Neuropsychologie: Das Wie und Was des Sehens
Als die Neuropsychologen Melvyn Goodale und David Milner Anfang der 1990er Jahre ihre Forschungen zum menschlichen Sehsystem veröffentlichten, dachten sie nicht im Traum daran, dass sie unser Wissen über die Funktionsweise des Gehirns revolutionieren würden. »Es war einfach naheliegend, dass unser Denkorgan über ein einziges Werkzeug verfügt, um visuelle Reize zu verarbeiten«, erklärt Milner. »Schließlich machen wir uns auch nur ein Bild der Welt. Doch das Offensichtliche stimmt eben nicht immer.«
Tatsächlich besitzt das Gehirn nicht bloß ein visuelles System, sondern zwei, die weitgehend unabhängig voneinander arbeiten und verschiedene Aufgaben erfüllen. Diese Erkenntnis geht maßgeblich auf Milner und Goodale zurück.
Ersterer forschte und lehrte viele Jahrzehnte lang an der University of St Andrews in Schottland, wo auch sein Kollege Melvyn Goodale Ende der 1970er Jahre seine ersten akademischen Meriten verdiente. Später wechselte Goodale an die University of Western Ontario in Kanada, doch die beiden Forscher blieben in engem Kontakt. Im Jahr 1988 lernten sie die Patientin D. F. kennen, eine Frau mit einer ganz und gar ungewöhnlichen Störung. Durch eine Kohlenmonoxidvergiftung auf Grund eines defekten Durchlauferhitzers war ihre Großhirnrinde (Kortex) beidseitig an fast der gleichen Stelle geschädigt, der Rest ihres Gehirns war jedoch intakt geblieben. Wie so oft in der Neuropsychologie – jener Forschungsdisziplin, die sich mit der Beziehung zwischen geistigen Funktionen und dem Gehirn beschäftigt – war es also ein klinischer Fall, der einen wichtigen Schlüssel zum Verständnis der visuellen Sinnesverarbeitung lieferte ...
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben