»Bedtime procrastination«: Immer zu spät im Bett
Gleich schlafe ich. Nur noch schnell eine Whatsapp-Nachricht schreiben. Und Instagram, Facebook und Twitter checken. Und da ich das Smartphone ohnehin schon in der Hand habe, kann ich auch gleich noch ein paar Nachrichten lesen. – Ruck, zuck ist eine Stunde vergangen, vielleicht auch zwei oder drei. Dabei wäre eigentlich längst Schlafenszeit.
Na, haben Sie sich bei dieser Schilderung ertappt gefühlt? Tatsächlich gibt es für dieses Phänomen bereits seit einigen Jahren einen Namen: »bedtime procrastination«. Hinter dem Begriff verbirgt sich ein Aufschieben der Schlafenszeit, das oft zu Schlafmangel führt. Genutzt wurde er zum ersten Mal im Jahr 2014 von der niederländischen Sozial- und Verhaltensforscherin Floor M. Kroese. Inzwischen hat sich in der Fachliteratur folgende Definition etabliert: »Bedtime procrastination« liegt vor, wenn erstens das Einschlafen aktiv verzögert wird, zweitens ein triftiger Grund für das späte Aufbleiben fehlt und man sich drittens bewusst ist, dass das Aufschieben der Schlafenszeit negative Folgen haben könnte.
Um sich vor dem Einschlafen zu drücken, ist natürlich nicht zwangsläufig ein Handy notwendig. Man kann auch vor dem Fernseher oder dem Computer hängen bleiben – etwa weil man eine Serienfolge nach der nächsten schaut oder sich nicht von einem Videospiel losreißen kann. Ebenso können theoretisch viele andere Tätigkeiten Menschen am Zubettgehen hindern, beispielsweise Lesen oder Sport. Allerdings wurde das Phänomen erst seit dem Aufkommen von Fernseher, Handy und Computer vermehrt registriert. Fachleute gehen deshalb davon aus, dass die elektronischen Geräte mit ihren vielfältigen Formen der Unterhaltung maßgeblich zu seiner Entstehung beigetragen haben.
Rund drei von vier Menschen zögern das Schlafengehen regelmäßig hinaus
Wie häufig »bedtime procrastination« vorkommt, ist bislang noch unklar, da es keine repräsentativen Studien zu dem Thema gibt. Eine der wenigen Untersuchungen, durchgeführt von Kroese und Kolleginnen im Jahr 2014, deutet aber zumindest darauf hin, dass das Verhalten weit verbreitet ist. Rund drei Viertel der 2637 befragten niederländischen Erwachsenen gaben darin an, mindestens einmal pro Woche später ins Bett zu gehen, als sie eigentlich vorhatten, obwohl keine triftigen Gründe vorlagen. Von dieser Teilstichprobe legten sich rund die Hälfte der Teilnehmenden dreimal pro Woche oder häufiger nicht zur geplanten Uhrzeit schlafen. Fast alle fühlten sich deshalb an zwei oder mehr Tagen tagsüber müde, und mehr als zwei Drittel stuften das eigene Verhalten als problematisch ein.
Laut Daten aus den USA prokrastinieren nicht nur die Menschen in den Niederlanden häufig vor dem Zubettgehen. Eine Studie der Psychologin Jana Kühnel von der Universität Wien und ihrer Gruppe legt nahe, dass »bedtime procrastination« auch in Deutschland weit verbreitet ist. Demnach schieben die Deutschen das Schlafengehen ähnlich oft vor sich her wie die niederländischen Probanden. Für abschließende Aussagen ist es allerdings zu früh: Auch diese Erhebung sei nicht repräsentativ gewesen, erklärt Kühnel.
»Revenge bedtime procrastination«
Häufig wird die »bedtime procrastination« auch als »revenge bedtime procrastination« bezeichnet. Die Psychologin Jana Kühnel von der Universität Wien empfiehlt jedoch, die beiden Begriffe nicht synonym zu verwenden. »Revenge bedtime procrastination« hat ihrer Ansicht nach nichts mit Prokrastination zu tun. Im Allgemeinen beschreibt Prokrastination nämlich das Verhalten, als dringend und notwendig betrachtete Tätigkeiten oder Aufgaben aufzuschieben – beispielsweise Putzen oder das Schreiben einer Hausarbeit – und stattdessen etwas weniger Essenzielles von geringerer Priorität zu machen – etwa Computerspielen oder Fernsehen. »Revenge bedtime procrastination« betrachtet Kühnel stattdessen als »ein beabsichtigtes Aufschieben des Insbettgehens«, weshalb sie die Bezeichnung Prokrastination in diesem Zusammenhang nicht als wirklich sinnvoll erachtet. Vermutlich wurde das Wort »revenge« in China hinzugefügt, weil bei einer intensiven 72-Stunden-Arbeitswoche das späte Zubettgehen die einzige Möglichkeit ist, die Selbstbestimmung zu behalten. Länger aufzubleiben ist gewissermaßen die »Rache« dafür, dass dies tagsüber nicht gelingt.
Mangelnde Selbstkontrolle ist eine Ursache
Welche Faktoren erschweren ein zeitiges Zubettgehen? Wahrscheinlich hängt das Phänomen auch mit der Persönlichkeit zusammen. So legte bereits die erste Veröffentlichung aus dem Jahr 2014 von Kroese und ihren Kolleginnen nahe, dass es eine Verbindung zwischen dem Aufschieben der Schlafenszeit und der Selbstkontrolle gibt: Personen, die über eine schlechtere Selbstregulierung verfügten, berichteten auch vermehrt über »bedtime procrastination«, schreiben die Forscherinnen.
Außerdem entdeckten sie, dass vor allem solche Menschen vor dem Zubettgehen prokrastinieren, die auch sonst dazu neigen, Dinge aufzuschieben. Die einfachste Erklärung hierfür wäre ein gemeinsames zu Grunde liegendes Persönlichkeitsmerkmal, nämlich das einer geringen Selbstkontrolle, stellen Kroese und Kolleginnen in einem Kapitel des Buchs »Procrastination, Health, and Well-Being« aus dem Jahr 2016 fest. Diese führe dann vermutlich dazu, dass man lästige Aufgaben aufschiebt, während man es gleichzeitig nicht schafft, Spaß machende Aktivitäten zu beenden. Auch in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen wird das Konzept mangelnder Selbstkontrolle aufgegriffen und als wesentlicher Grund für die »bedtime procrastination« angeführt.
Versagt die Selbstregulierung, kann es zu einem »intention-behavior-gap« kommen, also einer Kluft zwischen dem Vorhaben und dem tatsächlichen Verhalten. Das passiert relativ oft, wenn es um gesundheitsförderliches Verhalten geht – man denke an Menschen, die eigentlich mehr Sport machen, gesünder essen oder das Rauchen sein lassen wollen, es aber nicht schaffen. In solchem Kontext haben Forscherinnen und Forscher den »intention-behavior-gap« bereits vielfach untersucht.
»Unser Befund widerspricht der vorherrschenden Vorstellung, dass die Prokrastination des Schlafengehens vorrangig das Ergebnis eines Mangels an Ressourcen zur Selbstregulation ist«Jana Kühnel, Psychologin
Der Einfluss des Chronotyps
Nicht alle Forschenden sind allerdings davon überzeugt, dass »bedtime procrastination« bloß eine Frage der Selbstkontrolle ist. Kühnel untersuchte 2018 gemeinsam mit zwei Kolleginnen an insgesamt 108 Angestellten aus verschiedenen Branchen, welchen Einfluss die Selbstkontrolle auf das Aufschieben des Zubettgehens hat. Außerdem nahmen die drei Psychologinnen noch einen weiteren Faktor unter die Lupe: den Chronotyp der Versuchspersonen.
Wie die in »Frontiers in Psychology« veröffentlichten Ergebnisse zeigen, neigen späte Chronotypen – auch als Abendtypen oder »Eulen« bekannt – an Arbeitstagen stärker zu diesem Verhalten als Frühtypen oder »Lerchen«. Späte Chronotypen, die am Morgen früh aufstehen müssen, um zur Arbeit zu gehen, seien gezwungen, sich an Zeitpläne anzupassen, die eigentlich für frühe Chronotypen passender sind. Da sie aber abends später müde werden, falle es ihnen schwerer, früher einzuschlafen, so Kühnel. Deshalb erlebten sie letztlich häufiger »bedtime procrastination«. »Unser Befund widerspricht der vorherrschenden Vorstellung, dass die Prokrastination des Schlafengehens vorrangig das Ergebnis eines Mangels an Ressourcen zur Selbstregulation ist«, erklärt die Forscherin.
Zwei polnische Forscher suchten 2019 nach weiteren mögliche Einflüssen, die »bedtime procrastination« begünstigen könnten. Keinen signifikanten Zusammenhang fanden die beiden zwischen dem Auftreten des Phänomens und dem Wohnort, dem Bildungsniveau und dem Familienstand der Teilnehmenden, ob diese also beispielsweise mit einem Partner, einer Partnerin oder mit Kindern zusammenlebten. Frauen neigten jedoch etwas häufiger als Männer dazu, das Einschlafen aufzuschieben. Gleiches galt für Studierende im Vergleich zu Menschen, die nicht studierten.
Schlafmangel kann ernste Folgen haben
Aus klinischer Sicht ist die »bedtime procrastination« nicht immer problematisch. Erst wenn die Betreffenden durch ihr Verhalten dauerhaft zu wenig Schlaf bekommen, kann sie gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen. Am offensichtlichsten zeigen sich die Effekte einer zu kurzen Nachtruhe direkt am nächsten Tag: Man fühlt sich schlapp und unkonzentriert, ist also sowohl körperlich als auch geistig weniger leistungsfähig. Noch schwerwiegender sind allerdings die langfristigen Auswirkungen: Permanenter Schlafmangel kann Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Fettleibigkeit, Diabetes und Depression begünstigen.
Studien deuten zudem darauf hin, dass schon geringer Schlafmangel dem Immunsystem schadet. Heranwachsende brauchen darüber hinaus eine ausreichend lange Nachtruhe, damit sich das Gehirn ordentlich entwickelt. Zu wenig Schlaf kann bei ihnen langfristig zu kognitiven Problemen führen. Außerdem verschlechtert Schlafmangel die Selbstregulierung, wodurch die Tendenz zur Prokrastination weiter zunehmen kann: ein Teufelskreis.
Untersuchungen aus China zufolge könnte der dort hohe Anteil an Depressionssymptomen unter Studentinnen und Studenten auch mit »bedtime procrastination« zusammenhängen. Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 schieben Menschen mit Symptomen einer Depression Schlaf signifikant häufiger auf als Personen ohne Beschwerden. Vor allem bei schweren Depressionssymptomen zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang mit dieser Problemantik.
Wie eine andere chinesische Untersuchung aus dem Jahr 2021 offenbart, spielt hierbei eine übermäßige Nutzung des Smartphones eine wesentliche Rolle und korreliert mit den anderen beiden Faktoren. In einer weiteren Studie aus dem gleichen Jahr zeigte sich, dass Studentinnen und Studenten mit »Smartphone-Sucht« eher mit Depressionen und Ängsten zu kämpfen hatten und häufiger das Schlafengehen aufschoben. Insbesondere solche mit geringer Selbstkontrolle waren hiervon betroffen.
Eine gute Schlafhygiene hilft, schneller zur Ruhe zu finden
Was also tun, wenn spätabends die nächste Serienfolge lockt oder so verführerisch viele Nachrichten auf dem Handy eintrudeln? Das Ziel muss nicht sein, mindestens acht Stunden pro Nacht zu schlafen oder stets vor Mitternacht ins Bett zu gehen, schreiben Kroese und ihre Kolleginnen. Sinnvolle Interventionen sollten stattdessen die Betroffenen dabei unterstützen, ihr Verhalten mit ihren Absichten in Einklang zu bringen. Hierbei ist es zunächst einmal wichtig, überhaupt einzusehen, dass das späte Zubettgehen negative Auswirkungen haben kann. Kroese empfiehlt daher, das Bewusstsein für die Folgen von Schlafmangel für Gesundheit und Wohlbefinden zu schärfen. Zwar geben viele Menschen an, eine zu kurze Nachtruhe zu haben und oft müde zu sein, doch früher ins Bett zu gehen sehen sie in der Regel nicht als Lösung an. Man sollte die Betroffenen also daran erinnern, dass schon so eine relativ simple Verhaltensänderung positive Auswirkungen hätte.
Außerdem empfiehlt Kroese, über abendliche Routinen und Schlafpräferenzen nachzudenken. So könne man sich zum Beispiel fragen, wann man eigentlich ins Bett gehen möchte und was man vorhat. Darauf aufbauend ließen sich konkrete Ziele zur Schlafenszeit festlegen.
Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass auch eine gesunde Schlafhygiene hilft, die Nachtruhe nicht aufzuschieben. Dazu zählen unter anderem das Unterlassen von stimulierenden Aktivitäten vor dem Zubettgehen und ein regelmäßiger Schlaf-wach-Rhythmus – alles Dinge, die auch bei Schlafstörungen wirken, bei denen die Betroffenen entweder nur schwer einschlafen können oder aber häufig aufwachen und für längere Zeit wach liegen.
Sinnvoll sind zudem klare Regeln, die man sich selbst auferlegt. Zum Beispiel: kein Handy im Schlafzimmer. Oder konsequent ab einer bestimmten Uhrzeit alle elektronischen Unterhaltungsmedien und das Licht ausschalten. Außerdem hilft es, die Umgebung generell so zu gestalten, dass Verlockungen nicht immer präsent sind – indem man etwa den Computer stets im Arbeitszimmer lässt oder nur einen Fernseher im Wohnzimmer aufstellt. Psychotherapeuten empfehlen, sich tagsüber mehr Freiräume für schöne Aktivitäten und Entspannung zu schaffen, um sich diese nicht erst am Abend durch ausufernde Bildschirmzeit zu nehmen. Denn schon am nächsten Tag bezahlt man für diese Form der Unterhaltung einen Preis, der auf Dauer immer höher wird. Daher: Fernseher aus, Handy weg und Augen zu!
Übermüdete Gesellschaft
Obgleich der Schlafbedarf individuell sehr unterschiedlich ausfällt, empfehlen Schlafforscher Erwachsenen sieben bis neun Stunden Schlaf pro Nacht. Gemessen daran könnte die Nachtruhe von fast der Hälfte der Deutschen ab 18 Jahren zu kurz sein, wie eine Umfrage mit 1000 Teilnehmenden für den Statista Global Consumer Survey aus dem Jahr 2021 nahelegt. Rund zwei Drittel der Befragten schlafen an Wochentagen durchschnittlich fünf bis sieben Stunden pro Nacht. 15 Prozent kommen auf sieben bis acht Stunden. Nur ein sehr geringer Anteil von drei Prozent erreicht wochentags mehr als acht Stunden Schlaf. Auch Kinder und Jugendliche schlafen nicht genug, wie die Stiftung Kindergesundheit in einer Stellungnahme aus dem März 2022 beklagt. Jeder Achte der 12- bis 17-Jährigen, die zwischen acht und zehn Stunden schlafen sollten, würde unter chronischem Schlafmangel leiden, so die Stiftung.
Die Gründe für zu wenig Schlaf können unterschiedlich sein. Laut der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung (DGSM) leiden 20 bis 30 Prozent der Deutschen an gelegentlichen und sechs Prozent an chronischen Schlafstörungen. Beim Rest sind jedoch andere Faktoren verantwortlich, darunter solche, die sie selbst beeinflussen können. Wie eine Umfrage der TK im Jahr 2017 ergab, ist der meistgenannte Grund für ein spätes Zubettgehen der allabendliche Medienkonsum. Sofern diese Personen eigentlich früher ins Bett gehen wollen, betreiben die Befragten also Prokrastination des Zubettgehens.
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