Porträt: Die Gesichtsspezialistin
Doris Tsaos Karriere nahm ihren Anfang mit dem Entschlüsseln von Gesichtern – doch im September 2018 musste die Wissenschaftlerin selbst ein paar Wochen lang versuchen, ihren Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Sie war gerade mit einem Stipendium der US-amerikanischen MacArthur Foundation ausgezeichnet worden, eine Ehre, die mit mehr als einer halben Million US-Dollar verbunden ist, über die der Empfänger nach Belieben verfügen kann. Aber Tsao durfte kein Sterbenswörtchen darüber verraten und sich nichts anmerken lassen, selbst als die Stiftung eine Filmcrew in ihr Labor am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena schickte.
2017 hat Tsao herausgefunden, wie das Gehirn Gesichter anhand einer Vielzahl winziger Unterschiede in Formen, Abständen zwischen Merkmalen, Farbtönen und Texturen erkennt. Doch sie will nicht bloß als die Forscherin in Erinnerung bleiben, die den »Gesichtscode« geknackt hat. Er sei nur ein Mittel zum Zweck, sagt sie, um die Frage zu beantworten, die sie eigentlich umtreibt: Wie erschafft das Gehirn ein vollständiges, kohärentes Modell von der Welt um uns herum?
Tsao kam schon früh mit Wissenschaft in Berührung. Ihre Mutter arbeitete als Programmiererin, ihr Vater erforschte das so genannte maschinelle Sehen. Die Familie wanderte aus Changzhou in China in die Vereinigten Staaten ein, als Tsao gerade einmal vier Jahre war, »um ein besseres Leben mit mehr Möglichkeiten führen zu können«, wie sie erklärt. »Mein Vater ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum ich mich mit dem Sehvermögen beschäftige, auch wenn ich oft versuche, das zu leugnen.« Als sie in der Highschool war, diskutierte sie mit ihm über mathematische Theorien zu der Frage, wie das Gehirn verschiedene optische Eindrücke verarbeitet. »Er hat dazu beigetragen, die Idee in meinem Kopf zu verankern, dass unsere Fähigkeit zu sehen eine umfassende Erklärung benötigt.« …
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