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Im Rückblick: Arsen und Spitzenforschung

Im Jahr 1609 wurde Johannes Hartmann auf die weltweit erste Professur für Chymiatrie berufen. Mit seinem Laboratorium Chymico-Medicum in Marburg legte er den Grundstein für pharmazeutisch-chemische Forschung.
Ausschnitt aus einem Labortagebuch von 1615
Johannes Hartmann | Porträt von Johannes Hartmann, der 1609 einen Ruf auf den weltweit ersten Lehrstuhl für das Fach "Chymiatrie" erhielt
Wer heute studieren will, steht vor einer großen Auswahl an Fächern. Experimentiert man gerne mit bunten Flüssigkeiten, so fällt die Wahl häufig auf Chemie oder Pharmazie, soll es dagegen eher "etwas mit Menschen" sein, kommt ein Medizinstudium in Frage. Im 17. Jahrhundert aber blieb Chemie-Interessierten nur das Studium der Medizin, und hier kamen statt Kolben und Reagenzglas nur Bücher zum Einsatz. Bis ein gewisser Johannes Hartmann in Marburg praktischen Laborunterricht für angehende Ärzte einführte.

Geboren 1568 im oberpfälzischen Amberg, lernte Johannes Hartmann zunächst das Buchbinden – ein Studium hätten seine Eltern nicht bezahlen können. Doch der Rektor der Amberger Stadtschule bemerkte Hartmanns große Begabung. Mit Unterstützung vom Stadtrat konnte er fortan Mathematik studieren. Nach seinem Studium kam Hartmann als Professor der Mathematik an den Hof des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel in Marburg.

"Hartmann hat diese neue Theorie aufgesogen"
(Christoph Friedrich)
Den Beinamen "der Gelehrte" trug dieser nicht nur, weil er acht Sprachen gesprochen haben soll, sondern wohl auch wegen seiner ungewöhnlichen Begeisterung für naturwissenschaftliche Fragen. Insbesondere Astronomie und Alchemie hatten es ihm angetan. So faszinierten den Grafen etwa auch Heilmittel, die seine Hofärzte nach einer neuartigen, der so genannten paracelsischen, Lehre hergestellt hatten.

Chemie als "Hülfswissenschaft"

Das Schaffen des Arztes und Naturforschers Theophrastus Bombast von Hohenheim alias Paracelsus markierte den Übergang von der mittelalterlichen Alchemie zu einer naturwissenschaftlich geprägten Heilkunde. Auf ihn geht die Lehre der "Chymiatrie" zurück, "einer ganz in den Dienst der Medizin gestellten Chemie, mit deren Hilfe Arzneimittel hergestellt wurden", erklärt Christoph Friedrich, Leiter des Marburger Instituts für Geschichte der Pharmazie. "Paracelsus hat den Menschen als chemisches Laboratorium verstanden." Wenn der Mensch krank sei, könne man ihn also auch mit chemischen Mitteln gesund machen.

"Man hat keinen Unterschied zwischen Wissenschaft und dem Okkulten gemacht, so wie das heute ist"
(Christoph Friedrich)
Am Hof in Kassel kam auch Hartmann mit der Chymiatrie in Berührung. "Er hat diese neue Theorie regelrecht aufgesogen", meint Friedrich. Der Mathematiker sattelte um auf Heilkunde, studierte Medizin und erhielt schließlich zum zweiten Mal den Professorentitel. Nachdem er durch sein eigenes Medizinstudium erfahren hatte, wie konservativ und theoretisch die Ausbildung der angehenden Ärzte war, entwarf er einen kühnen Plan: In einem "Collegium chymicum" sollten alchemische und paracelsische Lehren in praktischer Laborarbeit vermittelt werden. Hartmann war überzeugt davon, dass Mediziner üben mussten, wie man Heilmittel herstellt. "Apotheker selbst arbeiteten damals nur als Handwerker", erläutert der Pharmazie-Historiker. "Da die Ärzte ihnen vorgesetzt waren, sollten sie deren Arbeit auch beherrschen."

Sud aus Knabenharn

Rekonstruiertes Laboratorium des 16. Jahrhunderts | In dem rekonstruierten Laboratorium stehen Geräte, wie sie auch Johannes Hartmann verwendet haben dürfte. Damalige Labore waren häufig mit einem so genannten "faulen Heinz" ausgestattet, einem Ofen mit einer Feuerstelle und mehreren Platten, auf denen destilliert werden konnte.
Der Plan schien aufzugehen: Mit der Ernennung Hartmanns zum Professor für Chymiatrie im Jahr 1609 hatte die von Paracelsus begründete Wissenschaft erstmals Rückhalt auf akademischem Boden gefunden. Der frisch berufene Chymiatriker errichtete das erste chemische Universitätslaboratorium, das "Laboratorium chymicum publicum", in einem alten Kloster in Marburg. Dort stellte er zusammen mit seinen Medizinstudenten, die er "aus der ganzen Welt nach Marburg gezogen hatte", wie Friedrich anmerkt, paracelsische Heilmittel her.

Hartmanns Zöglinge produzierten Laudanum, ein opiumhaltiges Mittel, Präparate aus Antimon und Quecksilber, ein Wasser gegen Herzklopfen, das "Englische Trinkgold" sowie einen "Spiritus antiepilepticus". Für seine Zubereitung mussten die Studiosi Harn von Knaben sammeln, die zuvor Wein getrunken hatten.

"Die Studenten sollen Zusammenstöße mit den Dienern vermeiden und weder mit Gewalt noch mit List etwas von ihnen erpressen"
(aus einem Labortagebuch von 1615)
Was heute eher nach Esoterik klingt, wurde vor 400 Jahren als rationale Lehre gesehen. "Man hat keinen Unterschied zwischen Wissenschaft und dem Okkulten gemacht, wie das heute der Fall ist", erklärt Friedrich. So habe etwa ein Arzt, bevor er seinen Patienten zu Ader gelassen hat, die Gestirne befragt. Auch die so genannte Waffensalbe zeugt von einer anderen Sicht der Dinge: "Wenn jemand mit einer Waffe verletzt wurde, dann wurde die Waffe, die ihn verletzt hat, mit einer Salbe behandelt", berichtet der Marburger Pharmazeut.

Trinkereien, Schlaf und Streit verboten

Eine Seite aus der Abschrift eines Labortagebuchs von 1615 | Das Labortagebuch in lateinischer Schrift gibt sehr genaue Auskunft über Hartmanns Unterricht. In den Eintragungen von Ende Juli wird die Herstellung von Opium beschrieben.
Wie es damals in Hartmanns Labor zuging, erfährt man in einem Labortagebuch aus dem Jahr 1615. "Darin stehen genau wie in einem Praktikumsbuch der Reihe nach die Präparate, die damals angefertigt wurden", erzählt Christian Reichardt, Chemieprofessor an der Universität Marburg.

In einer Laborordnung werden die "Jünger der ernsten Kunst Apolls, die dieses ärztliche Heiligtum besuchen, aufgefordert, sich der Frömmigkeit und Nüchternheit" zu befleißigen und auf "Lärm, Geschrei, Trinkereien, Schlaf und Streit" zu verzichten. Fragen stellen war erlaubt, "aber mit Bescheidenheit und ohne den Leiter zu belästigen". Studienanfänger sollten sehr lernbegierig sein und Willen, Liebe und höchste Begeisterung zum Lernen und zum Wissen mitbringen, "ein Punkt, der auch noch für heutige Studienanfänger unbedingt gültig ist", bemerkt Reichardt mit einem Augenzwinkern.

"Mantel und Degen sollen nicht nur aus dem Vorraum, sondern aus beiden Laboratorien absolut ferngehalten werden"
(aus einem Labortagebuch von 1615)
Nach kaum zwölf Jahren fand Hartmanns Laborexperiment ein ebenso schnelles Ende: Im Jahr 1621 musste er seinen Lehrstuhl in Marburg räumen, nachdem ihm vorgeworfen wurde, einen Patienten zu Tode kuriert zu haben. "Einige Arzneimittel waren schwer schädlich", sagt Friedrich. Den beliebten Antimon-Präparaten etwa habe man Arsen beigemischt. "Nach diesem Vorfall hat Moritz von Hessen Hartmann aus der Schusslinie genommen", berichtet der Pharmazie-Historiker.

Da es niemanden gab, der das von Hartmann entwickelte praktische Studium weiterführte, wurde Chemie fortan abermals aus Büchern gelernt. Erst im 18. Jahrhundert gab es wieder praktischen Unterricht, als immer mehr Apotheker Chemie-Lehrstühle übernahmen. "Sie beherrschten das Fach mit den Händen", sagt Friedrich.
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