JUNO: Chinas gigantischer Neutrinodetektor geht an den Start
700 Meter unter der grünen Hügellandschaft von Kaiping im Südosten Chinas stellen Bauarbeiter derzeit eifrig einen kugelförmigen Detektor fertig. Die 35 Meter durchmessende Forschungsanlage soll geisterhafte subatomare Teilchen, die Neutrinos genannt werden, detailliert untersuchen. Wenn alles nach Plan läuft, wird das umgerechnet rund 350 Millionen Euro teure Jiangmen Underground Neutrino Observatory, kurz JUNO, Ende 2024 seine Arbeit aufnehmen können. Das zumindest hofft Yuekun Heng, Leiter von JUNO vor Ort und Physiker am Institut für Hochenergiephysik der Chinesischen Akademie der Wissenschaften in Peking. Damit wäre JUNO der erste von mehreren neuen Neutrinodetektoren weltweit, der in Betrieb geht. Zwei weitere – in Japan und in den Vereinigten Staaten – sollen 2027 und 2031 mit der Datenerfassung beginnen.
Die Hauptaufgabe von JUNO besteht darin, zu entschlüsseln, welche Sorte von Neutrino die größte und welche die kleinste Masse hat – und somit eines der größten Rätsel der Physik lösen. Die Antwort auf diese Frage könnte den Forscherinnen und Forschern helfen zu verstehen, warum Neutrinos überhaupt so leicht sind. Dazu wollen die Wissenschaftler Neutrinos vermessen, die von zwei mehr als 50 Kilometer entfernten Kernkraftwerken einströmen. Außerdem wollen sie Neutrinos untersuchen, die aus anderen Quellen kommen – etwa von der Sonne, aus der Atmosphäre, von explodierenden Sternen und aus natürlichen radioaktiven Zerfallsprozessen auf der Erde.
In einem ersten Schritt haben die am Experiment beteiligten Wissenschaftler nun damit begonnen, eine Miniaturversion des Detektors mit einem Cocktail aus Lösungsmitteln und organischen Chemikalien zu füllen. Ein solcher Flüssigszintillator sendet Lichtsignale aus, wenn Neutrinos durch ihn hindurchzischen. Mit dem Modell soll getestet werden, ob der Szintillator rein genug ist, um das Problem mit der Neutrinomasse zu lösen.
Anforderungen an Reinheit sind hoch
So darf der Flüssigszintillator nur winzige Spuren von Uran und Thorium enthalten. Diese radioaktiven Elemente könnten sonst Neutrinoereignisse vortäuschen, wenn ihr Zerfall zufällig mit anderen Signalen zusammenfällt, und die Versuchsergebnisse stören. Wenn die Verunreinigung mit diesen Elementen zu groß ist, werde es fast unmöglich sein, Neutrinos mit der Empfindlichkeit zu messen, die zur Beantwortung der Fragestellung erforderlich ist, sagt Alberto Garfagnini, Physiker an der Universität Padua in Italien und Mitglied des JUNO-Teams. Daher nutzt das Team die Miniaturversion von JUNO, um die Strahlungsreinheit der Flüssigkeit zu testen, bevor sie direkt in den Hauptdetektor nebenan gepumpt wird. Dieser Schritt sei enorm wichtig, denn wenn JUNO erst einmal mit 20 000 Tonnen der Flüssigkeit gefüllt sei, gebe es kein Zurück. »Der Szintillator muss von Anfang an rein sein«, sagt Garfagnini.
Der Ansatz von JUNO unterscheidet sich von dem der anderen Detektoren, die derzeit gebaut werden. In Japans geplantem Hyper-Kamiokande-Detektor werde gereinigtes Wasser als Neutrinomedium verwendet, während man im Deep Underground Neutrino Experiment in den Vereinigten Staaten flüssiges Argon einsetze, um die schwer fassbaren Teilchen nachzuweisen, erklärt Mary Bishai, Physikerin am Brookhaven National Laboratory in New York und Kosprecherin des US-Observatoriums. Beide zukünftigen Detektoren werden Neutrinos erforschen, die von nahe gelegenen Teilchenbeschleunigern und nicht von Kernkraftwerken ausgesendet werden.
Ähnlich wie Teleskope, die den Kosmos bei verschiedenen Wellenlängen betrachten, sollen die unterschiedlichen Neutrinodetektoren den Forschern ein besseres Verständnis der Eigenschaften und der Rolle dieser Teilchen im Universum ermöglichen, sagt Bishai. »So können wir auf einzigartige Weise überprüfen, ob unser bisheriges Bild stimmig ist.«
Geisterhafte Teilchen
Ein Neutrino zu beobachten, sollte eigentlich ganz einfach sein. Jede Sekunde durchdringen Milliarden davon jeden Kubikzentimeter der Erde. Doch ihre Eigenschaften sind bislang größtenteils ein Rätsel, da die allermeisten von ihnen kaum mit Materie wechselwirken. Das macht es enorm schwierig, sie direkt nachzuweisen. Neutrinos könnten jedoch dabei helfen zu entschlüsseln, wie sich das Universum entwickelt hat, sagt Garfagnini. »Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Kosmologie.«
Es ist bereits bekannt, dass es drei Sorten von Neutrinos gibt: Elektron-, Myon- und Tau-Neutrino – jeweils benannt nach den Elementarteilchen, mit denen sie zusammen auftreten. Lange dachte man, Neutrinos seien masselos. Vor mehr als zwei Jahrzehnten jedoch enthüllten Experimente am Super-Kamiokande-Experiment im japanischen Hida und am Sudbury Neutrino Observatory in Kanada, dass sich Neutrinos fortwährend ineinander umwandeln, auch bekannt als Neutrinooszillation. Das lässt sich physikalisch nur erklären, wenn die Teilchen eine von null verschiedene Masse haben. Im Jahr 2012 schließlich konnte das Daya Bay Reactor Neutrino Experiment in der Nähe von Shenzhen, China, einen der Parameter genau messen, welche die Geschwindigkeit beschreiben, mit der Neutrinos zwischen den Sorten wechseln.
Neutrinooszillation
Neutrinos kommen in drei Arten vor und können sich ineinander umwandeln. Wenn eine Quelle Teilchen einer bestimmten Sorte erzeugt (etwa ein Kernreaktor oder ein spezialisierter Beschleuniger), schwankt die Wahrscheinlichkeit, sie auf ihrem Weg weiterhin in diesem Zustand anzutreffen – je nachdem, welche Strecke L die Neutrinos zurücklegen und welche Energie sie haben. So misst ein Detektor unmittelbar beim Entstehungsort eine andere Zusammensetzung des Strahls als ein zweites, typischerweise hunderte oder tausende Kilometer entfernt installiertes Gerät.
Zudem hat jedes Neutrino drei Massenzustände – ν1, ν2 und ν3 – und jede Neutrinosorte ist eine Mischung aus den drei Zuständen. Physiker haben herausgefunden, dass ν2 etwas massereicher ist als ν1 und dass es einen großen Unterschied zwischen ν3 und den anderen gibt. Aber es ist noch immer nicht klar, ob ν3 nun schwerer oder leichter ist als seine etwas besser verstandenen Gegenstücke. Die Antwort auf dieses so genannte Massenordnungsproblem sei schwer zu finden, sagt Bishai, denn sie erfordere größere, empfindlichere Detektoren, die nahe genug an einer gut verstandenen Neutrinoquelle stehen. »Man muss sich im Sweet Spot für den gesuchten Effekt befinden.«
Eine riesige Kugel
JUNO befindet sich unter einem Hügel aus Granit, der als Schutzschild gegen kosmische Strahlung dient – hochenergetische Teilchen aus dem Weltraum, deren Signale die schwachen der Neutrinos überlagern können. Jeden Tag fahren die am Experiment beteiligten Forscher und Bauarbeiter mit einer Seilbahn 15 Minuten lang einen steilen, 1,3 Kilometer langen Tunnel hinunter, um den Bau des Detektors in einer temperaturgeregelten Halle fortzusetzen. Die Sphäre aus Acryl, die zu etwa zwei Dritteln fertig gestellt ist, wird bald in 35 000 Tonnen hochreines Wasser getaucht, das den Detektor weiter von der Hintergrundstrahlung abschirmt. Sobald der Flüssigszintillator den Strahlenschutztest bestanden hat, wird er in den Hauptdetektor eingeleitet. Der gesamte Prozess werde sechs Monate dauern, sagt Yuekun Heng.
Es war keine leichte Aufgabe, die Empfindlichkeit von JUNO zu gewährleisten. Als der Bau 2015 begann, hoffte das Team noch, die Bauarbeiten innerhalb von drei Jahren abschließen zu können. Doch: »Wasser war ein großes Problem«, das habe man unterschätzt, räumt Heng ein. Um dieses Problem zu lösen, installierte das Team ein System, das stündlich 500 Kubikmeter Grundwasser aus den unterirdischen Tunneln pumpt. Zur Überwachung der Radonkonzentration – ein radioaktives Gas, das auf natürliche Weise von Granit und anderen Gesteinen produziert wird und sich nicht gut mit empfindlichen Neutrinoexperimenten verträgt – ist die höhlenartige Anlage mit surrenden, zylinderförmigen Ventilatoren ausgestattet.
Der Grund für den schwierigen Standort befindet sich auf der Oberfläche. JUNO liegt zwischen zwei jeweils 53 Kilometer voneinander entfernten Kernkraftwerken, die den Detektor mit einem ständigen Strom von Elektron-Antineutrinos versorgen. Diese haben die gleiche Masse wie Neutrinos. Die schiere Anzahl der Antineutrinos, die von diesen Kraftwerken ausgestoßen werden, ermögliche, sie mit der nötigen Präzision zu messen und so ihre Massenordnung zu bestimmen, sagt Heng.
Neutrinos können nicht direkt nachgewiesen werden. Um ihrer Masse auf die Spur zu kommen, messen die Physikerinnen und Physiker die Energie anderer Teilchen, die bei der seltenen Gelegenheit entstehen, dass ein Neutrino mit Materie wechselwirkt. Wenn im Fall von JUNO ein Elektron-Antineutrino auf ein Proton im Flüssigszintillator trifft, erzeugt die Wechselwirkung ein Positron, das ist das positiv geladene Gegenstück zum Elektron, sowie ein Neutron. Dieser Prozess wird als inverser Betazerfall bezeichnet. Die Energie des Positrons führt zu einem Lichtblitz, während das Neutron einen weiteren Blitz erzeugt, wenn es von einem Proton eingefangen wird. Diese verräterischen Blitze – im Abstand von 200 Mikrosekunden – werden von mehr als 40 000 blasenförmigen Photomultiplier-Röhren registriert, welche die Innenseite der Sphäre bedecken.
Die spezifische Zeitdifferenz zwischen diesen Blitzen werde den Forschern dabei helfen, Neutrinos von störenden Hintergrundsignalen zu unterscheiden, sagt Garfagnini. »Es ist eine eindeutige Signatur.« So hoffe man, in den nächsten sechs Jahren 100 000 Neutrinos nachzuweisen. Aber nicht nur das: Wegen seiner Größe, der abgeschirmten Umgebung und der Nähe zu den Kernkraftwerken hat JUNO gute Chancen, die Massenordnung der Neutrinos zu lösen – bevor andere Experimente überhaupt richtig in Gang gekommen sind.
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