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Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften: Wie man Motive in Zahlen ausdrückt

Beide Preisträger befassen sich mit Mikro-Ökonometrie: der Kunst, wirtschaftliches Verhalten im Kleinen mathematisch zu modellieren und daraus gesamtwirtschaftliche Schlussfolgerungen zu ziehen.


Viele einzelne Autos machen zusammen einen großen Stau. Da das für keinen der Beteiligten ein Genuss ist, muss jeder gute Gründe haben, sich trotzdem täglich neu für das Auto als Transportmittel zu entscheiden. Wüßten die Verkehrsplaner über diese Gründe genauer Bescheid, könnten sie abschätzen, was die Leute veranlassen würde, andere Wege oder andere Verkehrsmittel zu wählen. Ähnlich große praktische Bedeutung haben die persönlichen Motive für die Wahl des Wohnorts oder für die Entscheidung, eine Arbeit aufzunehmen oder nicht.

Wie erfährt man diese Motive? Man kann die Leute fragen; aber das ist mühsam und fehlerträchtig. Es gibt praktisch immer wesentliche Dinge, die man durch Fragen nicht herausbekommt, entweder weil die Befragten selbst nicht so genau wissen, was sie wollen und warum sie etwas wollen, oder weil aus prinzipiellen Gründen die Antwort auf manche wesentlichen Fragen nicht existiert. Aus Daten über einzelne wirtschaftliche Entscheidungen von Personen oder Haushalten die richtigen Schlüsse zu ziehen ist schwer; das Problem verlangt nach mathematischer Modellbildung.

Die Träger des diesjährigen Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften haben wesentliche Beiträge zu dieser Kunst geleistet. James J. Heckman, geboren 1944 in Chicago, promovierte 1971 an der Universität Princeton und ist seit 1995 Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Chicago. Daniel McFadden, Jahrgang 1937, hat 1962 an der Universität von Minnesota in Minneapolis (wo er zunächst Physik studiert hatte) promoviert und ist seit 1990 Professor an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Die Ergebnisse ihrer Arbeit haben häufig unmittelbare Bedeutung für politische Entscheidungen; so verwundert es nicht, dass beeindruckend viele nationale und internationale Organisationen ihre Dienste als Berater in Anspruch nehmen.

Maximierung von Nutzen


Was will der einzelne Mensch? Das klassische Modell sagt: Er will aus der jeweiligen Situation das Beste für sich herausholen, seinen "Nutzen maximieren". Dabei ist dieser Nutzen, zumindest im Prinzip, berechenbar. Ich drücke zum Beispiel in Geld aus, was mir der Genuss eines guten Essens oder eines Kunstwerks, der Besitz eines Autos, ein Wochenende Angeln in der Natur oder schlicht die freie Verfügung über eine gewisse Menge Zeit wert ist. Unter den mir zur Verfügung stehenden Alternativen wähle ich die aus, die den Gesamtnutzen maximiert, sprich die Summe dessen, was ich genieße, minus die Summe dessen, was ich dafür aufwende.

Zwar rechnet niemand solche Nutzenfunktionen aus, bevor er die Entscheidung zwischen Currywurst und Hamburger trifft. Gleichwohl kann hinter ökonomischen Entscheidungen aller Art eine unbewusste Nutzenfunktion stecken. Der Wirtschaftswissenschaftler muss sie nur erschließen. Dabei unterstellt er üblicherweise, dass sie eine bestimmte mathematische Form hat, in der lediglich gewisse Parameter zu bestimmen sind.

Interessant sind am Ende der Durchschnittswerte für größere Menschengruppen. Die Kenntnis solcher gemittelter Nutzenfunktionen könnte Planern aller Art drängende Fragen beantworten. Wie würden die Leute ein wirtschaftliches Gut bewerten, das es noch nicht gibt, zum Beispiel eine neue U-Bahn-Linie oder einen Freizeitpark? Würde ein Altenheim genügend Bewohner finden? Ist eine bestimmte Fortbildungsmaßnahme für Arbeitslose sinnvoll?

James Heckman hat für den so genannten selection bias, die Verfälschung durch nicht-repräsentative Stichproben, mathematische Modelle und Korrekturen entwickelt. Die "Heckman-Korrektur" gehört heute zur Standardausstattung der angewandten Mikro-Ökonometrie.

Ein Beispiel: Von 1000 arbeitslosen Teilnehmern einer Fortbildungsmaßnahme haben ein halbes Jahr später 600 Arbeit gefunden, während es unter 1000 zufällig herausgegriffenen Arbeitslosen nur 400 waren. Das Fortbildungsprogramm war ein Erfolg, sollte man meinen. Doch das ist ein Fehlschluss. Denn die Teilnehmer des Programms hatten sich um die Teilnahme beworben und/oder waren vom Arbeitsamt als geeignete Kandidaten ausgewählt worden. Sie sind also nicht etwa eine Zufallsstichprobe aus der Gesamtheit aller Arbeitslosen, sondern eine Auswahl der Motivierteren und/oder Geeigneteren. Möglicherweise erklärt bereits dieser Effekt ihren größeren Erfolg auf dem Arbeitsmarkt, und man hätte sich die ganze Fortbildungsmaßnahme sparen können.

Programme dieser Art sind also regelmäßig weniger erfolgreich, als es den Anschein hat – aber um wie viel? Um das einzuschätzen, bedarf es einer zusätzlichen Information. Idealerweise kommt sie aus einem Experiment, das in seiner Anlage dem medizinischen Doppelblindversuch gleicht: Man teilt die Kandidaten für die Maßnahme, das heißt, diejenigen, die sich gemeldet haben und für geeignet befunden wurden, nach dem Zufallsprinzip in zwei gleich große Gruppen, von denen nur die eine in den Genuss der Fortbildung kommt, und vergleicht ein halbes Jahr später den Erfolg von Teilnehmer- und Kontrollgruppe. Solche Experimente sind in der Tat durchgeführt worden, aber wegen des hohen Aufwands eher die Ausnahme.

Alternativ kann man im Nachhinein eine Art Ersatz für die Kontrollgruppe konstruieren, indem man zu jedem Teilnehmer eine andere Person aus der Grundgesamtheit sucht, die dem Teilnehmer in möglichst allen beobachtbaren Daten wie Alter, Geschlecht, Vorbildung und Berufserfahrung gleicht. Wenn auch diese Daten nicht verfügbar sind, bleibt immer noch ein mathematischer Modellierungsansatz. Es gibt die beobachtete Zufalls-variable "Arbeitsmarkterfolg" und die unbeobachtete Variable "Motivation". Die beiden sind nicht unabhängig voneinander – das ist ja gerade das Problem –, aber man kann über ihre gemeinsame Verteilung plausible Annahmen machen. Daraus ergibt sich über einen mathematischen Formalismus die Heckman-Korrektur. Sie ist zwar so unsicher wie die Annahmen über die gemeinsame Verteilung; aber diese können ja über andere Informationsquellen erhärtet werden.

Heckmans Methoden sind sogar dann noch anwendbar, wenn sich gewisse Daten aus prinzipiellen Gründen überhaupt nicht gewinnen lassen. Seine ersten Arbeiten aus den siebziger Jahren über den selection bias befassen sich mit der Abhängigkeit des Gehalts von der Qualifikation bei arbeitenden Ehefrauen. Wenn eine Frau die Wahl hat, eine bezahlte Arbeit anzunehmen oder nicht, wird sie sich nur dann dafür entscheiden, wenn der gebotene Stundenlohn den Wert übersteigt, den sie einer Stunde frei verfügbarer Zeit zuschreibt. Freilich lässt sich die Variable "Stundenlohn" nur bei den Frauen ermitteln, die tatsächlich eine bezahlte Arbeit haben; dies ist jedoch eine nicht-repräsentative Stichprobe aus der Gesamtheit aller Ehefrauen; denn höchstwahrscheinlich sind die berufliche Qualifikation und die Neigung, eine bezahlte Arbeit anzunehmen, nicht unabhängig voneinander.

Noch eindeutiger liegt der Fall bei konkurrierenden Risiken. Eine Maschine kann aus verschiedenen Gründen versagen; für jeden dieser Defekte gibt es in der Theorie eine andere Wahrscheinlichkeitsverteilung. Beobachten kann man jedoch immer nur den Fehler, der zuerst auftritt; hinterher läuft die Maschine ja nicht mehr. Heckman hat Bedingungen angegeben, unter denen sich gleichwohl die Wirkungen der verschiedenen Risiken voneinander trennen lassen. Das Modell ist so allgemein gefasst, dass es ohne weiteres auch auf die Arbeitslosigkeit und die verschiedenen Ausgänge aus diesem Zustand – Beschäftigung oder Vorruhestand – anwendbar ist, oder auch auf das Leben und verschiedene Todesursachen. Im Rahmen des Modells wird die Lebenszeit konsequenterweise als "Wartezeit auf den Tod" bezeichnet.

Was kostet die Umwelt?


Ausgangspunkt von Daniel McFaddens – ebenfalls sehr umfangreichem – Werk ist die Modellierung der Wahl zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln, allgemeiner: zwischen mehreren einander ausschließenden Alternativen. Jeder Einzelne entscheidet sich für eine der Möglichkeiten, und der Beobachter weiß zunächst nur, dass es diejenige ist, welche die individuelle Nutzenfunktion dieses Menschen maximiert. Wie der die anderen Möglichkeiten bewertet, weiß er vielleicht selber nicht so genau. Es ist bereits schwierig, dazu die richtigen Fragen zu stellen.

Jedenfalls hängt die individuelle Nutzenfunktion sicher nicht nur von äußeren, beobachtbaren Größen ab wie – im Verkehrsbeispiel – der Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort oder dem Stundenlohn (als Maß für den Wert der eigenen Zeit). Sonst würden sich alle Leute mit den gleichen äußeren Eigenschaften gleich verhalten, was offensichtlich nicht der Fall ist. McFadden zerlegte die hypothetische Nutzenfunktion in einen allgemeinen Teil, der nur von den äußeren Eigenschaften abhängt, plus eine individuelle Komponente, die persönliche Vorlieben und unbeobachtete Daten wiedergibt; sie wird als Zufallsvariable aufgefasst. Mit diesem Kunstgriff gelang es ihm, eine Formel aufzustellen, mit der sich anhand der Daten die unbekannten Parameter der Nutzenfunktion abschätzen lassen. Diese conditional logit analysis gehört mittlerweile ebenfalls zum Standardrüstzeug der Ökonometriker.

Geschult in der Kunst, aus den Menschen Nutzenfunktionen herauszufragen, die diese selber nicht bewusst kennen, arbeitete McFadden in den letzten Jahren an einem Problem, das durch das Tankerunglück der "Exxon Valdez" vor Alaska große Aktualität bekam: Wie bewertet man – in Dollar – den Schaden, den das auslaufende Öl der Umwelt zufügte, und damit die Summe, welche die Ölgesellschaft über die unmittelbaren Kosten der Reinigung hinaus zu zahlen hat? Soweit die Nutzenfunktionen konkreter Menschen wie Fischer oder Touristen beeinträchtigt wurden, ist eine Berechnung des Schadens zwar schwierig, aber theoretisch immerhin möglich. Am schlimmsten getroffen wurde jedoch zweifellos die Umwelt allgemein.

Auf die Frage "Was kostet die Welt?" ist eine denkbare Antwort: "so viel, wie die Menschen dafür zu bezahlen bereit sind" (Spektrum der Wissenschaft, Juli 1997, S. 21). Da aber ein Mensch ein Gut wie intakte Umwelt noch nie gekauft hat, wird er sich über einen angemessenen Preis im Unklaren sein. Nach welchen Kriterien wird er ihn festlegen?

McFadden schlägt einen einfachen Test vor. Man frage seinen Nachbarn, für wie viel Geld er bereit wäre, auf sein Wahlrecht zu verzichten, und wie viel er für sein Wahlrecht bezahlen würde, sofern es von der Entrichtung einer Kopfsteuer abhinge. In praktisch allen Fällen wird der erste Betrag weitaus höher liegen als der zweite. Das ist vom Nutzenstandpunkt aus paradox, da beide Situationen äquivalent sind. Also zeigt der Test, dass die Menschen in dieser ungewohnten Situation nicht nach Nutzengesichtspunkten entscheiden, sondern nach Prinzipien, etwa: Das Wahlrecht kann mir niemand wegnehmen, und wenn doch, dann nur zu einem hohen Preis. Andererseits: Das Wahlrecht darf nichts kosten, und wenn doch, dann nur sehr wenig.

Entsprechend wird man auf die Frage nach dem Preis der Umwelt eher eine prinzipienbestimmte Antwort erhalten als eine, die den Nutzen bewertet. Und damit hat ein Meister der ökonomischen Theorie höchstselbst die Grenzen ihrer Grundannahmen an entscheidender Stelle aufgezeigt.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2000, Seite 20
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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