weltweit mehr als ein halbes Dutzend Detektoren für Protonenzerfälle gebaut. Die meisten liegen tief unter der Erde, damit möglichst wenig Störsignale durch kosmische Strahlung – hochenergetische Teilchen aus dem All – auftreten. Eines der größten Experimente begann vor etwa zehn Jahren in einem Salzbergwerk bei Cleveland (Ohio): Um ein gigantisches Wasserbassin sind zum Nachweis der winzigen Lichtblitze, die beim Zerfall eines Protons in Wasser entstehen, Photodetektoren angeordnet. Doch bislang hat weder dieses noch ein anderes System einen Protonenzerfall nachgewiesen.

Mangels experimenteller Belege für die SU(5)-Theorie entwickelte man Alternativen, insbesondere die sogenannte Supersymmetrie. Diesem Modell zufolge herrschen zwischen Fermionen (Materie-Teilchen) und Bosonen (Wechselwirkungsquanten) fundamentale Symmetrien, und zu jedem bekannten Teilchen müßte es einen schwereren supersymmetrischen Partner geben. Eine faszinierende Eigenschaft der Theorie ist, daß ihre Leistungsfähigkeit wächst, wenn man zusätzliche Dimensionen einführt. Wie sich einem Astronauten beim Aufstieg von der zweidimensionalen Erdoberfläche die globale Symmetrie unseres Planeten enthüllt, so offenbaren die Teilchenwechselwirkungen erst von einem höherdimensionalen Standpunkt ihre subtile Ordnung (Spektrum der Wissenschaft, August 1986, Seite 68).

Man hat mittels Supersymmetrie verschiedene große Vereinheitlichungen und sogar Quantengravitationstheorien konstruiert – zum Beispiel die Supergravitation; sie verlangt, daß die Schwerkraft-Quanten (die Gravitonen) supersymmetrische Partner (Gravitinos) haben. Noch 1980 schien diese Theorie so vielversprechend, daß Steven W. Hawking von der Universität Cambridge (England) in ihr die langgesuchte "vollständige und einheitliche Theorie der Physik" vermutete.

Doch schon bald geriet die Supergravitation in mathematische Schwierigkeiten, die mit der Definition von Gravitonen als Punkten zusammenhängen. Berechnungen mit punktförmigen Teilchen liefern – wie das Dividieren durch null – unendlich große und somit nichtssagende Resultate. Durch die Eichtheorien hatte dieses Problem sich beim Elektromagnetismus und den Kernkräften umgehen lassen, aber die Gravitation mit ihrer Verzerrung von Raum und Zeit schien einen noch radikaleren Ansatz zu verlangen.

Viele Physiker halten die Theorie der Superstrings für die Lösung. Ihre Anfänge waren eher bescheiden. Anfang der siebziger Jahre schlugen Theoretiker vor, die starke Kernkraft auf die Wechselwirkung saitenähnlicher Teilchen oder Strings zurückzuführen. Wie eine schwingende Violinsaite verschiedene Töne erzeugt, könnten die Vibrationen solcher Strings die unterschiedlichen stark wechselwirkenden Teilchen ergeben.

Dieser Ansatz wurde zugunsten der viel erfolgreicheren Theorie mit Quarks und Gluonen zunächst wieder aufgegeben. Doch Ende der siebziger Jahre gewann die String-Theorie in supersymmetrischer Form durch Arbeiten von Michael B. Green vom Queen-Mary-College in London und John H. Schwarz vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena wieder Attraktivität. Zu ihrem Erstaunen fanden Green und Schwarz heraus, daß supersymmetrische Strings – wenn es sie denn gibt – sämtliche Naturkräfte einschließlich der Schwerkraft zu erzeugen vermögen. Vor allem erledigen sich viele mathematische Probleme der Quantengravitation, wenn man statt punktförmigen Teilchen mehrdimensionale Strings zugrunde legt (Spektrum der Wissenschaft, November 1986, Seite 54).

Die Theorie beruht allerdings auf einigen exotischen Annahmen über die physikalische Realität: Die Strings haben bis zu 26 Dimensionen, und gemessen am Proton sind sie so winzig wie dieses im Vergleich zum Sonnensystem. Dieser Bereich des Allerkleinsten, die sogenannte Planck-Region, ist keinem denkbaren Experiment zugänglich. Dennoch hat die reiche Struktur des Ideengebäudes Physiker und zunehmend auch Mathematiker in ihren Bann gezogen, wozu einfallsreiche Verfechter dieser Vorstellung wie Edward Witten vom Institut für fortgeschrittene Studien in Princeton (New Jersey) wesentlich beitragen.

Doch selbst einem Forscher mit überragenden analytischen Fähigkeiten wie Witten fällt es schwer, die Superstrings mit bekannten physikalischen Phänomenen zu verbinden. Kürzlich hat er eine Brücke zwischen ihnen und Schwarzen Löchern geschlagen – bisher eher eine Domäne der allgemeinen Relativitätstheorie als der Teilchenphysik: Er zeigte 1991, daß sich aus der Superstring-Theorie die Existenz Schwarzer Löcher zumindest in zwei Dimensionen herleiten läßt. Diese Veröffentlichung hat einen bis heute andauernden Schwall theoretischer Arbeiten ausgelöst.

Die Superstrings könnten auch ein Rätsel bei Schwarzen Löchern lösen, auf das Hawking bereits vor zwanzig Jahren hingewiesen hatte. Ihm zufolge strahlen Schwarze Löcher durch Quanteneffekte Energie – und somit Masse – ab, bis sie schließlich verdampft sind. Hawking brachte dies auf die Kurzformel: "Schwarze Löcher sind gar nicht so schwarz."

Da ein Schwarzes Loch zumindest im Prinzip seine eigene Vorgeschichte repräsentiert, käme sein Verdampfen einem endgültigen Informationsverlust gleich – die Vergangenheit wird gleichsam gelöscht. Hawking behauptete unter Zustimmung vieler anderer Theoretiker, er habe ein Paradox entdeckt, das sich nur aufheben lasse, indem man entweder die Quantenmechanik oder die allgemeine Relativitätstheorie abändere. In einem im Oktober 1993 in den "Physical Review Letters" veröffentlichten Beitrag zeigte Leonard Susskind von der Stanford-Universität (Kalifornien), wie sich das Rätsel vielleicht mit Hilfe von Superstrings lösen läßt. Hawkings Paradox entsteht nach Susskind durch eine Annahme aus der allgemeinen Relativitätstheorie: Verschiedene Beobachter machen sich ein und dasselbe Bild davon, wie Information in einem bestimmten Raum- und Zeitbereich gespeichert ist. Doch gemäß der Superstring-Theorie können verschiedene Beobachter unterschiedliche Bilder haben, und für jeden einzelnen Beobachter bleibt die Vergangenheit erhalten.

Kritiker wenden ein, solche Gedankenspiele hätten gar nichts mehr mit Physik zu tun, da sie weit jenseits experimenteller Überprüfbarkeit lägen. Susskind erwidert, physikalischer Fortschritt lasse sich nicht länger in herkömmlichen Bahnen erzielen. "Mir scheint klar, daß die in den letzten 15 bis 20 Jahren gestellten Fragen nicht durch allmählich fortschreitende Experimente zu beantworten sind", konstatiert er. "So wird man nie in die Planck-Region kommen. Wer das nicht einsieht, stellt sich einfach ins Abseits."


Mangel an Daten

Dennoch erhoffen die meisten Theoretiker einen experimentellen Hinweis, daß sie auf der richtigen Fährte sind. Viele warten auf Indizien für Supersymmetrie – eine notwendige (allerdings nicht hinreichende) Voraussetzung für Superstrings. Sowohl am Fermilab als auch bei CERN hat man vergeblich nach entsprechenden Teilchen gesucht.

Einige Physiker behaupten, bei CERN seien bereits gewisse Anzeichen von Supersymmetrie gefunden worden, als man mit hochpräzisen Messungen die Kopplungskonstanten der elektromagnetischen, der schwachen und der starken Wechselwirkung bestimmte. (Die Kopplungskonstante einer Kraft ist ein Maß für ihre Stärke.) Nach den großen einheitlichen Theorien sollen diese drei Größen sich nur bei niedrigen Energien unterscheiden und bei sehr hohen konvergieren. Die CERN-Daten widersprechen der alten SU(5)-Theorie; doch wenn man die Supersymmetrie hinzufügt, passen sie exakt, meint CERN-Forscher Ellis.

Andere Wissenschaftler sind von dieser Interpretation nicht überzeugt. Alvaro de Rújula, ebenfalls Theoretiker bei CERN, betont, daß die hier gemessenen Trends erst dann für Supersymmetrie sprechen, wenn man sie über viele Größenordnungen extrapoliert. Einige seiner Kollegen seien angesichts der dürftigen Beweislage etwas zu sehr in diese Theorie verliebt, meint er und stichelt: "Supersymmetrie und Aberglaube liegen nahe beieinander."

Vielleicht dringt man mit anderen Experimenten schon bald in Neuland jenseits des Standardmodells vor. Am Fermilab wird noch immer nach dem top-Quark gesucht, dem einzigen von dieser Theorie vorhergesagten Teilchen, das sich bisher dem Nachweis entzogen hat. Ein dauerhafter Fehlschlag dieser Suche würde das Standardmodell widerlegen – und wäre gerade darum ein wichtiger Durchbruch, wie José N. Benlloch, einer der Jäger des top-Quark am Fermilab, betont. Doch möglicherweise haben sie im berechneten Energiebereich schon erste Spuren ausgemacht; allgemein wird vermutet, daß sie die Entdeckung des top-Quarks schon bald offiziell bekanntgeben (Bild 2).

Zudem planen sowohl das Fermilab als auch CERN den Ausbau ihrer leistungsstärkeren Beschleuniger. Die Amerikaner möchten die Strahldichte des Tevatron erhöhen (dort werden Protonen und Antiprotonen aufeinander geschossen), und die Europäer wollen die Leistung des großen Elektron-Positron-Colliders (LEP) verdoppeln. Damit würden die Chancen steigen, supersymmetrische Teilchen und vielleicht auch das Higgs-Boson nachzuweisen; dieses – auch theoretisch noch recht ominöse – Teilchen soll für die Symmetriebrechung zwischen Elektromagnetismus und schwacher Kraft verantwortlich sein, die kurz nach dem Urknall eingetreten sein müßte. Außerdem ließe sich mit dem Higgs-Boson erklären, warum die Elementarteilchen so unterschiedliche und scheinbar numerisch beliebige Massen haben (Spektrum der Wissenschaft, Januar 1987, Seite 52).

Von stärkeren Beschleunigern erwarten die Theoretiker ferner neue Erkenntnisse über die Mesonen – extrem kurzlebige Teilchen, die aus einem Quark und einem Antiquark bestehen. Bereits in den sechziger Jahren zeigten Experimente mit K-Mesonen, daß Materie und Antimaterie nicht exakte Spiegelbilder sind, sondern eine subtile Asymmetrie aufweisen.

Einige Theoretiker meinen, daß ohne diese sogenannte Verletzung der Ladungsparität unser Universum gar nicht existieren könnte: Beim Urknall wäre sonst genau gleich viel Materie und Antimaterie entstanden, und beide hätten einander restlos vernichten müssen (Spektrum der Wissenschaft, April 1988, Seite 70). Diese Hypothesen möchte man mit Experimenten an B-Mesonen genauer untersuchen, weil diese vermutlich häufiger die Ladungsparität verletzen als K-Mesonen. Zugleich mit dem Beschluß, den Bau des SSC abzubrechen, genehmigte der amerikanische Kongreß im Herbst 1993 mehr als 400 Millionen Mark für den Bau der sogenannten B-Fabrik, die am SLAC große Mengen solcher Teilchen erzeugen soll. Vielleicht werden die dort gewonnenen Ergebnisse dem Standardmodell widersprechen, das nur eine eng begrenzte Verletzung der Ladungsparität zuläßt.

Neutrino-Experimente

Beschleuniger sind keineswegs die einzigen Mittel zur Stützung und Stimulation fundamentaler Theorien. Neutrino-Observatorien können vor allem kosmologisch bedeutsame Resultate liefern. Neutrinos sind zwar schwer nachzuweisen, weil sie mit gewöhnlicher Materie kaum wechselwirken (ein solches Teilchen vermag zum Beispiel die ganze Erde kollisionslos zu passieren); doch bei der elektroschwachen Kraft und in kosmologischen Theorien spielen sie eine wichtige Rolle. So haben seit den siebziger Jahren unterirdische Detektoren – manche sollten ursprünglich den Protonenzerfall nachweisen – entdeckt, daß die Sonne weniger Neutrinos emittiert, als das Standardmodell vorsieht.

Das Phänomen der fehlenden Sonnen-Neutrinos haben zwei unterirdische Labors bestätigt, die statt Wasser Galliumverbindungen als Detektormaterial verwenden: das Galliumexperiment (GALLEX) tief unter dem Gran-Sasso-Massiv in den italienischen Apenninen und das sowjetisch-amerikanische Galliumexperiment (SAGE) im Kaukasus.

Eine Erklärung wäre, daß die Neutrinos zwischen unterschiedlichen Zuständen oszillieren, so daß Elektron-Neutrinos sich immer wieder in schwerer nachweisbare Neutrino-Typen verwandeln. Diese MSW-Vermutung – benannt nach ihren Urhebern Stanislaw P. Mikhejew und Alexei J. Smirnow von der Akademie der Wissenschaften in Moskau sowie Lincoln Wolfenstein von der Carnegie-Mellon-Universität in Pittsburgh (Pennsylvania) – setzt freilich voraus, daß Neutrinos Masse haben, und dies widerspricht der strengsten Version des Standardmodells.

Der Neutrino-Experte John N. Bahcall vom Institute for Advanced Study verweist darauf, daß das Standardmodell sich für massetragende und oszillierende Neutrinos erweitern läßt (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1990, Seite 76). Andererseits sprengen die bisher beobachteten Werte nicht den Rahmen der großen einheitlichen Theorien (einschließlich der Supersymmetrie). Genauere Untersuchungen könnten nach Bahcall klären, welche der vielen Hypothesen zur großen Vereinheitlichung richtig sind. Falls Neutrinos Masse haben, wären sie ideale Kandidaten für die sogenannte dunkle oder fehlende Materie, die nach Ansicht vieler Kosmologen den größten Teil des Universums ausmacht.

Für die nächsten Jahre werden von außerordentlich empfindlichen Neutrino-Observatorien in Japan und Kanada neue Daten erwartet. Zugleich wird man mit Beschleuniger-Experimenten – unter anderem zweien bei CERN und einem im Gran-Sasso-Laboratorium – versuchen, die Massen der Neutrinos genauer einzugrenzen.

Weinberg warnt jedoch vor großen Hoffnungen. Auch Glashow ist pessimistisch; er bezweifelt, daß man mit niederenergetischen Experimenten noch Widersprüche zum Standardmodell finden werde. In den vergangenen Jahren seien immer wieder solche Entdeckungen angekündigt worden – unter anderem eine gänzlich neue, der Schwerkraft entgegenwirkende fünfte Naturkraft, extrem schwere Neutrinos (mit 17000 Elektronenvolt Masse) und magnetische Monopole. Doch nichts davon habe sich bewahrheitet. Glashow fragt sich sogar, welches Ziel die Gemeinschaft der Hochenergiephysiker überhaupt zusammenhalten soll, bis der nächste große Beschleuniger gebaut ist: "Man wird sich mit uninteressanten Sachen die Zeit vertreiben – auch wenn niemand das zugibt."

Weinberg und Glashow zufolge hätte der Supraleitende Super-Collider die beste Chance geboten, neue und aufregende Physik zu treiben. Mit der gigantischen Maschine, so wurde oft versprochen, wäre endlich das Higgs-Boson nachzuweisen. De Rújula meint aber, daß selbst diese Entdeckung nicht gleich die ganze Physik umwälzen würde; man bekäme zwar eine wichtige Bestätigung für die elektroschwache Theorie, müßte aber andererseits nur das Standardmodell erweitern: "Die Bücher darüber sind längst geschrieben."

Ein viel wichtigeres Ziel des SSC wäre die Bestätigung der Supersymmetrie gewesen, sagt David J. Gross von der Princeton-Universität; er hat an der Entwicklung der Quantenchromodynamik maßgeblich mitgewirkt und ist ein engagierter Verfechter der Superstrings: "Ihr Nachweis hätte die Existenz zusätzlicher Dimensionen bewiesen und unsere Vorstellung von Raum und Zeit erweitert." John P. Preskill vom Caltech hatte sogar gehofft, mit dem SSC würde man etwas ganz und gar Unerwartetes finden und auf diese Weise der Teilchenphysik neuen Schwung verleihen.

Nun setzen die Physiker alle Hoffnungen auf den großen Hadronen-Collider (Large Hadron Collider, LHC), der bei CERN geplant ist und – bei etwas niedrigeren Energien als der SSC – ebenfalls Protonen kollidieren lassen soll. Ursprünglich wollte man ihn noch vor dem SSC fertigstellen und damit vielleicht das Rennen um den Nachweis des Higgs-Bosons gewinnen. Ein Vorzug des LHC ist, daß er in dem bereits vorhandenen 27 Kilometer langen Tunnel installiert werden kann, der den LEP-Collider beherbergt. Bei CERN schätzt man die Baukosten auf rund 5 Milliarden Mark – kaum ein Drittel des Aufwands für den SSC (Bild 3).

Wohl gibt es Befürchtungen, die Europäische Union könnte dem US-Kongreß folgen und eine solche Investition in Grundlagenforschung absagen oder auf unbestimmte Zeit verschieben. Doch Christopher Llewellyn Smith, der Rubbia im Januar 1994 als Generaldirektor des CERN abgelöst hat, ist zuversichtlich, daß der LHC zu Beginn des nächsten Jahrhunderts in Betrieb gehen wird – gerade weil damit ein konkurrenzloses Experimentiergerät zur Verfügung stünde. Zudem gibt es Überlegungen, die Europäer die Kosten nicht allein tragen zu lassen. Zwar gibt Llewellyn Smith zu, daß einige CERN-Mitarbeiter um ihren Einfluß fürchten, falls die USA sich am LHC finanziell beteiligen; doch merkt er an, man habe die moralische Verpflichtung, amerikanische Physiker partizipieren zu lassen.

Llewellyn Smith erwartet, daß der LEP-Collider bis zum Ende des Jahrzehnts und der LHC von 2003 an betrieben wird. Mit diesem Zeitplan könnten die Physiker das vorhandene Gerät vollständig ausnutzen und das neue sorgfältig planen. Viel länger dürfe man indes nicht warten, warnt der CERN-Chef: "Man kann nicht mit einem Experiment anfangen und hoffen, daß die Enkel es zu Ende führen."

Daß dabei bedeutsame Ergebnisse zu erzielen sein werden, vermag freilich niemand zu garantieren. Zwar sind nach Einsteins berühmter Formel E=mc2 Energie (E) und Masse (m) äquivalent (c ist die Lichtgeschwindigkeit); aber die Masse noch unbekannter Teilchen läßt sich nach dem Standardmodell nur schwer abschätzen, so daß man nicht genau weiß, in welchem Energiebereich nach ihnen zu suchen wäre. Und weil der LHC nur ein Drittel soviel Energie aufbringt wie der SSC, ist auch seine Chance, das Higgs-Boson oder supersymmetrische Teilchen – oder etwas gänzlich Unerwartetes – zu finden, entsprechend geringer. Außerdem muß man, um in dem relativ kleinen Tunnel überhaupt die geplanten hohen Energien zu erreichen, bis an die Grenzen der Technik supraleitender Magnete gehen. Dennoch unterstützen die amerikanischen Physiker inzwischen das Projekt, das sie einst zugunsten ihrer Supermaschine abzuwerten suchten. Der LHC, sagt Weinberg, "ist jetzt unsere größte Hoffnung".


Ersehnte Überraschungen

Einige Forscher versprechen sich unabhängig von aufwendigen Experimenten einen dramatischen Fortschritt der physikalischen Theorie, vor allem in Richtung Quantengravitation. Witten zum Beispiel erwartet einen solchen Durchbruch von der Aufdeckung der "geometrischen Grundprinzipien" der Superstring-Theorie.

Aber selbst Sidney R. Coleman von der Harvard-Universität, der für seine Arbeiten über höchst spekulative Phänomene wie Parallel-Universen und Wurmlöcher (hypothetische Löcher im Gewebe von Raum und Zeit) bekannt ist, hält solche Szenarios für Wunschbilder. Das Experiment sei die Quelle wissenschaftlicher Vorstellungskraft: "Durch bloßes Nachdenken", betont er, "haben es alle Philosophen der Welt auch in Tausenden von Jahren nicht geschafft, zur Quantenmechanik zu gelangen" (siehe Kasten auf Seite 60).

Samuel C. Ting, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und bei CERN Chef des größten LEP-Detektors, verweist ebenfalls darauf, daß in diesem Jahrhundert die Fortschritte der Physik praktisch immer von einem völlig unerwarteten experimentellen Resultat ausgegangen seien; nur mit der Antimaterie – von Paul Dirac (1902 bis 1984) im Jahre 1930 vorhergesagt – und den von Weinberg und anderen postulierten Z- und W-Teilchen habe es sich ausnahmsweise anders zugetragen. Als demgegenüber typischen Fall führt Ting die Paritätsverletzung an, eine subtile Links-Rechts-Asymmetrie im Verhalten bestimmter Teilchen: Ihre experimentelle Entdeckung in den fünfziger Jahren war nicht nur eine sensationelle Überraschung; vielmehr galt eine solche Komplikation nach allen damals bekannten physikalischen Gesetzen sogar als verboten. "Mehr als weitere Theorien brauchen wir revolutionäre Ideen für Beschleuniger", folgert Ting und kritisiert, daß die meisten Universitäten keine Vorlesungen darüber anbieten.


Neuartige Maschinen – bleibende Zweifel

Seit einiger Zeit plant man tatsächlich ein Großgerät, das zwar weniger leistungsfähig wäre als der SSC, dafür aber präzisere Daten liefern könnte. An diesem Projekt namens Nächster Linear-Collider (NLC) arbeiten Physiker aus den USA, Europa und Asien zusammen. Statt in einer Ringröhre sollen Elektronen und Positronen auf einer etwa zwanzig Kilometer langen geraden Bahn beschleunigt und frontal gegeneinander geschossen werden. Um ein Fiasko wie beim SSC zu vermeiden, will man außer den technischen auch die politischen und finanziellen Grundlagen schon vor Baubeginn in internationaler Kooperation absichern.

Unkonventionelle Beschleuniger-Konzepte werden vor allem an der Universität von Kalifornien in Los Angeles und am US-Nationallaboratorium in Argonne (Illinois) erforscht. Bei der sogenannten Schwebungsfeld-Methode schickt man einen Laserpuls durch eine Plasmakammer (darin sind die Gasatome durch hohe Temperatur in Elektronen und positiv geladene Ionen dissoziiert). Der elektromagnetische Puls erzeugt eine Plasmawelle, auf der die Elektronen gleichsam reiten und dabei hohe Energien erreichen können.

Ähnlich funktioniert die Nachlauffeld-Methode, nur daß die Welle statt mit einem Laser mit einem Elektronenstrahl erzeugt wird (Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, Seite 88). James D. Simpson vom Argonne-Laboratorium schätzt allerdings, daß diese Techniken frühestens in 15 bis 20 Jahren anwendungsreif sein werden (Bild 4).

Viele amerikanische Physiker sind gleichwohl resignativ gestimmt. Georgi betont, daß keine denkbare Maschine die große oder gar die vollständige Vereinheitlichung direkt zu beweisen vermöge; von Experimenten seien bestenfalls Indizien zu erwarten. "In den vergangenen Jahrzehnten sind wir verwöhnt worden", konstatiert er, "wir hatten stets zahlreiche und völlig überzeugende Meßwerte. Jetzt werden wir uns wohl mit Daten zufrieden geben müssen, die nur die bereits Überzeugten beeindrucken." Er sieht darin ein prinzipielles Problem: "Wir stoßen gegen eine fundamentale Grenze der Natur" (siehe auch den Kasten auf Seite 61).

Selbst Lederman, der als unermüdlicher Verfechter naturwissenschaftlicher Bildung noch immer Anfängervorlesungen in Physik hält, vermag seinen Studenten nicht viel Mut zu machen. "Als angehender Wissenschaftler", räumt er gesprächsweise ein, "würde ich mich heute auf Hirnforschung, Chaostheorie oder Informatik verlegen."

Andere Forscher, vor allem in Europa, sehen eher Herausforderungen statt Sackgassen. Ugo Amaldi vom CERN mag nicht von einer Krise sprechen: "Jeden Tag brauchen wir neue Ideen für neue Bilder der Natur." Und de Rújula findet, die Physiker sollten lieber dankbar sein, daß sie nicht kurz vor Entdeckung einer endgültigen Theorie stünden. Der finale Schritt "wäre deprimierend", erläutert er, weil sich dann "Wissenschaft in Liturgie verwandeln würde".

Schwärmerisch und erwartungsfroh hatte hingegen Faraday darüber nachgesonnen, warum die Vorstellung, daß eine einzige Kraft die Natur regiere, so schwer aufzugeben ist: "Wenn diese Hoffnung sich erfüllen sollte – wie groß, mächtig und erhaben in ihrem bislang unveränderlichen Wesen ist dann die Kraft, die ich zu erforschen suche, und wie riesig mag das neue Wissensgebiet sein, das sich vielleicht dem menschlichen Geist eröffnet?"

Literaturhinweise

- Theorien für Alles. Die philosophischen Ansätze der modernen Physik. Von John D. Barrow. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1992.

– Kosmologie und Teilchenphysik. Mit einer Einführung von Immo Appenzeller. Spektrum der Wissenschaft: Verständliche Forschung. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1990.

– Dreams of a Final Theory. Von Steven Weinberg. Pantheon Books, 1992.

– The End of Physics: The Myth of a Unified Theory. Von David Lindley. Basic Books, 1993.

– The God Particle: If the Universe Is the Answer, What Is the Question? Von Leon Lederman und Dick Teresi. Houghton Mifflin Company, 1993.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum Kompakt – 70 Jahre CERN - Ein europäisches Erfolgsmodell

Nach dem zweiten Weltkrieg vereinte das CERN Forscherinnen und Forscher aus vielen Ländern, um die Geheimnisse der Teilchenphysik zu ergründen. Seine Erfolge lassen sich in Nobelpreisen und Entdeckungen wie dem Higgs-Boson verzeichnen, jedoch auch in einer beeindruckenden Forschungskultur.

Spektrum der Wissenschaft – Vielfältige Quanten

Wir tauchen ein in die Welt der Quanten, die uns noch immer zahlreiche Rätsel aufgibt. Forscher entwickeln ständig neue Modelle und hinterfragen Grundlegendes, wie beispielsweise das Konzept der Zeit. Gleichzeitig macht die Entwicklung neuer Quantencomputer große Fortschritte und könnte unsere Verschlüsselungssysteme bedrohen. Experten arbeiten an neuen Methoden, um unsere Daten zu schützen. Erfahren Sie, wie diese Herausforderungen gemeistert werden und ob Kryptografen den Wettlauf gegen die Zeit gewinnen können.

Spektrum Kompakt – Rätsel der Teilchenphysik

Das Standardmodell sollte das Universum erklären, doch manche Fragen bleiben offen. Um Antworten zu erhalten, werden aufwändige Untersuchungen durchgeführt: zu der Masse von Neutrinos, dem Rätsel der Dunklen Materie und warum sich Materie über Antimaterie durchsetzte.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.