Charles Darwin: Evolutionstheorie auf dem Prüfstand
Charles Darwin (1809–1882) zögerte viele Jahre, bevor er seine Evolutionstheorie veröffentlichte. Ihm war bewusst, dass die Theorie, so einfach ihre Grundprinzipien schienen, etliche biologische Phänomene nicht ohne Weiteres erklären konnte. Er hätte noch länger gezaudert, hätte er nicht in den 1850er Jahren erfahren, dass der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913) ähnliche Ideen entwickelte wie er selbst. Darwin hatte zu jenem Zeitpunkt bereits 20 Jahre an der Theorie gearbeitet und fürchtete, Wallace könne ihm mit einer Publikation zuvorkommen.
Quasi in einer Vorabveröffentlichung ließen beide Naturforscher die Grundzüge ihres Konzepts 1858 vor der Linnean Society of London verlesen, stießen aber zunächst auf wenig Resonanz. Erst mit dem Buch »On the Origin of Species by Means of Natural Selection«, das im Jahr darauf erschien, wurde Darwins Evolutionstheorie einem breiten Publikum bekannt. Im Kern des Werks steht – anders als der Titel vermuten lässt – nicht die Frage, wie sich neue Arten herausbilden, sondern der Mechanismus der natürlichen Selektion. Einleitend fasst Darwin dessen Eckpfeiler in zwei Sätzen zusammen, hier in deutscher Übersetzung wiedergegeben:
»Da viel mehr Individuen jeder Art geboren werden, als möglicherweise überleben können, und da es somit einen häufig wiederkehrenden Kampf ums Dasein gibt, folgt daraus, dass jedes Wesen, wenn es sich auch nur geringfügig in irgendeiner Weise verändert, die unter den komplexen und manchmal wechselnden Bedingungen des Lebens vorteilhaft ist, eine bessere Überlebenschance hat und somit natürlich ausgewählt wird. Auf Grund des starken Prinzips der Vererbung wird jede ausgewählte Sorte dazu neigen, ihre neue und modifizierte Form zu verbreiten.«
Hierin steckt alles, was man über die wesentlichen Prinzipien der natürlichen Selektion wissen muss. Aus der Kombination von Überschuss an Nachkommen, Existenzkampf, Variation, Vererbung und ökologischen Rahmenbedingungen folgt die Anpassung an die Umwelt. Diese Zusammenhänge lassen sich experimentell beliebig oft reproduzieren und stellen eine gesicherte Gesetzmäßigkeit dar. Insofern handelt es sich eigentlich nicht mehr um eine Theorie im alltagsgeläufigen Sinn, weshalb wir meist von Evolutionsbiologie statt von Evolutionstheorie sprechen.
Einige Wissenschaftler fordern heute, die theoretischen Grundlagen der Evolutionsbiologie zu überarbeiten, um eine so genannte erweiterte evolutionäre Synthese zu schaffen. Die derzeit gängige Synthetische Evolutionstheorie, so ihr Argument, reiche nicht mehr, um das Evolutionsgeschehen hinreichend abzubilden. Stimmt das? Sind Darwins und Wallaces Ideen obsolet geworden? Hätten die beiden ihr Gedankengebäude so ähnlich formuliert, wenn sie über die heutigen biologischen Erkenntnisse verfügt hätten?
Darwin selbst war sein größter Kritiker. Er erkannte, dass man zunächst verstehen müsse, wie sich Organismen entwickeln und ihre Merkmale vererben, bevor man richtig einschätzen könne, wie Variation und Vererbung das evolutionäre Geschehen prägen. Als um 1900 herum die mendelschen Regeln wiederentdeckt wurden, verwiesen Forscher darauf, diese würden mit den darwinschen Ideen kollidieren, da sie nicht mit der Annahme »geringfügiger Veränderungen« vereinbar seien. Mutationen schienen nur große Effekte auszulösen, nicht aber die kleinen Variationen, die Darwin postuliert hatte. Dies löste einen Schub neuer Evolutionstheorien aus, und Darwin und Wallace gerieten beinahe in Vergessenheit.
Doch dann tauchte mit dem britischen Evolutionstheoretiker Ronald Fisher (1890–1962) ein Wissenschaftler auf, der nicht nur die biologischen Aspekte berücksichtigte, sondern auch die mathematisch-statistischen Konsequenzen eines Vererbungsmechanismus, der gemeinsam wirkende Gene in jeder Generation neu zusammenwürfelt. Fisher zeigte: Mutation, Variation und Selektion sind vereinbar mit den mendelschen Regeln, wenn man sie auf ganze Populationen anwendet und über viele Generationen hinweg betrachtet. In seinem Buch »The Genetical Theory of Natural Selection« (1930) handelte er die statistischen Konsequenzen der mendelschen Genetik derart umfassend ab, dass es bis heute nur wenige gibt, die behaupten können, alles darin verstanden zu haben.
Die Evolutionsbiologen leiteten aus diesen Arbeiten insbesondere die Grundlagen der Populationsgenetik ab und konnten darüber hinaus Darwins Ideen mit neuen biologischen Erkenntnissen vereinen. Es erschienen einflussreiche Bücher von Biologen und Evolutionsforschern, die einem größeren Publikum verständlich waren. Dazu gehörte »Genetics and the Origin of Species« (1937) von Theodosius Dobzhansky, »Systematics and the Origin of Species« (1942) von Ernst Mayr sowie »Evolution: The Modern Synthesis« (1942) von Julian Huxley.
Im Zuge dieser Debatte verfestigte sich der Begriff der »Modernen Synthese« der Evolutionsbiologie. Gemeint war keine neue Evolutionstheorie, sondern eine besser verständliche Formulierung einschlägiger mathematischer Zusammenhänge – quasi das Umschreiben von Gleichungen in Naturgeschichte. Letztlich ist die Moderne Synthese eine Mischung aus Theorien, Beobachtungen und experimentellen Befunden der Genetik, Embryologie, Zoologie, Botanik, Ökologie, Paläontologie und Molekularbiologie. Sie versöhnt die mendelsche Genetik mit der darwinschen Vorstellung einer graduellen Evolution (welche in vielen Zwischenschritten und nicht sprunghaft abläuft). Ihre wichtigste Erkenntnis lautet, das Auftauchen neuer Arten sei nur mit Hilfe der Populationsgenetik erklärbar. Darwin selbst hatte sich nur zurückhaltend dazu geäußert, wie Spezies entstehen – schon deshalb, weil er nicht über eine brauchbare Definition des Speziesbegriffs verfügte.
Die Schulen lehren Evolutionsbiologie heute gestützt auf die Moderne Synthese. Dabei entsteht oft der Eindruck, der Erkenntnisgewinn sei abgeschlossen und alle evolutionären Phänomene seien erklärbar. Sowohl die Evolutionsbiologie als auch die Genetik, Ökologie, Verhaltensforschung und Entwicklungsbiologie entwickeln sich aber ständig weiter. Forscherinnen und Forscher machen laufend empirische und experimentelle Entdeckungen, genauso wie es ständig theoretische Fortschritte gibt. Somit stellt sich die Frage, ob eine »erweiterte evolutionäre Synthese« notwendig sei. Einige Evolutionsbiologen, etwa Kevin Laland von der University of St Andrews (Großbritannien), fordern sie nachdrücklich, weil sie nicht sehen, wie sich manche empirischen Beobachtungen in das bestehende Theoriegebäude einfügen lassen. Es geht ihnen aber nicht darum, die gegenwärtigen Erklärungen des evolutionären Geschehens aufzugeben, sondern sie wollen diese erweitern. Wie das konkret erfolgen soll, ist freilich weniger klar. Zudem teilen viele Biologen nicht die Ansicht, dass es einer solchen Überarbeitung bedarf.
Die Moderne Synthese hat bereits mehrere wichtige Weiterentwicklungen durchlaufen, insbesondere im Hinblick darauf, welche Rolle der Existenzkampf spielt, woher die Variation kommt und wie ökologische Faktoren auf die Artbildung einwirken. In neuerer Zeit kamen die Erkenntnisse zur epigenetischen und polygenen Vererbung hinzu. Zudem ist das Fach immer stärker von Computermodellen und Mathematisierung geprägt, um über das »bloße Geschichtenerzählen« hinauszugehen. Aktuell hat das beispielsweise eine große Bedeutung, um Infektionszyklen und die Ausbreitung von Virusmutanten zu beschreiben.
Wer eine »erweiterte evolutionäre Synthese« fordert, sollte sich zunächst darüber klar werden, welche konzeptuellen Fortschritte es schon gegeben hat und wo das Fach jetzt steht.
Gibt es einen Existenzkampf?
Darwin hat den »Struggle for Existence« als einen Faktor der natürlichen Selektion benannt. Viele interpretieren das als »Überleben des Stärkeren« in einem Kampf aller gegen alle. Manche erheben es sogar zum Kern des Darwinismus. Aber schon seit den 1940er Jahren rätseln Evolutionsbiologen, wie eine allgegenwärtige Rivalität damit vereinbar sei, dass wir fast überall kooperierende Individuen beobachten. Wieso arbeiten die diversen Mitglieder eines vielzelligen Organismus zusammen, wenn am Ende nur die Keimzellen in die nächste Generation gehen? Weshalb kooperieren Insekten, obwohl sich nur ihre Königin fortpflanzt? Warum helfen Menschen sich gegenseitig, wenn sie keinen direkten Vorteil daraus ziehen? Sogar Bakterien tun sich zusammen, um Nahrungsquellen gemeinsam besser zu nutzen oder sich kollektiv gegen Viren zu verteidigen.
Um dies zu erklären, haben Evolutionsbiologen zunächst vorgeschlagen, nicht Individuen würden selektiert, sondern Gruppen. Das würde Kooperation quasi zu einem zusätzlichen Evolutionsprinzip machen. Doch dieser Ansatz lässt sich nicht aufrechterhalten, da Trittbrettfahrer und Betrüger die Gemeinschaft ausnutzen können, ohne selbst in sie zu investieren. Sie verschaffen sich damit persönliche Vorteile, die zu Lasten der anderen gehen. Gibt es zu viele Betrüger, bricht die Gruppe zusammen, auch wenn Zusammenarbeit langfristig zu besseren Anpassungen und höheren Überlebenschancen führen würde. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Gefangenendilemma.
Das Wechselspiel zwischen Kooperation, Konflikt und Interessenausgleich hat sich tatsächlich als eines der komplexesten – und immer noch nicht völlig gelösten – Probleme der Evolutionsbiologie herausgestellt. Es lässt sich intuitiv nur begrenzt erfassen; man braucht eine theoretische Herangehensweise und leistungsfähige mathematische Modelle hierfür.
Der »Kampf ums Dasein« weicht inzwischen der »evolutionär stabilen Strategie« (ESS) – ein Konzept, das der Theoretische Biologe John Maynard Smith und der Populationsgenetiker George Robert Price 1973 eingeführt haben. Die ESS repräsentiert eine Strategie, die eine Population robust gegen Eindringlinge macht. Sofern hinreichend viele Mitglieder einer Gruppe sie anwenden, lässt sie sich durch keine Alternativstrategie verbessern. Ist sie erreicht, haben Betrüger, die gegen sie verstoßen, keine systematischen Vorteile mehr.
Die ESS findet eine Entsprechung in den Wirtschaftswissenschaften: das so genannte Nash-Gleichgewicht. Beide lassen sich mit Methoden der Spieltheorie untersuchen. Das Individuum bleibt zwar generell die Einheit der Selektion, doch es befindet sich nicht in einem kontinuierlichen Existenzkampf, sondern ist Teil eines kooperativen »Spiels«, in dem der Erfolg des eigenen Verhaltens vom Verhalten der Mitspieler abhängt.
Woher kommt die Variation?
Darwin hatte erkannt, dass für die natürliche Selektion ein Vererbungsmechanismus erforderlich ist. Um welche molekulare Maschinerie es sich dabei handelt, wissen wir erst seit der Entschlüsselung der DNA-Struktur durch die Molekularbiologen James Watson und Francis Crick im Jahr 1953; Daten der Biochemikerin Rosalind Franklin hatten diese Entdeckung möglich gemacht. Den Vorreitern der Modernen Synthese war der Mechanismus noch nicht gewärtig; folglich konnten sie ihn nicht in ihrem Theoriegebäude berücksichtigen. Heute ist klar: Genetische Variation entsteht durch Veränderungen in der DNA, meist durch Austausch von Basenpaaren, den »Buchstaben« der Erbinformation. Wenn Organismen ihre DNA vervielfältigen, funktioniert das zwar weitgehend fehlerfrei, aber nicht völlig perfekt. In jeder Generation treten neue Fehler beziehungsweise Mutationen auf, aus denen die von Darwin postulierten Variationen folgen, an denen dann wiederum die Selektion ansetzt.
Der japanische Genetiker Motoo Kimura stellte in den 1960er Jahren allerdings die These auf, die meisten Mutationen würden sich nicht mittels Selektion, sondern durch neutrale Zufallseffekte durchsetzen. Mit Gleichungen aus der Diffusionstheorie leitete er Gesetzmäßigkeiten ab, wonach beispielsweise die Zeit, bis sich eine solche Mutation durchgesetzt hat, dem Vierfachen der Populationsgröße in Generationen entspricht. Auf derartigen Berechnungen fußt die »neutrale Evolutionstheorie«, die heute einen der wichtigsten Eckpfeiler der Evolutionsbiologie darstellt. Denn sie lässt sich in Formeln fassen, die Vorhersagen erlauben, und ermöglicht es, die Wirkung natürlicher Selektion als statistische Abweichung zu erkennen.
Wir wissen heute, dass Abwandlungen in DNA-Sequenzen mehrheitlich den Gesetzen der neutralen Evolutionstheorie folgen. Darauf basieren genetische Analysen von Abstammungsverhältnissen und so genannte molekulare Uhren, mit denen sich Altersabschätzungen auf Grund von DNA-Sequenzvergleichen vornehmen lassen.
Die japanische Genetikerin Tomoko Ohta erweiterte 1973 die neutrale Evolutionstheorie. In ihre »Nearly Neutral Theory« bezog sie zusätzlich genetische Modifikationen ein, die nicht strikt neutral sind, sondern positive oder negative Effekte auf den Phänotyp haben können. Ohta zeigte: Um bei solchen Varianten zu verstehen, ob und wie sie sich evolutionär durchsetzen, muss man die Größe der Population berücksichtigen, in der sie auftreten. In kleinen Gruppen können selbst deutlich vorteilhafte Mutationen durch Zufallsdrift verloren gehen, während in großen Populationen auch genetische Abwandlungen mit minimalem Effekt zu einer ökologischen Anpassung beitragen.
Das gefallene Dogma
Es war vor allem der deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr, der das Prinzip der allopatrischen Artbildung bekannt machte – als eine der wichtigsten Erkenntnisse der Modernen Synthese. Es handelt sich hier um die erste echte Theorie der Artbildung (»Speziation«). Sie hatte sich aus theoretischen Überlegungen ergeben und folgte aus den Prinzipien der Populationsgenetik und des Genflusses.
Getrennte Spezies zeichnen sich nach vorherrschendem Verständnis dadurch aus, dass sie untereinander kein Erbmaterial mehr austauschen, bezüglich ihrer Fortpflanzung also voneinander isoliert sind. Die von Ronald Fisher entwickelten Formeln zum Genfluss zeigen aber: Bereits wenige Prozent Austausch pro Generation genügen, damit ein einheitlicher Genpool erhalten bleibt. Daraus ergibt sich eine hohe Hürde für das Entstehen neuer Arten. Dies brachte Mayr dazu, das Dogma der allopatrischen Artbildung aufzustellen, wonach nur die räumliche Trennung von Populationen einen wirksamen Mechanismus darstellt, neue Spezies hervorzubringen. Damit gab Mayr die Sicht auf, eine Anpassung an die Umwelt leiste ebenfalls einen wichtigen Beitrag zur Speziation, wie es noch Darwin und Wallace vermutet hatten.
Dieses Dogma hat die Evolutionsbiologie jahrzehntelang geprägt. Viele Wissenschaftler hielten eine Artbildung ohne räumliche Trennung, in der Fachsprache als sympatrische Speziation bezeichnet, nur in Spezialfällen für möglich. Manche gingen so weit, abweichende Forschungsergebnisse aktiv zu unterdrücken.
Es bedurfte letztlich einer neuen Forschergeneration, um das Dogma zu durchbrechen. Eine der wichtigsten theoretischen Überlegungen hierbei lautete, dass es in einer Population, die sich an eine Umwelt optimal angepasst hat, zu Konkurrenz kommt. Die meisten Individuen tragen dann die gleiche Adaptation und konkurrieren somit um dieselben Ressourcen. Das macht die eigentlich vorteilhafte Anpassung wieder zum Nachteil. Man kann das mit Goldgräbern vergleichen, die auf eine neue Ader stoßen. Die ersten haben große Aussicht auf Gewinn, doch wenn viele weitere hinzukommen, überwiegen irgendwann die Kosten der gegenseitigen Rivalität. Es kann dann für Einzelne sinnvoll sein, nicht mehr nach Gold zu suchen, sondern beispielsweise einen Saloon oder ein Geschäft zu eröffnen.
In natürlichen Populationen geschieht Ähnliches. Individuen mit genetischen Abweichungen, die es ihnen erlauben, neue Ressourcen zu nutzen, haben einen Vorteil gegenüber der Masse, die von der Hauptressource abhängt. Allerdings führt dies wegen des ständigen Genflusses nicht sofort zu einer Aufspaltung in getrennte Spezies. Es muss ein weiterer Faktor dazukommen – etwa das bevorzugte Paaren gleich angepasster Individuen (die »assortative Paarung«) oder ein ökologischer Gradient, beispielsweise räumliche Unterschiede in der Umgebungstemperatur, der Feuchte oder der Bodennährstoffe. Solche Faktoren können eine Trennung von Genpools vorantreiben und damit die so genannte adaptive Artbildung ermöglichen, und zwar viel schneller als der allopatrische Mechanismus. Das erklärt, warum sich zahlreiche Spezies laufend in neue aufspalten, ohne dass eine strenge räumliche Separation vorliegt. Artbildung ist damit nicht nur ein passiv räumliches Phänomen, sondern auch ein aktiv ökologisches – so, wie Darwin und Wallace es sich vorgestellt hatten.
Rückkehr zu Lamarck?
Der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) erkannte noch vor Darwin als einer der Ersten, dass Arten nicht unveränderlich sind, sondern sich durch Anpassung an die Umwelt weiterentwickeln. Er nahm an, Organismen würden während ihres Lebens Eigenschaften erwerben, die sie dann ihren Nachkommen vererben.
Auch Darwin ging von einem solchen Mechanismus aus und brachte ihn in Zusammenhang mit der Zelltheorie. Er vermutete, jede Körperzelle würde kleine Keime absondern, so genannte Gemmulae, die im Organismus zirkulieren, in die nächste Generation weitergegeben werden und so den Nachwuchs prägen. Dem widersprach die Entdeckung der Keimbahn im späten 19. Jahrhundert durch den deutschen Arzt August Weismann (1834–1914). Demnach sind die Keimzellen (Spermien und Eizellen) als Gründer der nächsten Generation klar von den Körperzellen getrennt. Auch die mendelschen Regeln sowie die Erkenntnis, auf welchem Mechanismus die Vererbung beruht, schienen die Weitergabe individuell angeeigneter Eigenschaften an die Nachkommen zu widerlegen.
Doch dieses Bild hat sich mittlerweile grundlegend gewandelt. Inzwischen kennen wir molekulare Vorgänge, die dafür sorgen, erworbene Merkmale in die nächste Generation zu tragen: die so genannten epigenetischen Prägungen. Sie betreffen nicht die Buchstabenfolge der DNA selbst, also ihre Basensequenz, sondern geschehen durch chemische Abänderungen an der DNA – etwa das Übertragen von Methylgruppen auf DNA-Bausteine. Dies legt gewissermaßen einen Regulationsschalter um, der darüber bestimmt, wie aktiv das betroffene Gen ist.
Epigenetische Prägungen sorgen unter anderem dafür, dass Blut-, Leber- oder Nervenzellen unterschiedliche Funktionen im Organismus ausüben, obwohl sie alle die gleiche DNA-Sequenz in sich tragen. Wie Oliver Rando von der University of Massachusetts und Rebecca Simmons von der University of Pennsylvania 2015 in einer systematischen Übersichtsarbeit nachgewiesen haben, können epigenetische Prägungen, die durch Umwelteinflüsse entstehen – beispielsweise durch ein verändertes Nahrungsangebot –, in die Keimbahn gelangen. Sie bleiben dann in der nächsten Generation bestehen, selbst wenn ihr Auslöser weggefallen ist.
Wahrscheinlich geschieht dies auf eine Weise, die an Darwins Gemmulae erinnert. Alle Körperzellen sondern kleine Bläschen namens Exosomen ab, die durch den Organismus wandern. Sie enthalten Teile der Zellen, von denen sie stammen – darunter regulatorische RNA-Moleküle, die DNA epigenetisch modifizieren können. Zumindest für Spermien ist inzwischen bekannt, dass sie solche Bläschen während ihrer Reifung aufnehmen, womit die Möglichkeit besteht, epigenetische Information auf den Nachwuchs zu übertragen. So haben Forscher um Wei Zhou von der University of Newcastle, Australien, im Jahr 2019 gezeigt, dass Exosomen aus den Nebenhoden der Maus an heranreifende Spermien koppeln und Moleküle an sie übergeben. Ein weiteres Team um Lucia Vojtech von der University of Washington demonstrierte 2014: Menschliches Sperma enthält unzählige Exosomen, die mit RNA-Molekülen vermutlich regulatorischer Funktion beladen sind. Obgleich dies nicht ganz dem Mechanismus entspricht, den Darwin sich vorstellte, macht es doch klar, dass Körper und Keimbahn nicht völlig getrennt sind. In einer systematischen Übersichtsarbeit von 2019 hat die Biologin Upasna Sharma von der University of California, Santa Cruz, mehr als 150 Studien zusammengetragen, die das Konzept einer generationenübergreifenden Weitergabe epigenetischer Informationen stützen.
Im Hinblick auf diese Erkenntnisse fordern die Verfechter einer »erweiterten Synthese«, die Evolutionstheorie grundsätzlich zu überarbeiten. Ihr Argument: Epigenetische Prägungen sollten die Anpassung an neue Umweltbedingungen wesentlich beschleunigen, was es erfordere, Fishers populationsgenetische Formeln anzupassen. Es liegt jedoch im Wesen epigenetischer Veränderungen, dass sie die DNA-Sequenz nicht beeinflussen. Daher lassen sich ihre Effekte meist nur für einige wenige Generationen nachweisen, danach gehen sie wieder verloren, wie etwa ein Team um die Neurobiologin Leah Houri-Zeevi von der Tel Aviv University 2020 gezeigt hat. Langfristige Wirkungen sind damit nicht möglich.
Doch gerade in diesen liegt der Schlüssel, um Evolution zu verstehen. Gegner der Evolutionstheorie haben immer vorgebracht, etliche Anpassungen seien viel zu wenig wahrscheinlich, um allein durch natürliche Selektion zu Stande zu kommen. Fisher demonstrierte aber bereits 1954: Eine Kombination von Selektion und stabiler Vererbung über viele Generationen hinweg macht selbst die unwahrscheinlichsten Ereignisse möglich. Er verglich dies mit der Aufgabe, ein bestimmtes Proton im gesamten Universum zu finden, für die er eine extrem geringe Erfolgschance von 10-79 angab. Die natürliche Selektion einer genetischen Variante, die pro Generation lediglich einen Vorteil von zwei Prozent bringt, kann binnen 10 000 Generationen eine derart unwahrscheinliche Anpassung bewirken. Folglich ist Evolution nur mittels kombinierter Selektion und stabiler Vererbung über lange Zeiträume hinweg erklärbar.
Epigenetische Prägung bleibt allenfalls für wenige Generationen erhalten und erfordert somit keine grundlegende Erweiterung der Evolutionstheorie. Doch sie eignet sich möglicherweise, um die so genannte phänotypische Plastizität zu erklären. Gemeint ist der Umstand, dass nicht nur die DNA-Sequenz darüber bestimmt, welches Erscheinungsbild der Organismus ausprägt, sondern ebenso die Umwelt. Ob phänotypische Plastizität aber evolutionäre Anpassung beschleunigt oder verlangsamt, ist nicht klar. Beides scheint denkbar. So könnten sich ganze Populationen dank epigenetischer Veränderungen schneller auf neue Umwelten einstellen. Andererseits reduzieren epigenetische Mechanismen vielleicht den Selektionsdruck, der auf die DNA-Sequenz einwirkt, und machen langfristige Adaptionen so weniger wahrscheinlich.
Die Genotyp-Phänotyp-Beziehung
Ein weiteres Argument der Verfechter einer erweiterten evolutionären Synthese betrifft die Frage, wie evolutionäre Entwicklungssprünge des Phänotyps entstehen. Auch das ist ein altbekanntes Problem, hat aber mit der Entdeckung von Entwicklungskontrollgenen neue Nahrung bekommen. Eine ganze Forschungsrichtung, die evolutionäre Entwicklungsbiologie (evolutionary developmental biology, kurz Evo-Devo) befasst sich damit, welche Rolle die Individualentwicklung im evolutionären Geschehen spielt. Letztlich geht es ihr um die – weitgehend unbeantwortete – Frage, wie die linear angeordnete, eindimensionale Information der DNA-Sequenz den dreidimensionalen Aufbau des Phänotyps hervorbringt. Fachleute bezeichnen das als Genotyp-Phänotyp-Beziehung.
Evo-Devo-Forscher haben gezeigt: Eine veränderte Aktivität von Entwicklungskontrollgenen kann zu neuen Körperformen, gar zu neuen Körperbauplänen führen – beispielsweise zu Augen statt Antennen bei Fliegen. Liegt hier der Schlüssel, um die so genannte Makroevolution zu verstehen, das plötzliche Auftauchen neuer Lebensformen, wie manche Fossilienabfolgen es nahezulegen scheinen? Folgt die Makroevolution anderen Gesetzen, als wir sie bisher kennen? Der Beweis dafür steht auch nach rund 30 Jahren intensiver Evo-Devo-Forschung aus. Ein mögliches Gegenargument wäre: Mutationen in Entwicklungskontrollgenen führen meist zu so vielen Veränderungen gleichzeitig, dass sie sich fast immer schädlich auf die betroffenen Individuen auswirken. Große Änderungen, die von Vorteil sind, wären folglich eher über viele kleine Schritte erreichbar. Also graduell, wie von Darwin und Wallace postuliert.
Mehr Einsicht in dieses Problem wird es erst geben, wenn die Genotyp-Phänotyp-Beziehung besser verstanden ist. Ein großes Wissenschaftskonsortium um den Bioinformatiker Andrew Wood von der University of Exeter ist 2014 zu dem Fazit gekommen: Einzelne Gene mit ihren natürlichen Varianten beeinflussen den Phänotyp kaum. Stattdessen sind es Kombinationen tausender Gene, die das Erscheinungsbild des Organismus bestimmen, etwa die Körpergröße beim Menschen. Weil deren Varianten in jeder Generation zufällig zusammengewürfelt werden, sind Merkmale wie die Körpergröße in Populationen normalverteilt. Dies bezeichnet man als polygene Bestimmung des Phänotyps. Schon Darwins Cousin Francis Galton (1822–1911) hatte sie in seinem Werk »Natural Inheritance« (1889) vorweggenommen, und Fisher entwickelte die mathematischen Grundlagen, um sie zu beschreiben.
Beim Menschen existieren schätzungsweise derart viele Kombinationsmöglichkeiten natürlicher Genvarianten, dass sich eine Körpergröße von sechs Metern erreichen ließe, wenn die entsprechenden Erbanlagen in einem Individuum zusammenkämen, was allerdings nur durch Selektion über tausende Generationen hinweg erreichbar wäre. Neue Mutationen oder epigenetische Prägungen wären dafür nicht nötig. Die natürliche Variation hält zusammen mit den Möglichkeiten der Kombinatorik somit ein riesiges Reservoir für phänotypische Neuerungen bereit, was die Basis der Tier- und Pflanzenzucht darstellt. Auch diese Einsicht hatte schon Darwin, unter anderem infolge seines Interesses an Taubenzucht.
Weil sich Genetiker viele Jahre lang auf die Wirkung einzelner Gene konzentriert haben, fand die polygene Bestimmung des Phänotyps zwischenzeitlich wenig Beachtung. Fishers mathematisches Konzept dazu trat in den Hintergrund; stattdessen bevorzugten viele Forscher ein alternatives Modell von ihm, in dem eine oder einige wenige Erbanlagen den Phänotyp maßgeblich prägen, während die anderen nur kleine Modifikationen beisteuern. Die Genomforschung liefert aber immer mehr Belege dafür, dass die Genotyp-Phänotyp-Beziehung in aller Regel polygen ist und sehr viele natürliche Genvarianten quasi gleichberechtigt zum Erscheinungsbild beitragen.
Manches spricht sogar für einen omnigenen Mechanismus, in dem die Varianten sämtlicher Erbanlagen, die in einem bestimmten Stadium oder einem bestimmten Organ aktiv sind, am Phänotyp mitwirken – so die Erkenntnis eines Teams um den Genetiker Jonathan Pritchard von der Stanford University im Jahr 2017. Wissenschaftler arbeiten daran, die mathematischen Modelle entsprechend anzupassen, was allerdings kompliziert ist. Ob dies eine grundsätzlich neue Theorie erfordern wird, lässt sich derzeit nicht beantworten.
Brauchen wir eine erweiterte Synthese?
Allen Evolutionsbiologen ist klar, dass ihr Fach damals wie heute vor unbewältigten Herausforderungen steht. Zudem gibt es laufend neue biologische Entdeckungen, die nach einer Einordnung verlangen. Eine Erweiterung der Evolutionstheorie hat bereits mehrfach stattgefunden und wird weiterhin erfolgen. Es handelt sich hier aber nicht um klar abgrenzbare Theoriesprünge. Schon die Moderne Synthese war kein einheitlicher konzeptueller Schritt, sondern die Summe aus vielen neuen Einsichten. Daher sehen etliche Forscher keinen zwingenden Grund dafür, jetzt eine »erweiterte evolutionäre Synthese« zu schaffen, die selbst wieder diverse verschiedene Phänomene zu erklären suchte. Die Verfechter einer solchen Synthese weisen allerdings völlig berechtigt auf Punkte hin, die nicht abschließend geklärt sind. In der Rückschau haben sich Darwins Ideen aber als ausgesprochen stabile Grundlage erwiesen.
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