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News: Angestammte Ruhe

Ein Ort, der Ruhe, Gelassenheit und Harmonie ausstrahlt - wer wünscht sich in unserer hektischen Welt nicht eine solche Zuflucht? Zen-Gärten sind darin für viele meisterhaft - vielleicht, indem ihre Gestaltung unser Unterbewusstsein anspricht.
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15 Steine, angeordnet in fünf Gruppen, weißer Kies, täglich sauber gerecht, einzelne Moospolster und an drei Seiten Wände, die das Gelände umgeben – kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm. Wer diese Beschreibung hört, könnte sich einen reichlich öden Ort vorstellen, den man schnell wieder verlassen möchte. Doch dem ist offenbar nicht so: Kaum ein anderer Platz ist so berühmt für die Ruhe und Faszination, die er ausstrahlt. Die Rede ist vom Steingarten des Tempels von Ryoanji, einem über 500 Jahre alten japanischen Garten in Kyoto, dessen Einzigartigkeit sogar das World Heritage Center würdigte, indem es ihn 1994 in die Liste der Weltkulturerbe aufnahm.

Was aber schlägt die Tausende Besucher in den Bann, wenn sie von der Terrasse des Tempels aus ihren Blick auf dem 30 mal 10 Meter großen Rechteck ruhen lassen? Ist es das Sinnieren darüber, welches Motiv die scheinbar zufällig angeordneten Steingruppen darstellen? Eine Tigerin, die mit ihren Jungen einen See überquert, gehört zu den verbreiteten Interpretationen. Vielleicht soll es aber auch das chinesische Zeichen für Herz oder Seele wiedergeben. Gleichwohl – dass in einem japanischen Garten keine Absicht hinter der Gestaltung steckt, ist kaum vorstellbar.

Also näherten sich Gert Van Tonder von der Kyoto University und seine Kollegen dem Garten rein mathematisch – sie analysierten die Lage der Steingruppen zueinander, indem sie einen Art Skelettfigur errechneten. Dazu bestimmten sie alle Punkte derjenigen Linie, von der zwei betrachte Gruppen jeweils gleich weit entfernt sind. Oder anders gesagt: Betrachtet man ein Vieleck und legt an mehreren Stellen Feuer, dann kristallisierten sie diejenigen Stellen heraus, an denen sich die Brände schließlich treffen.

Diese "skelettisierende" Sicht scheint dem Menschen durchaus eigen, wenn er eine Gestalt oder äußere Form analysiert. Warum also sollte sie nicht auch hier wirken? Und tatsächlich zeichnete sich nach zahlreichen Rechendurchgängen auf dem Bildschirm immer deutlicher eine bekannte Struktur ab – das Bild eines Baumes, mit einer Krone aus verzweigten Ästen, dessen Stamm genau an jener Stelle auf der Veranda gründet, von der aus Besucher in der Regel den Garten betrachten.

Ein Baum – Sinnbild für Verwurzelung, Kraft, Beständigkeit. Löst das unbewusste Empfinden dieser Struktur die zu beobachtenden Gefühle aus? Und warum wurde dann bei der Gartengestaltung auf ein lebendes Exemplar verzichtet – sollte der Eindruck dadurch verstärkt werden?

Doch davor steht natürlich erst noch die Frage: Zufall oder Absicht? Das wird sich wohl niemals klären. Als Van Tonder und seine Kollegen virtuell die Lage der Steingruppen veränderten, verschwand jedenfalls in den Berechnungen auch das Skelett des Baumes. Ob damit dem Stein-Garten die Ausstrahlung von Ruhe und Gelassenheit genommen würde, werden wir wohl nie erfahren. Aber man kann vielleicht auch einmal auf eine Antwort verzichten.

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