Majorana-Quasiteilchen: Auf der Jagd nach einem Quantenphantom
Ettore Majorana arbeitete gern im Verborgenen. Doch nachdem ihn sein Freund Emilio Segrè in den späten 1920er Jahren in den elitären römischen Physikerklub von Enrico Fermi mitgenommen hatte, wuchs Majoranas Ansehen in der Gemeinschaft der Atomphysiker schnell an. Seine meist unveröffentlichten Vorahnungen erwiesen sich als erstaunlich vorausschauend: Unter anderem prognostizierte er die Existenz des Neutrons.
1937 zauberte er eine völlig neue Art von hypothetischem Teilchen hervor. Fachleute hatten gelernt, dass offenbar jedes Elementarteilchen ein Gegenstück in Form von Antimaterie besitzt – eine Idee, für deren Bestätigung Segrè später den Nobelpreis erhalten sollte. Majorana erkannte, dass die Gleichung, die zu dieser Dualität führt, außerdem ein einziges Teilchen zulässt, das die Materie- und Antimaterie-Persönlichkeit in sich vereint.
Monate später hob der damals 31-Jährige eine große Summe Bargeld von seinem Bankkonto ab, stieg auf eine Fähre, die das Tyrrhenische Meer überquerte – und verschwand. Bis heute weiß niemand, was mit ihm passiert ist. Und auch die Existenz des von ihm vorgeschlagenen Teilchens, das inzwischen seinen Namen trägt, ist ungeklärt. Einige Physiker vermuten zum Beispiel, das Neutrino – ein extrem leichtes Teilchen, das überall durch das Universum flitzt – könnte sein eigenes Antiteilchen sein. Aber selbst die präzisesten Laborversuche konnten das bisher weder eindeutig widerlegen noch beweisen.
Forschende glauben jedoch, dass sie kurz davorstehen, sich einem Majorana-Teilchen in einer ganz anderen Form zu nähern. Indem sie Elektronen auf Oberflächen einschließen, können sie die Elementarteilchen zu eigenartigen Tänzen entlang der Ebene zwingen. Dadurch sehen sie zusammengenommen wie ein Majorana-Teilchen aus – so wie die Bewegungen eines Vogelschwarms mitunter den Wellen einer Flüssigkeit ähneln.
Wenn sich solche »Majorana-Quasiteilchen« einfangen und kontrollieren ließen, würde sich das in zweifacher Hinsicht auszahlen. Es böte einerseits die Chance, exotische Physik zu untersuchen. Andererseits könnte es zu Verbesserungen bei Quantencomputern führen, mit denen aus den empfindlichen Geräten möglicherweise praxistauglichere, robustere Maschinen werden. Das würde bestimmte Berechnungen enorm beschleunigen. »Es ist überraschend, dass Elektronen dazu in der Lage sind«, sagt der Physiker Charlie Marcus von der University of Washington. »Falls sich herausstellt, dass es für das Quantencomputing wirklich von Vorteil ist, dann ist das wie das Sahnehäubchen auf der Torte.«
Wissenschaft und Industrie schließen sich zusammen
Das Epizentrum der Jagd nach den Majorana-Quasiteilchen ist Santa Barbara, eine von Sandstränden gesäumte Stadt in Südkalifornien. In den letzten Jahren haben Hunderte von Wissenschaftlern dort gut bezahlte Stellen bei großen Tech-Unternehmen angenommen.
Beispielsweise versuchen die Fachleute hinter den getönten Fenstern eines Gebäudes von Google, das Quasiteilchen durch supraleitende Schaltkreise zu erzeugen. Auf der anderen Seite des Parkplatzes arbeiten Teams von Microsoft daran, Majorana-Quasiteilchen an die Enden eines Drahts zu locken, dessen Durchmesser ein Tausendstel eines Haares misst. Und auf der Straßenseite gegenüber versuchen Forschungsgruppen der University of California, Santa Barbara (UCSB), die Partikel mittels Bleistiftminen und Klebeband dingfest zu machen. Alle sind sich sicher, dass sie es geschafft haben – und dass sie der Konkurrenz einen Schritt voraus sind.
Doch wie bei der Jahrzehnte dauernden Suche nach dem Verbleib von Ettore Majorana gibt es auch hier noch keine eindeutigen Belege. Umstrittene Hinweise und eine verworrene Mischung aus unternehmerischen und akademischen Interessen haben dem Feld herbe Rückschläge eingebracht – trotz vieler Behauptungen, man stünde kurz vor einem Durchbruch. »Das Gebiet hat einige Schwierigkeiten bereitet«, sagt der theoretische Physiker Jason Alicea vom California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena. »Aber es tun sich eine Menge neuer Ansätze auf. Es gibt so viel schöne Physik, die darauf wartet, entdeckt zu werden.«
Auf atomarer Ebene kann man sich zweidimensionale Schichten von Festkörpern wie riesige Schachbretter vorstellen. Die Spielfiguren entsprechen den Elektronen, und die leeren Felder stellen so genannte Löcher dar, die sich wie positiv geladene Teilchen verhalten. Unter den richtigen Bedingungen kann sich die Bewegung von Elektronen und Löchern so synchronisieren, dass sie wie ein einzelnes Objekt wirken. Da es sich dabei nicht wirklich um ein Teilchen handelt, spricht man in der Festkörperphysik von Quasiteilchen. Es gibt viele verschiedene Beispiele dafür – die Löcher sind selbst eines. Bei »Anyon«-Quasiteilchen wirkt es so, als würde sich ein Elektron in Bruchstücke aufspalten.
Eine Untergruppe dieser Anyonen führt Tänze auf, die auf besondere Weise unvergesslich sind. Zerlegt man ein Elektron in zwei virtuelle Teile und vertauscht ihre Plätze, ändert sich ihre Identität auf subtile Weise. Wenn man die Fragmente wieder zusammenbringt, können sie entweder zu einem Elektron verschmelzen – oder sie löschen sich gegenseitig aus. Die Wahrscheinlichkeit, mit der die zwei Möglichkeiten eintreten, hängt von den vorherigen Tänzen ab. In diesem Sinn hinterlässt die Bewegung mancher Anyonen eine unveränderliche Spur. Ähnlich wie beim Flechten von Haaren ist die Geschichte der Teilchen in die Topologie des Systems – seine mathematische Form – eingewoben.
Tanzende Teilchen ermöglichen neue Art von Computern
Dank einer Veröffentlichung des Physikers Alexei Kitaev, heute ebenfalls am California Institute of Technology, wurde die seltsame Elektronenchoreografie 1997 zur Blaupause für eine neue Art von Computer. Herkömmliche Rechner funktionieren durch Transistoren. Diese sind eine Art Schalter, der Strom aus- und einschaltet und dabei entweder eine 0 oder eine 1 codiert. Verbindet man solche Schalter auf die richtige Weise, kann die Maschine jede erdenkliche Berechnung durchführen – auch wenn komplexe Aufgaben Milliarden von Jahren dauern würden.
Quantencomputer versprechen, diesen Prozess für einige Probleme zu beschleunigen, indem sie die seltsamen Regeln der Quantenphysik ausnutzen. Ein Quantenbit (»Qubit«) besteht aus einem quantenmechanischen Objekt wie einem einzelnen Atom und kann viele verschiedene Überlagerungen der Zustände 0 und 1 verkörpern. Dadurch vermag eine relativ kleine Anordnung von Qubits, die durch einen Quanteneffekt namens Verschränkung miteinander verbunden sind, gewisse Berechnungen sehr viel schneller durchzuführen als gewöhnliche Rechner. Theoretisch sollten Quantencomputer manche Aufgaben wie die Simulation chemischer Reaktionen oder das Faktorisieren großer Zahlen (die Grundlage der modernen Kryptografie) viel leichter bewältigen. Das macht Quantencomputer sowohl zu einer lukrativen Spielerei als auch zu einer Bedrohung der nationalen Sicherheit.
Der Haken an der Sache ist, dass Qubits empfindlich sind. Temperaturschwankungen und leichte Erschütterungen können sie stören, was ihre Eigenschaften ändert oder sie vorzeitig in einen eindeutigen 0- oder 1-Zustand führt. Da die Qubits miteinander verschränkt sind, verbreiten sich diese Fehler wie ein Lauffeuer, und die gesamte Berechnung bricht ab.
Zur Korrektur solcher Fehler braucht man redundante Qubits. Doch das lässt sich nicht so einfach umsetzen. Die modernsten Proto-Quantencomputer verfügen inzwischen über Hunderte von Qubits, was jedoch weit von den Millionen oder Milliarden Exemplaren entfernt ist, die wahrscheinlich nötig sind, damit die Maschinen fehlerfrei arbeiten. »Es ist ein technischer Albtraum«, kommentiert Sankar Das Sarma, ein theoretischer Physiker an der University of Maryland in College Park.
Kitaev schlug eine clevere Lösung für das Problem vor. Die Qubits sollten nicht aus Atomen, sondern aus speziellen Anyon-Paaren bestehen. Indem man mehrere Anyonen miteinander verschränkt und sie zu einer Reihe von Tänzen animiert, lassen sich Berechnungen durchführen, die zur richtigen Antwort führen. Um diese auszulesen, muss man bloß prüfen, ob die Anyonen zu einem Elektron (was einer 1 entspricht) verschmolzen sind oder sich zerstört haben (eine 0). Da sich das ursprüngliche Elektron scheinbar aufspaltet und nicht an einem einzelnen Ort existiert, ist es robust gegenüber lokalen Störungen.
»Ohne Majorana-Teilchen sehe ich keine Hoffnung, jemals einen wirklich fehlertoleranten Quantencomputer zu bauen«Sankar Das Sarma, theoretischer Physiker
Die Herausforderung besteht nun darin, ein Elektron dazu zu bringen, sich dem Schein nach aufzuteilen. Damit das gelingt, kann man ein Elektron und ein Loch so verbinden, dass sie zwei getrennte Einheiten bilden, die aus jeweils einem halben Elektron und einem halben Loch bestehen. Dieses quantenmechanische Yin und Yang, das identisch und doch gegensätzlich ist (ähnlich wie die von Majorana postulierten Teilchen), sollte weder Energie noch Ladung besitzen. Mit null Energie ruhen die Quasiteilchen in einer Lücke zwischen den positiven und negativen Energieniveaus des Materials, in denen sich die restlichen Elektronen und Löcher sammeln. Dort genießen die Quasiteilchen zusätzlichen Schutz vor der unruhigen Umgebung.
Kitaevs Idee, diesen eingebauten Fehlerschutz zu nutzen, ist heute als topologisches Quantencomputing bekannt. Einige glauben, dieser Ansatz böte die besten Aussichten für die Technologie. »Ohne Majorana-Teilchen sehe ich persönlich keine Hoffnung, jemals einen wirklich fehlertoleranten Quantencomputer zu bauen«, meint Das Sarma.
Um 2004 schrieb der Mathematiker Mike Freedman von der UCSB einen Brief an Microsoft-Gründer Bill Gates und warb für die Idee des topologischen Quantencomputers. Etwa ein Jahr später gründete das Unternehmen Station Q, das zunächst nur aus einem fünfköpfigen Team bestand. Die Forschenden grübelten gemeinsam in einem Seminarraum im sechseckigen Turm des renommierten Kavli-Instituts für Theoretische Physik, der wie ein Leuchtturm vom Campus der UCSB ragt. Mit scheinbar unbegrenztem Budget und freiem Spielraum für die Erforschung wilder Ideen ausgestattet, beneideten viele Fachleute die Forschungsgruppe, sagt der Mathematiker Zhenghan Wang von der UCSB und Gründungsmitglied von Station Q. »Es war der perfekte Ort.«
Viele Fake-Majoranas
Bevor Ettore Majorana 1938 verschwand, schickte er eine Reihe kryptischer Nachrichten an seine Familie und Kollegen über sein bevorstehendes »plötzliches Verschwinden«. Das ließ viele glauben, er habe sich das Leben genommen. Doch in den folgenden Jahren wurde der Physiker gerüchteweise immer wieder gesichtet: als Bettler in Neapel, als Mönch in Kalabrien und als Vagabund in Südamerika. Die Suche nach dem Geist seines Teilchens wurde ebenfalls von fragwürdigen Sichtungen begleitet. »Es gibt viele, viele Arbeiten, die behaupten, sie hätten Majorana-Quasiteilchen gefunden«, sagt Das Sarma. »Doch nichts davon ist ein Majorana.«
Microsofts Strategie bestand anfangs darin, den fraktionalen Quanten-Hall-Effekt zu nutzen: Das seltsame Phänomen tritt in zweidimensionalen Systemen auf. In einem starken Magnetfeld nehmen die Elektronen im Material gewisse Energieniveaus an, doch jedes Niveau fasst nur eine bestimmte Anzahl von Teilchen. Die Elektronen ordnen sich daher neu an, um einander aus dem Weg zu gehen. Dadurch entsteht eine Art Quantenflüssigkeit, deren Eigenschaften davon abhängen, wie voll die Energieniveaus sind. Wenn beispielsweise das zweite Energieniveau zur Hälfte gefüllt ist, sollte eine leichte Änderung des Magnetfelds Wellen erzeugen, die rechnerisch ein Viertel der Elektronenladungen enthalten. Jede dieser Wellen ist mit einem Majorana-Quasiteilchen verbunden.
Die Microsoft-Forscher suchten in Proben von Galliumarsenid (eine häufig in Solarzellen genutzte Verbindung) nach diesen bruchstückhaften Ladungen. Doch auch nach jahrelangem Experimentieren wurden sie nicht fündig: Die schützende Energielücke der Majorana-Teilchen ist zu klein, so dass sie nicht stabil sind. Zudem lassen sich die elektronischen Gatter, die den Tanz der Quasiteilchen antreiben sollen, in dem Material nicht umsetzen.
Gerade als die Hoffnung zu schwinden begann, tauchte ein neuer Vorschlag auf. Man könnte einen hauchdünnen Nanodraht in einer supraleitenden Hülle verpacken. Sie würde es den Elektronen im Inneren ermöglichen, sich paarweise zu verbinden und entlang einer langen Kette zu ordnen. Wenn der Draht eine ungerade Anzahl von Teilchen enthält, sollte sich das ungepaarte Elektron gewissermaßen in zwei Hälften aufspalten und räumlich getrennte Majorana-Quasiteilchen bilden – eines an jedem Ende des Drahts. Wenn man dann mehrere Drähte gitterartig übereinanderschichtet, kann man die Majoranas miteinander verflechten.
Das Microsoft-Team wechselte bereitwillig die Pferde und begann, sich auf die Nanodrahtforschung zu konzentrieren. 2012 variierte eine Gruppe um den Physiker Leo Kouwenhoven von der Technischen Universität Delft die Spannung an der Spitze des Drahts von negativen zu positiven Werten und beobachtete dabei einen Peak in der Leitfähigkeit der Probe: Dieser Ausschlag schien der lang ersehnte Beweis für die Existenz von Majorana-Paaren zu sein. Theoretische Physiker erkannten jedoch bald, dass ebenso andere, weniger interessante Elektronen-Quasiteilchen um die Null-Energie herumschweben und die gesuchte Signatur vortäuschen können. Es war das erste von vielen uneindeutigen Majorana-Signalen.
Einige Theoretiker vertraten die Ansicht, echte Majorana-Teilchen würden eine klare Spur hinterlassen: einen Null-Energie-Peak mit einem bestimmten Wert. 2018 gelang es Kouwenhovens Forschungsgruppe, diesen Wert zu messen. Die Fachwelt sah das damals als eindeutigen Beweis, sagt Kouwenhoven. Microsoft ernannte ihn zum Direktor des neuen Campus in Delft. Der Vizepräsident des Unternehmens kündigte an, noch im selben Jahr ein funktionierendes topologisches Qubit zu erzeugen, und forderte das US-amerikanische Energieministerium auf, in die blühende »Quantenwirtschaft« zu investieren.
Doch dann platzte die Blase. Das gemessene Signal erwies sich erneut als nicht stichhaltig. Bald darauf geriet Kouwenhovens Veröffentlichung wegen angeblicher Datenmanipulation in die Kritik und wurde 2021 von »Nature« zurückgezogen. Das Fachjournal führte als Gründe eine Kombination aus Bestätigungsfehler und mangelhafter Einstellung der Messapparaturen an. In den folgenden Jahren wurden zwei ähnliche Behauptungen anderer Forschungsgruppen von »Nature« und »Science« zurückgezogen, und eine vierte Arbeit unter der Leitung von Marcus wurde von »Science« redaktionell beanstandet.
»Sie haben versucht zu laufen, bevor sie überhaupt krabbeln konnten«Chris Palmstrøm, Physiker
Laut Kouwenhoven tappten die Fachleute immer wieder in die Falle, weil sie bestimmten Signaturen nachjagten, ohne die zu Grunde liegenden Mechanismen richtig zu verstehen. »Wir haben eine ganze Menge Physik übersprungen«, resümiert er. Der Physiker Chris Palmstrøm von der UCSB führt die Probleme auf die übereifrigen Bemühungen von Microsoft zurück, ein topologisches Qubit nachzuweisen. »Sie haben versucht zu laufen, bevor sie überhaupt krabbeln konnten«, sagt er. »Es war vielleicht zu früh, all das zu versprechen.« Andere vermuten, dass das Problem tiefer liegt: Sie verweisen auf den Druck in der Forschung, möglichst viele Ergebnisse zu liefern und in hochrangigen Fachzeitschriften zu veröffentlichen.
Etwa zu der Zeit, als viele der Fachartikel in sich zusammenfielen, fand bei Microsoft ein Kulturwandel statt. Chetan Nayak, Forscher der ersten Stunde bei Station Q, löste Freedman bei der technischen Leitung ab. Nayak hatte eine geschäftsorientierte Vision und konzentrierte sich auf Kommerzialisierung. »Wir sind nicht im Erkundungsmodus«, urteilt Nayak. »Jeder muss sich auf die Reise fokussieren – und das geht nicht mit einem Haufen akademischer Labors.« Microsoft strich die meisten Mittel für Kooperationen mit Universitäten und verlagerte den Großteil seiner Quantencomputerforschung in das eigene Unternehmen.
Das drängte viele namhafte Persönlichkeiten aus dem Feld. »Zu Beginn der akademischen und unternehmerischen Quantenforschung hatten wir das Beste aus beiden Welten. Dann wurden wir erwachsen, und die Erfahrungen der Unternehmen änderten sich«, sagt Marcus, der Microsoft 2021 verließ. Kouwenhovens Zusammenarbeit mit der Firma endete im darauf folgenden Jahr. Anfang 2023 ging auch Freedman und schloss sich der Konkurrenz an: Er arbeitet nun bei Google auf der anderen Seite des Parkplatzes.
»Ich würde mir wünschen, dass Microsoft gegenüber der akademischen Gemeinschaft mehr Offenheit an den Tag legt«Jason Alicea, theoretischer Physiker
Wie die theoretische Physikerin Fiona Burnell von der University of Minnesota Twin Cities in Minneapolis und Saint Paul erklärt, wurde sie durch die Investitionen von Microsoft in die Forschung gelockt. Aber die Geheimhaltung des Unternehmens erschwere es, die Ergebnisse zu reproduzieren. »Es ist ein zweischneidiges Schwert«, stellt sie fest. Eine Majorana-Publikation von Microsoft von Juni 2023 enthält zum Beispiel keine Details darüber, wie die Nanodrähte hergestellt wurden. Das Unternehmen betrachtet das als Geschäftsgeheimnis. »Natürlich würde ich mir wünschen, dass sie gegenüber der akademischen Gemeinschaft mehr Offenheit an den Tag legen«, sagt Alicea. »Aber vielleicht ist das unmöglich.«
Auf der Suche nach einem stichhaltigen Beweis
2011 griff die Staatsanwaltschaft in Rom das Verschwinden von Ettore Majorana wieder auf. Die Ermittler waren auf ein vermeintliches Foto des Physikers aus dem Jahr 1955 in Venezuela gestoßen, wo er angeblich unter dem Decknamen »Mr. Bini« gelebt habe. Sie versuchten, das Gesicht des Mannes mit einem alten Foto von Majorana abzugleichen, und kamen zu dem Schluss, dass sie übereinstimmen. Offenbar war Majorana wirklich nach Südamerika gereist. Vielleicht habe er vorausgesehen, dass die Arbeit seiner Kollegen zu Atomwaffen führen würde. Mit dieser Erklärung zufrieden, stellte die Staatsanwaltschaft den Fall 2015 offiziell ein. Doch viele Personen blieben unzufrieden zurück. Der Physiker Francesco Guerra von der Universität Sapienza in Rom untersucht das Verschwinden weiter, denn die Schlussfolgerung der Staatsanwaltschaft findet er »völlig lächerlich«.
Auf Seiten der Forschung ärgern sich Majorana-Experten ebenfalls über den niedrigen Beweisstandard. Sie drängen nun darauf, die Messlatte höher zu legen. Auch hier reiche – im übertragenen Sinn – ein Foto nicht aus, sagt Kouwenhoven: »Wir brauchen DNA-Beweise.« Fachleute sind sich zunehmend einig, dass der einzig handfeste Nachweis von Majorana-Quasiteilchen darin besteht, sie als Qubits zum Funktionieren zu bringen. Oder in den Worten des Physikers Andrea Young von der UCSB: »Flechten oder scheitern.«
Bei der Suche nach Majorana-Anyonen werden inzwischen hauptsächlich drei Ansätze verfolgt. Der erste baut weiterhin auf Nanodrähten auf, denen sich vor allem Microsoft widmet. In ihrer Veröffentlichung im Juni 2023 berichteten die Forschenden, die Stabilität der vermeintlichen Majoranas in den Nanodrähten verbessert zu haben – eine Leistung, die Nayak auf der Plattform »LinkedIn« mit der Erfindung von Stahl verglich.
Die Stabilität der Majorana-Quasiteilchen hängt von der Größe der Lücke zwischen ihrem Null-Energie-Zustand und dem nächstgelegenen Energieniveau der Elektronen ab. Ist der Abstand zu klein, können schon winzige Temperaturschwankungen genügend Energie einspeisen und damit die Majoranas entweder zerstören oder unerwünschte Quasiteilchen erzeugen. Letztere stören das Signal – insbesondere, wenn die Enden des Drahts nicht ausreichend voneinander entfernt sind.
Die Forschungsgruppe von Microsoft hat in ihren Nanodrähten eine Energielücke von 30 Mikroelektronenvolt gemessen, was dem Dreifachen des benötigten Werts entspricht, um ein echtes Signal zu gewährleisten. Zu den nächsten Schritten gehört nun zu zeigen, dass ein Majorana-Paar zu einem 0- oder 1-Zustand verschmelzen kann. Und schließlich müssen die Fachleute zwei Paare verflechten und so ein funktionales Qubit erzeugen. Nayak glaubt, sein Team könne beides schaffen. »Intern sind wir sehr überzeugt«, sagt er. »Wir sind damit auf dem besten Weg.«
Die Community hält sich mit Applaus jedoch zurück. Einige kritisieren Microsoft weiterhin dafür, Informationen über die Herstellungsmethoden und Teile seiner Simulationen zurückzuhalten. Andere bemängeln, dass der genutzte Draht nicht rein oder lang genug sei, um Fehlsignale zu verhindern. Aber selbst, wenn man davon ausgeht, dass das gemessene Signal von den gesuchten Quasiteilchen stammt, sei die von Microsoft berichtete Energielücke nicht groß genug, um im realen Betrieb ausreichend Schutz zu bieten. So urteilt der theoretische Physiker Mike Zaletel von der University of California, Berkeley, der zuvor an den Nanodrähten in Station Q gearbeitet hat: »Es ist schwer vorstellbar, dass sie ein robustes Qubit mit einer so kleinen Lücke haben.«
Sandwiches aus Graphen
An der nahe gelegenen UCSB schlägt Young einen ganz anderen Weg ein, um die schüchternen Majoranas aus der Reserve zu locken. Er belebt den fraktionalen Quanten-Hall-Effekt wieder, allerdings in Graphen statt in Galliumarsenid. Graphen, eine einzelne Schicht aus Kohlenstoffatomen, ist das erste zweidimensionale Material, das 2004 entdeckt wurde. Die Forscher hatten damals mit Hilfe von Klebeband eine Lage von Graphit abgelöst und wurden für ihre Arbeit 2010 mit dem Nobelpreis geehrt.
Inzwischen haben Young und sein Team herausgefunden, wie man Graphen und andere Materialien zu perfekt angeordneten Sandwiches stapeln kann, um eine Spielwiese für Quanten-Hall-Experimente zu schaffen. Die von ihnen verwendeten zweidimensionalen Stoffe sind dünner als Galliumarsenid. Dadurch lassen sich die Elektronen leichter dazu bringen, miteinander zu wechselwirken und sich in Viertelladungen aufzuspalten. Die Forschenden fanden auch Möglichkeiten, aus Graphitkristallen elektrische Gatter zu bauen, mit denen sie die Quasiteilchen einfangen und kontrollieren könnten.
»Ich denke, wir werden auch ohne Wunder in der Lage sein, ein Qubit herzustellen«Andrea Young, Physiker
Im Sommer 2023 haben Young und seine Kollegen die Energielücke des Zustands gemessen, in dem das Graphen voraussichtlich Majoranas bildet. Sie fiel etwa zehnmal so groß aus wie die Lücke von Microsoft. Das könnte ein Qubit bei Temperaturen von bis zu fünf Kelvin ermöglichen – laut Young ist das für derartige quantenmechanische Arbeiten relativ warm. »Ich habe das Gefühl, endlich einen Weg gefunden zu haben, das Problem auf angemessene Weise anzugehen«, sagt er. »Ich denke, wir werden auch ohne Wunder in der Lage sein, ein Qubit herzustellen.«
Der Physiker Ali Yazdani von der Princeton University arbeitet an ähnlichen Graphen-Sandwiches. Mit Hilfe von Elektronenmikroskopen erstellen er und sein Team eine Art Landkarte für die Größe der Energielücke an jedem Punkt auf der Graphen-Oberfläche. Im August 2023 berichteten sie über mehrere Stellen, an denen die Energielücke riesig ist – sogar größer als die von Youngs Team gemessene. Beide Forschungsgruppen planen Experimente, um die Majorana-Quasiteilchen in einem nächsten Schritt miteinander zu verflechten. »Es ist noch zu früh, um das direkt umzusetzen, aber aus technischer Sicht spricht nichts dagegen«, erklärt Yazdani.
Schon jetzt haben die Graphen-Bemühungen der Gemeinschaft frischen Wind beschert, so Alicea. »Es ist eine der vielversprechendsten Möglichkeiten, die ich seit Langem gesehen habe.« Zaletel widmet sich seit seinem Abschied von Microsoft ebenfalls Graphen: »Es ist klar, dass man jetzt genau hier ansetzen sollte.«
Aber nicht jeder glaubt, dass sich die frei beweglichen Quasiteilchen in Graphen gut genug kontrollieren lassen, um mehrere Qubits zu ermöglichen. Ebenso ist fraglich, ob man die Lücken auf einem ausreichend großen Niveau halten kann. Viertelladungs-Quasiteilchen lassen sich in Graphen viel schwerer steuern als an den Enden von Nanodrähten, mahnt Kouwenhoven. »Für die Physik ist das enorm interessant, aber hinsichtlich einer Anwendung in Quantencomputern sehe ich das nicht so.«
Simulationen mit supraleitenden Schaltkreisen
Auf der anderen Seite des Parkplatzes des neuen Büros von Station Q ist eine dritte Art von Majorana-Jagd im Gange. In einem unscheinbaren Gebäude mit der Aufschrift »Google AI Quantum« befinden sich mehrere Proto-Quantencomputer. Die darin verbauten Chips enthalten Dutzende von Qubits, die auf einer bereits etablierten Technologie basieren: Sie bestehen aus winzigen Schleifen supraleitender Drähte. Durch sie schwingt Strom zwischen zwei elektrischen Zuständen. Diese Qubits sind zwar mit Fehlern behaftet, aber das Google-Team hofft, die Stabilität von Majorana-Quasiteilchen mit ihren Quantenchips verbinden zu können.
Bei klassischen Computern wird Fehlern durch Redundanz vorgebeugt: Man kopiert die Informationen eines Bits auf viele weitere. Bei Quantencomputern ist das allerdings nicht so einfach möglich, weil die Gesetze der Quantenmechanik das Vervielfältigen von Quantenzuständen verbieten. Daher ordnet Google die Qubits so an, dass sie sich wie ein topologisches Material verhalten (die Idee geht ebenfalls auf Kitaev zurück). Die Information wird dann über viele Qubits verteilt, damit sie nicht durch eine einzige Messung zugänglich ist.
Im Mai 2023 ist ein Google-Team mit Hilfe der Physikerin Eun-Ah Kim von der Cornell University in Ithaca dem Ziel einen Schritt nähergekommen. Während ihres Studiums arbeitete Kim an Ideen, um Anyonen in Quanten-Hall-Systemen miteinander zu verflechten. Die endlosen technischen Hürden haben sie jedoch frustriert. Als Forschende von Google im Jahr 2022 ihren neuesten Qubit-Aufbau vorstellten, »wurde mir klar, dass dies der Ort ist, an dem mein Traum endlich wahr werden kann«, erzählt Kim. Sie und ihre Kollegen lernten, die Qubits zu gruppieren und einige der dazwischen befindlichen Verbindungen entfernen, um Unregelmäßigkeiten im Gitter zu erzeugen. In einer bei »Nature« erschienenen Arbeit zeigte das Team, dass sich diese Fehlstellen ähnlich wie Majoranas verhalten, wenn man sie miteinander verflechtet. Das Unternehmen Quantinuum berichtete etwa zur gleichen Zeit in einer Vorabveröffentlichung über ein vergleichbares Experiment.
Im Gegensatz zu natürlich entstandenen Quasiteilchen sind diese simulierten Majoranas nur stabil, falls die Fehler manuell korrigiert werden. Dennoch könnten sie dazu beitragen, die Qubits zu schützen, sagt Hartmut Neven, Gründungsdirektor von Google Quantum AI. »Die Frage ist: Was lässt sich einfacher umsetzen?« Sollte man eine bewährte Technologie verwenden, aber dafür die Fehler korrigieren, oder auf komplett neue Materialien und Methoden setzen?
Das Google-Team hat das System noch nicht eingesetzt, um Fehler in den Berechnungen tatsächlich zu erkennen und auszumerzen. Dennoch zeigt das Experiment, dass die Fachleute die Quantensysteme immer besser kontrollieren, sagt Marcus. »Wir fangen an, das Feuer zu beherrschen.«
Am Ende kommt die Wahrheit ans Licht
Im Lauf der Jahre entstanden teils abgehobene Mythen rund um das Verschwinden von Ettore Majorana: von Entführungen durch Außerirdische bis hin zu Zeitreisemaschinen. Doch Guerra und die Physikhistorikerin Nadia Robotti von der Universität Genua glauben weiterhin, die Wahrheit irgendwo da draußen zu finden. Sie haben neue Dokumente aus staatlichen, kirchlichen und privaten Archiven gefunden, die darauf hindeuten, dass Majorana etwa ein Jahr nach seinem Verschwinden starb. In einem Brief, den ein Jesuitenpater 1939 an Majoranas Bruder schrieb, ist beispielsweise vom »betrauerten Ettore Majorana« und »dem geliebten Verstorbenen« die Rede.
Guerra und Robotti wissen nicht, wo oder wie er gestorben ist, aber sie glauben, dass seine Nachkommen Dokumente besitzen, die mehr Licht ins Dunkel bringen könnten. 2020 flogen die zwei Forschenden zur UC Berkeley, um das Archiv von Emilio Segrè zu besuchen, dessen Freundschaft mit Majorana in den Jahren vor seinem Verschwinden zerbrach. Sie stießen dabei auf einen Ordner, der nach Segrès Anweisungen erst im Jahr 2057 geöffnet werden darf. Guerra hofft, dass er Details enthält, die den Vermisstenfall ein für alle Mal aufklären werden.
Die Suche nach dem Majorana-Quasiteilchen folgt einer ähnlichen Dynamik. Viele Fachleute sind inzwischen ernüchtert. Zum Beispiel sagt Palmstrøm, die wechselhafte Geschichte des Felds habe seinen Optimismus gedämpft. Selbst Kitaev, der am Caltech arbeitet und Google berät, ist zynisch geworden: »In der Theorie ist es wunderschön. Aber in der Praxis scheint es, als hätten wir keine geeignete Technologie.«
»Wir sind getrieben, die Wahrheit zu finden. Und ich glaube, das werden wir auch«Chris Palmstrøm, Physiker
Und doch geben viele in der Branche die Jagd nicht auf. Palmstrøm bereitet die Halbleiter-Nanodrähte weiterhin akribisch für die Untersuchungen vor. Er backt sie in einer Vakuumfolie, um unerwünschte Gasmoleküle auszutreiben, schrubbt sie mit einem Druckschlauch aus atomarem Wasserstoff, um auch das letzte verunreinigende Atom zu entfernen, und überzieht die Drähte dann mit einer dünnen supraleitenden Hülle.
Wie die meisten Forscher auf dem Gebiet erwartet auch Palmstrøm keinen einzelnen triumphalen Entdeckungsmoment. Aber er hofft, dass immer präzisere Experimente das lang gesuchte Teilchen allmählich ins Blickfeld rücken werden. »Wir sind getrieben, die Wahrheit zu finden«, konstatiert Palmstrøm. »Und ich glaube, das werden wir auch.«
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