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Nanomechanik: Bergauf stolpernde Moleküle

Für gewöhnlich wandern molekulare Teilchen in Richtung des geringeren Widerstands. Es sei denn, sie fangen an, sich gegenseitig zu beeinflussen - dann werden die Verhältnisse komplizierter. Dennoch lassen sie sich gezielt steuern.
Ratsche
Freiwillig kehrt verschüttete Milch nicht in die Flasche zurück. Im Prinzip könnte sie es, denn all ihre Moleküle befinden sich ständig in Bewegung, angetrieben von der Umgebungswärme. Tatsächlich gelingt einigen sogar die Flucht aus dem Pfützenverband. Durch glücklichen Zufall erhalten sie von den Nachbarn so viel geschubste Unterstützung, dass sie der Schwerkraft ein Schnippchen schlagen und sich in eine kurzzeitige Lücke zwischen den Luftmolekülen drängen können. Auf diese Weise verdunstet die Milch nach und nach. Würde sie in der Luft dann noch den Weg zurück durch den Flaschenhals wählen, wäre das Malheur ungeschehen gemacht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Billionen Billionen Teilchen ausgerechnet die passende Richtung einschlagen, ist gering. Ziemlich gering. Sagen wir: praktisch unmöglich.

Der bewegte Zufall alleine nützt folglich nichts, wenn wir Ordnung schaffen wollen. Nötig sind Mechanismen, die dem Ganzen eine Richtung weisen. Die aus einem wechselnden Hin und Her ein entschlossenes Hin machen. Und die gibt es tatsächlich – womöglich haben Sie sogar ein Exemplar in Ihrem Werkzeugkasten. Als "Knarre" oder "Ratsche" ersparen uns diese Wunderwerke der verborgenen Mechanik das lästige Umgreifen am Schraubenzieher: Während wir den Griff oder Hebel nach links und rechts verdrehen, sorgen eine Feder und ein asymmetrisches Zahnrad im Inneren dafür, dass es in die verkehrte Richtung nur knattert – weil die Feder über die flachen Flanken der Zähne springt – und in die richtige dreht – dann hat die Feder sich an einer steilen Flanke festgebissen.

Für dieses Ratschenprinzip interessieren sich neben Heimwerkern auch Wissenschaftler, deren Objekte im Nanomaßstab ebenfalls ein bestimmtes Ziel erreichen sollen, ohne einen anderen Motor als den Zufall zu benutzen. Biologen beispielsweise, denen noch immer weit gehend ein Rätsel ist, wie lebende Zellen mit der molekularen Übervielfalt in sich jonglieren. Oder Physikochemikern, deren Reaktionen auf diffundierenden Nachschub angewiesen sind. Und Ingenieure, die sich Gedanken über vagabundierende Wirbel in Supraleitern machen. Kurz: Zufallswanderungen und ihre Lenkung haben auf molekularer Ebene eine Bedeutung, die umgekehrt zu ihren räumlichen Dimensionen steht.

An dem Punkt mit der Lenkung haben Wissenschaftler um Victor Moshchalkov von der Universität Leuven in den Niederlanden nun einen Teilerfolg erzielt: Sie können bestimmen, in welche Richtung der Fluss netto geht, indem sie die Anzahl der Teilchen variieren. Die ersten Schritte nahmen sie noch mit Bleistift und Computer vor. In einem eindimensionalen Modell legten sie ein asymmetrisches Ratschenpotenzial mit zwei Senkentypen aus – was etwa einer Zahnstange entspricht, deren Vertiefungen jeweils zwei Mulden enthalten, von denen eine ein kleines bisschen tiefer als die andere ist. Stück für Stück gaben die Forscher in diese Landschaft Teilchen, die sich gegenseitig abstießen, so wie es in der Realität beispielsweise gleichnamige Ladungen tun. Eine mathematische Simulation der Moleküldynamik zeigte dann erstaunliche Effekte.

Für ein einzelnes Teilchen verlief noch alles wie erwartet. Da die flachere der beiden Untermulden wie eine Treppe wirkte, entkam das Teilchen auf dieser Seite leichter aus dem Tief, weshalb es im Schnitt in deren Richtung wanderte. Sobald sich aber in der Vertiefung zwei Teilchen befanden, drehte sich die Nettorichtung um. Nun waren beide Untermulden belegt. Fiel das Teilchen aus der flacheren in die tiefere – was der energetisch einfachste Übergang war –, drückte es mit seiner Abstoßungskraft das dort bereits sitzende Teilchen weg, sodass im Schnitt leichter eines von ihnen über die steile Flanke sprang als über die niedrigere Barriere. Ebenso verlief die Simulation bei drei, fünf und anderen ungeraden Teilchenzahlen: Unter dem Strich wanderten die Teilchen gegen die "natürliche" Richtung, welche das Ratschenpotenzial vorgibt. Bei geraden Anzahlen verhielten sie sich hingegen, wie wir intuitiv erwarten würden.

Dass ihre theoretischen Resultate auch in der Realität Bestand haben, zeigten die Forscher in einem Experiment mit Supraleitern. Dazu versahen sie eine Probe mit regelmäßigen Löchern in zwei verschiedenen Größen, die als Potenzialmulden dienten. Die Rolle der Teilchen übernahmen kleine Wirbel, die ein magnetisches Moment trugen. Angetrieben wurden die Zufallsbewegungen durch ein oszillierendes elektrisches Feld. Wie vorausberechnet ergab sich eine Spannung, deren Vorzeichen von der Anzahl der Wirbel abhing. Der Zufall war plötzlich kalkulierbar geworden.

Ob und inwieweit natürliche Systeme von diesem Steuermechanismus Gebrauch machen, bleibt noch abzuklären. Denkbar wäre beispielsweise, dass Ionenkanäle in biologischen Membranen die Menge der durchlaufenden geladenenen Teilchen modulieren, um so die Flussrichtung festzulegen. Auch die Transportprozesse an den Mikrotubuli genannten fädigen Strukturen im Zellinneren mögen ähnlich von der gelenkten Zufälligkeit profitieren. Nur bei der verschütteten Milch, da wird auch weiterhin kein noch so großer Knarrenkasten den Aufwischlappen ersetzen können.

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