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Big Data zur Verhaltenssteuerung?: "Big Nudging" - zur Problemlösung wenig geeignet

Wer über große Datenmengen verfügt, kann Menschen auf subtile Weise manipulieren. Doch auch Gutmeinende laufen Gefahr, mehr falsch als richtig zu machen, kommentiert Dirk Helbing.
Glasfaserkabel für digitale Daten

Befürworter des Nudgings argumentieren, dass der Mensch nicht optimal entscheidet und dass man ihm daher helfen müsse (Paternalismus). Dabei wählt Nudging jedoch nicht den Weg des Informierens und Überzeugens. Vielmehr werden psychologische Unzulänglichkeiten ausgenutzt, um uns zu bestimmten Verhaltensweisen zu bringen. Wir werden also ausgetrickst. Der zu Grunde liegende Wissenschaftsansatz wird "Behaviorismus" genannt und ist eigentlich längst veraltet.

Vor Jahrzehnten richtete Burrhus Frederic Skinner Ratten, Tauben und Hunde durch Belohnung und Bestrafung ab (zum Beispiel durch Futter und schmerzhafte Stromschläge). Heute versucht man Menschen durch vergleichbare Methoden zu konditionieren. Statt in der Skinner-Box sind wir in der "filter bubble" gefangen: Mit personalisierter Information wird unser Denken geleitet. Mit personalisierten Preisen werden wir bestraft oder belohnt, zum Beispiel für (un)erwünschte Klicks im Internet. Die Kombination von Nudging mit Big Data hat also zu einer neuen Form des Nudgings geführt, die man als "Big Nudging" bezeichnen könnte. Mit den oft ohne unser Einverständnis gesammelten persönlichen Daten offenbart sich, was wir denken, wie wir fühlen und wie wir manipuliert werden können. Diese Insiderinformation wird ausgenutzt, um uns zu Entscheidungen zu bringen, die wir sonst nicht treffen würden, etwa überteuerte Produkte zu kaufen oder solche, die wir nicht brauchen, oder vielleicht unsere Stimme einer bestimmten Partei zu geben.

Die Kombination von Nudging mit Big Data hat zu einer neuen Form des Nudgings geführt, die man als "Big Nudging" bezeichnen könnte

Vor allem ist Big Nudging aber zur Lösung vieler Probleme ungeeignet. Besonders gilt das für die komplexitätsbedingten Probleme dieser Welt. Obwohl bereits 90 Länder Nudging verwenden, haben die gesellschaftlichen Probleme nicht abgenommen. Im Gegenteil. Die Klimaerwärmung schreitet ungebremst voran. Der Weltfrieden ist brüchig geworden und die Sorge vor Terrorismus allgegenwärtig. Cyberkriminalität explodiert, und auch die Wirtschafts- und Schuldenkrise ist vielerorts immer noch ungelöst.

Gegen die Ineffizienz der Finanzmärkte hat auch "Nudging-Papst" Richard Thaler kein Rezept zur Hand. Aus seiner Sicht würde eine staatliche Steuerung die Probleme eher verschlimmern. Warum sollte dann aber unsere Gesellschaft top-down steuerbar sein, die noch viel komplexer als ein Finanzmarkt ist? Komplexe Systeme lassen sich nicht lenken wie ein Bus. Das wird verständlich, wenn wir ein weiteres komplexes System betrachten: unseren Körper. Dort erfordert die Heilung von Krankheiten, das richtige Medikament zum richtigen Zeitpunkt in der richtigen Dosis einzunehmen. Viele Behandlungen haben überdies starke Nebenwirkungen. Nichts anderes gilt für gesellschaftliche Eingriffe mittels Big Nudging. Oft ist keineswegs klar, was gut oder schlecht für die Gesellschaft ist. 60 Prozent der wissenschaftlichen Resultate aus der Psychologie sind nicht reproduzierbar. Es besteht daher die Gefahr, mehr falsch als richtig zu machen.

Überdies gibt es keine Maßnahme, die für alle Menschen gut wäre. Zum Beispiel haben in den letzten Jahrzehnten Ernährungsratgeber ständig wechselnde Empfehlungen gegeben. Viele Menschen leiden an Lebensmittelunverträglichkeiten, die sogar tödlich enden können. Auch Massen-Screenings gegen bestimmte Krebsarten und andere Krankheiten werden inzwischen kritisch gesehen, weil Nebenwirkungen und Fehldiagnosen die Vorteile oft aufwiegen. Beim Big Nudging bräuchte es daher wissenschaftliche Fundierung, Transparenz, ethische Bewertung und demokratische Kontrolle. Die Maßnahmen müssten statistisch signifikante Verbesserungen bringen, die Nebenwirkungen müssten vertretbar sein, die Nutzer müssten über sie aufgeklärt werden (wie bei einem medizinischen Beipackzettel), und die Betroffenen müssten das letzte Wort haben.

Es gibt keine Maßnahme, die für alle Menschen gut wäre

Es ist zu befürchten, dass die Anwendung ein- und derselben Maßnahme auf die Gesamtbevölkerung oft mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Wir wissen aber bei Weitem nicht genug, um individuell passende Maßnahmen zu ergreifen. Nicht nur das richtige Mischungsverhältnis ist wichtig (also Diversität), sondern auch die richtige Korrelation (wer welche Entscheidung in welchem Kontext trifft). Für das Funktionieren der Gesellschaft ist es wesentlich, dass wir verschiedene Rollen einnehmen, die situativ passfähig sind. Davon ist Big Nudging weit entfernt.

Die heute angewandten Big-Data-basierten Personalisierungsverfahren schaffen vielmehr das Problem zunehmender Diskriminierung. Macht man zum Beispiel Versicherungsprämien von der Ernährung abhängig, dann werden Juden, Moslems und Christen, Frauen und Männer unterschiedliche Tarife zahlen. Damit tut sich eine Fülle neuer Probleme auf.

Richard Thaler wird daher nicht müde zu betonen, dass Nudging nur auf gute Weise eingesetzt werden sollte. Als Musterbeispiel, wie Nudging funktionieren könnte, nannte er einen GPS-basierten Routenleitassistenten. Der wird jedoch vom Nutzer selbst ein- und ausgeschaltet. Der Nutzer gibt das jeweilige Ziel vor. Der digitale Assistent bietet mehrere Alternativen, zwischen denen bewusst ausgewählt wird. Der digitale Assistent unterstützt den Nutzer so gut er kann dabei, sein eigenes Ziel zu erreichen und auf dem Weg dorthin bessere Entscheidungen zu treffen. Das wäre sicherlich der richtige Ansatz, aber die eigentliche Konzeption von Big Nudging ist eine andere.

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