Künstliche Intelligenz: Algorithmus geht Lernschwierigkeiten bei Schülern auf den Grund
Wenn Forscher Kinder untersuchen wollen, die mit dem Schulstoff Schwierigkeiten haben, dann suchen sie sich meist Heranwachsende heraus, die bereits eine bestimmte Art Lernschwierigkeit oder Verhaltensauffälligkeit diagnostiziert bekommen haben: eine Lese-Rechtschreib-Schwäche, eine Rechenschwäche oder vielleicht auch ADHS. Wissenschaftler um Duncan E. Astle von der University of Cambridge sind nun einem gänzlich anderen Ansatz gefolgt: Sie rekrutierten Kinder, die in der Vergangenheit ganz verschiedene Diagnosen erhalten hatten, und ließen einen selbstlernenden Computeralgorithmus die Daten der Probanden unter die Lupe nehmen. So gelang es ihnen am Ende, vier neue Cluster von Lernschwierigkeiten aufzudecken, die mit den Ausgangsdiagnosen der Schüler allerdings nur wenig gemein hatten.
Astle und seine Kollegen fütterten ihr Programm mit den Daten von insgesamt 530 Kindern, die an das Centre for Attention Learning and Memory der Universität verwiesen worden waren, weil sie Probleme mit Sprache, Gedächtnis oder Aufmerksamkeit hatten – oder schlicht nur dürftige Fortschritte in der Schule machten. Alle Teilnehmer durchliefen eine Reihe kognitiver Tests, die etwa das Leseverständnis der Schüler ermittelten, ihre räumliche Vorstellungskraft, ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen, sowie ihr Vokabular. Die Aufgabe des Algorithmus war es nun, zu ermitteln, wie sich die Kinder anhand ihrer Testergebnisse am besten klassifizieren ließen.
Am Ende kam der Computer zu einem deutlich anderen Ergebnis als die zahlreichen Experten, die sich seit Langem mit der Definition und Abgrenzung verschiedener Störungsbilder beschäftigen: Er teilte die Kinder nämlich lediglich in vier verschiedene Gruppen auf. In der ersten Gruppe befanden sich Schüler mit breit gefächerten kognitiven Einschränkungen und gravierenden Problemen im Lesen, Buchstabieren und Rechnen. Die zweite Gruppe bildeten Kinder, die Schwierigkeiten mit ihrem Arbeitsgedächtnis hatten; die dritte solche, die Probleme damit hatten, die einzelnen Laute in Wörtern zu verarbeiten. In der vierten Gruppe tummelten sich schließlich Schüler mit kognitiven Skills und Lernprofilen, die für ihr Alter nicht weiter aus dem Rahmen fielen. Hirnscans, die Forscher von einem Teil der Versuchspersonen anfertigten, stützten die Klassifizierung des Algorithmus ebenfalls.
Mit diesem Ansatz stießen die Wissenschaftler auf diverse Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die bislang oft vernachlässigt werden. »Forschung, die sich auf Kinder mit Leseschwierigkeiten konzentriert hat, konnte in der Vergangenheit zeigen, dass eine solche Lernschwäche oftmals mit Problemen bei der Verarbeitung von Lauten einhergeht. Doch indem wir uns Kinder mit einem breiten Spektrum an Lernschwierigkeiten angeschaut haben, konnten wir überraschenderweise feststellen, dass viele Kinder, denen die Verarbeitung von Lauten Probleme bereitet, nicht nur schlechter lesen, sondern auch schlechter rechnen können«, erklärt Astle. Zum anderen habe sich gezeigt, dass bei Kindern, die mit ein und derselben Sache ein Problem haben – zum Beispiel mit dem Lesen –, die Ursachen ganz unterschiedlicher Natur sein können, so die Forscher. »Für viele Kinder mit Lernschwierigkeiten und ihre Eltern ist es wichtig, irgendwann eine Diagnose zu bekommen, damit die Probleme anerkannt werden und sie Hilfe in Anspruch nehmen können. Doch Eltern und Experten, die jeden Tag mit solchen Kindern arbeiten, wissen, dass diese Label die individuellen Unterschiede zwischen den Betroffenen nicht abbilden. Ein Kind mit ADHS ist oftmals nicht wie ein anderes Kind mit ADHS«, sagt Astle. »Wir hoffen, dass unsere Studie dazu betragen wird, bessere Interventionen zu entwickeln, die die individuellen kognitiven Probleme der Kinder stärker in den Fokus nehmen.«
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