Corona-Evolution: Woher neue Virusvarianten kommen
Nach fünf Tagen Krankenhausaufenthalt wegen Covid-19 verließ ein 45 Jahre alter Mann die Klinik in Boston. Doch geheilt war er im Frühjahr 2020 keineswegs. Fünf Monate lang kämpfte er gegen das Virus. Dann starb er an der Infektion. Die Ursache: Wegen einer schweren Autoimmunerkrankung nahm er Medikamente, die das Immunsystem unterdrückten – und ihn daran hinderten, das Virus zu besiegen.
Bemerkenswert ist der Fall nicht nur wegen der langen Dauer der Infektion, sondern weil er womöglich das erste Anzeichen der dramatischsten Entwicklung der Pandemie war: die immer neuen, mit Besorgnis erregenden Mutationen gespickten Virusvarianten.
Inzwischen sind diverse Virusvarianten mit ungewöhnlich vielen Veränderungen im Erbgut bekannt. Sie tragen Bezeichnungen wie B.1.1.7, B.1.351 oder neuerdings B.1.617 – jene Variante, die hinter der dramatischen Viruswelle in Indien stehen soll. Indizien deuten darauf hin, dass sie noch einmal deutlich ansteckender ist als B.1.1.7, die in Deutschland die »dritte Welle« verursachte. Doch woher kommen solche neuen Varianten? Und vor allem: Wie viele von ihnen wird es noch geben und mit welchen Eigenschaften?
Einige Fachleute vermuten, dass die Antwort auf die erste Frage bei Menschen wie jenem Patienten in Boston liegt. Denn eigentlich verändert sich Sars-CoV-2 viel langsamer, als für die Varianten nötig wäre. Ein bis zwei Mutationen pro Monat sammeln sich normalerweise im Erbgut an. Menschen mit geschwächtem Immunsystem werden das Virus in manchen Fällen jedoch nicht los und ermöglichen ihm damit eine Phase dramatisch beschleunigter Evolution.
Fitnessstudio für Viren
Unter diesen Bedingungen kann, so das Szenario, das Virus »trainieren«. Das Immunsystem bekämpft das Virus zwar, aber nicht ausreichend, um es zu beseitigen. Das begünstigt Varianten, an die Antikörper generell schlechter binden – so genannte Fluchtmutationen.
»Ich denke, das ist ein sehr plausibles Szenario«, sagt Sébastien Calvignac-Spencer, Experte für Virenevolution am Robert Koch-Institut. »Die Wirkung des Immunsystems ist gering, so dass die Infektion bleibt, aber es übt Druck auf das Virus aus.« Der Effekt ist keineswegs rein hypothetisch. Mehrere Fallberichte von Menschen mit stark unterdrücktem Immunsystem zeigen, dass sich das Virus unter solchen Bedingungen extrem schnell genetisch verändert. So wie beim Bostoner Patienten.
Die behandelnden Ärzte um Jonathan Li von der Harvard Medical School analysierten das Erbgut des im Körper des Patienten marodierenden Erregers im Verlauf der Infektion. Dabei identifizierten sie mehr als 20 Mutationen, davon 38 Prozent in jenem 50stel des Virusgenoms, das die antigenbindende Domäne des Spike-Proteins codiert. Dort haften sich die wichtigen neutralisierenden Antikörper an.
»Es sind natürlich sehr wenige untersuchte Fälle, auf die man sich bezieht«Adam Grundhoff
Nicht zuletzt tauchten bei mehreren Untersuchungen an immunschwachen Infizierten die gleichen Mutationen auf, die man auch in den neuen Varianten findet. So entdeckte die Arbeitsgruppe um Li beim Bostoner Patienten N501Y, die das Virus ansteckender macht und die bei B.1.1.7 sowie der »südafrikanischen« Variante B.1.351 auftaucht. Diese Mutation, ebenso wie zwei komplett fehlende Aminosäuren an den Positionen 69 und 70 des Spike-Proteins, identifizierte eine Arbeitsgruppe um Ravindra Gupta von der University of Cambridge ebenfalls bei einem mit Sars-CoV-2 infizierten Krebspatienten, der das Medikament Rituximab bekam und deswegen kaum Antikörper produzierte.
Nur exotische Einzelfälle?
Auch Adam Grundhoff vom Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie in Hamburg findet den Mechanismus grundsätzlich plausibel. Gleichzeitig warnt er jedoch vor übereilten Schlussfolgerungen. »Es sind natürlich sehr wenige untersuchte Fälle, auf die man sich bezieht«, erklärt er. Nicht zuletzt seien die Umstände, unter denen das beobachtet wurde, sehr speziell. »Das sind meistens Menschen, die über längere Zeit im Krankenhaus behandelt wurden und stark immunsupprimiert sind.«
Das wichtigste Indiz für den vermuteten evolutionären Zwischenspurt ist die Diskrepanz zur Hintergrundrate an Mutationen. Die am längsten bekannte und deswegen am besten untersuchte Variante B.1.1.7 zum Beispiel mutiert derzeit ebenso schnell wie die anderen Linien – zu langsam, um die hohe Zahl der Mutationen zu erklären. Evolutionssprünge in immunsupprimierte Patientinnen und Patienten bieten eine naheliegende Erklärung.
Die hat allerdings auch ihre Schwächen, nicht zuletzt wegen eines potenziellen Widerspruchs, auf den Grundhoff hinweist. »Wenn wir uns anschauen, welche Mutationen uns jetzt Sorgen machen, dann sind das alles Fluchtmutationen«, erklärt er. Und Fluchtmutationen seien nur von Vorteil, wenn jemand ein stabiles Immunsystem hat. Sie müssten deswegen unter Immundruck evolviert sein. Die Behandlung mit Antikörpern mag zwar einen Immundruck ausüben, aber insgesamt dürfte die Mehrzahl solcher Mutationen wohl eher in Menschen mit funktionierendem Immunsystem entstanden sein.
Auch Gesunde können Virusvarianten ausbrüten
Allerdings gebe es eine Möglichkeit, diesen Widerspruch aufzulösen, sagt auch Calvignac-Spencer. »Eine Variante dieses Szenarios sind persistente Infektionen in immunkompetenten Individuen«, erklärt er, »auch darüber gibt es Berichte.« Der Vorteil dieser Hypothese: Es haben sich weit mehr Menschen mit gesundem Immunsystem infiziert. Und auch wenn lang anhaltende Infektionen bei diesen Personen möglicherweise seltener sind als bei Immunsupprimierten, kann die hohe Zahl den Ausschlag geben.
»Immunsupprimierte Menschen sind sicherlich nicht die Treiber bei der Entstehung der neuen Varianten«, sagt ebenso Martina Sester, die an der Universität des Saarlandes die Abteilung für Transplantations- und Infektionsimmunologie leitet. Es sei eher wahrscheinlich, dass die Varianten in immunkompetenten Menschen evolvierten. »Wenn man sich die Länder ansieht, in denen die Mutationen auftauchen, zum Beispiel Brasilien, Südafrika und England, dann sind das alles Populationen, in denen schon ein gewisses Level an Immunität durch die zeitweise nahezu ungebremste Ausbreitung vorhanden ist«, sagt sie.
»Immunsupprimierte Menschen sind sicherlich nicht die Treiber bei der Entstehung der neuen Varianten«Martina Sester
In einer immunnaiven Population sei kein Selektionsdruck da, weil sich das Virus ohnehin gut verbreiten könne. »Die Varianten sind möglicherweise in einer Bevölkerungen mit einer gewissen Grundimmunität auf die beobachteten Fluchtmutationen selektioniert worden.« Eine Arbeitsgruppe um Tiago Gräf von der Plataforma de Vigilância Molecular in Brasilien etwa zeigt in einer aktuellen Veröffentlichung, dass die Variante P1 womöglich schrittweise entstand.
Nicht zuletzt gibt es Hinweise darauf, dass sich das Virus selbst bei Immungesunden ungewöhnlich lange halten kann – und damit ausgiebig der Selektion durch das Immunsystem ausgesetzt wäre. »Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Betroffenen eine wenig effiziente Kreuzimmunität durch Antikörper gegen ein anderes Coronavirus haben«, erklärt Sester. Durch diesen als »Antigenerbsünde« bezeichneten Effekt hätten sie nur eine ineffektive Immunantwort und würden das Virus dadurch schlecht loswerden.
Vielleicht sind die Varianten in Pandemien normal
Eine ineffektive Immunreaktion, egal ob durch Immunsuppression oder andere Effekte macht anhaltend Infizierte jedenfalls zu einem Versuchslabor der Virusevolution. In ihnen kann eine viel größere Vielfalt an Viren überleben. Damit sind sie quasi wandelnde Brutkästen für neue Varianten, die durch die Selektion des Immunsystems nach und nach optimiert werden.
Tatsächlich ist aber nicht einmal sicher, ob man überhaupt eine besondere Erklärung für die neuen Varianten benötigt. »Man kann nicht genau sagen, ob die ganzen neu entstehenden Varianten tatsächlich so unnormal sind«, sagt Grundhoff. Schließlich sei das die erste Pandemie überhaupt, die so genau auf genetischer Ebene beobachtet wird. »Aber natürlich ist es normal, dass Mutationen auftreten und dass man sprunghafte Entwicklungen bekommt.«
Nicht zuletzt sei ein neu auftretendes Pandemievirus in einer besonderen Situation, erklärt Sébastien Calvignac-Spencer. »Wenn ein Krankheitserreger auf einen zuvor unbekannten Wirt überspringt, dann ist die neue Umgebung für ihn völlig ungewohnt. Er hat also noch nicht einmal begonnen, seine evolutionären Möglichkeiten auszuschöpfen.« Im Vergleich zu einem Virus, das bereits gut an seinen Wirt angepasst ist, sind bei so einem Erreger deswegen größere und schnellere Veränderungen zu erwarten.
»Ich finde die Metapher sehr hilfreich, dass das Virus quasi in einem Käfig evolviert«, sagt Calvignac-Spencer. Die Gitter des Käfigs sind dabei die genetischen Varianten des Virus, die sich im Wirt gerade eben noch fortpflanzen. Zu Beginn der Pandemie nimmt das Virus lediglich eine Ecke des Käfigs ein und beginnt quasi, den vorhandenen Raum zu erforschen. »So lange wir das Virus das tun lassen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis neue Varianten auftauchen – ganz unabhängig vom genauen Mechanismus.«
Das Virus und sein Käfig
Möglicherweise wirken beide Mechanismen in der Pandemie. Einerseits könnte schlicht die enorme Verbreitung des Virus und das noch ungenutzte evolutionäre Potenzial dafür sorgen, dass es schon bei der normalen Ausbreitung teilweise schneller evolviert, zum Beispiel durch Bedingungen, in denen es sich dank äußerer Umstände vorübergehend schneller verbreitet. Zum anderen könnten immungeschwächte Patientinnen und Patienten der Evolution Spielraum verschaffen, auch mit potenziell nachteiligen Mutationen zu experimentieren, die bei Gesunden wohl verschwinden würden.
»Ich erwarte, dass die Rate an phänotypischen Veränderungen mit der Zeit abnimmt«Sebastién Calvignac-Spencer
Darauf deuten jedenfalls Daten des britischen Krebspatienten hin. Er infizierte sich mit Sars-CoV-2, kurz nachdem er eine Chemotherapie gegen ein Lymphom erhalten hatte, und starb nach fast vier Monaten an der Krankheit, nachdem sogar eine Behandlung mit monoklonalen Antikörpern gescheitert war. Das Virus, das man aus seinem Blut isolierte, trug zum einen die Veränderung D796H, die es unempfindlicher für diese Antikörper machte. Allerdings infiziert ein Virus mit dieser Mutation allein Zellen deutlich schlechter – offensichtlich ein Nachteil. Ähnliches scheint bei der in Indien aufgetretenen Variante B.1.617 passiert zu sein. Jedenfalls zeigt hier eine erste Studie – ebenfalls von Ravindra Gupta –, dass die Variante schlechter von Antikörpern neutralisiert wird, gleichzeitig aber weniger effektiv in Zellen eindringt.
Es offenbart die Kompromisse, die neue Virusvarianten eingehen müssen, um dem Immunsystem zu entkommen. Außerdem deutet sich an, dass das Virus an einigen Stellen schon an die Gitter seines evolutionären Käfigs stößt. Fachleute vermuten daher, dass in Zukunft immer weniger Varianten entstehen. »Ich erwarte, dass die Rate an phänotypischen Veränderungen mit der Zeit abnimmt«, sagt Sebastién Calvignac-Spencer. »Aber ob das zwei Jahre oder zwei Jahrzehnte dauert, weiß ich einfach nicht.«
Wie viele Varianten kommen noch auf uns zu?
Das liegt nicht nur daran, dass man keine Vergleiche mit anderen Pandemien hat – sondern auch, dass man über die aktuelle oft nur lückenhafte Informationen besitzt. Niemand weiß, wie viele neue, stark mutierte Varianten es tatsächlich gibt. Viele von ihnen verbreiten sich womöglich nicht effektiver und fallen deswegen bisher nicht auf, so dass nur wenig über die Größe des evolutionären Käfigs bekannt ist.
Allerdings zeigen sich schon jetzt erste Indizien. »Man sieht ja immer wieder die gleichen Mutationen, und das zeigt, dass das Spektrum langsam ein bisschen ausgeschöpft ist«, sagt Adam Grundhoff. Beispiele seien die Positionen N501, E484 und K417 im Spike-Protein; die Mutationen dort habe man fast alle schon 2020 gesehen. »Seit vier, fünf Monaten kommen keine wirklich neuen Mutationen mehr hinzu.«
»Was wir sehen, sind unterschiedliche Kombinationen«, sagt er. Ein eindrucksvolles Beispiel für diese konvergente Evolution – durch die Eigenschaften immer wieder auftauchen, weil sie quasi günstige Ecken des Käfigs markieren – liefert eine kürzlich in Tansania entdeckte Variante. Diese gehört zu einer bislang völlig unbekannten Linie, die sich früh von allen anderen abspaltete. Trotzdem sind 8 von 13 Mutationen im Spike-Protein dieses Virus bereits bekannt.
Das beste Beispiel für die Macht der Kombinationen sei die Variante B.1.1.7, erklärt Grundhoff. Auch da habe man die einzelnen Mutationen vorher gesehen, auch N501Y, ohne dass sie besonders aufgefallen seien. »Die Kombination muss für das Virus eine Art Sechser im Lotto gewesen sein.« Fünf bisher unbekannte Mutationen in dieser Tansania-Variante allerdings zeigen: Noch ist das Virus nicht am Ende seiner Möglichkeiten.
Böse Überraschungen durch neue Varianten (oder neue Kombinationen) sind weiterhin möglich, zumal über die Bedeutungen der Mutationen und vor allem ihrer Kombinationen für die Eigenschaften des Virus wenig bekannt ist. Doch Grundhoff sagt auch, dass man all das nicht überbewerten sollte. »Was ich im Moment etwas irritierend finde, ist, dass all das kolportiert wird – indische Variante hier, kalifornische Variante dort –, als seien es immer neue Viren. Und das ist ja nun mal nicht so.« Welchen Vorteil die Varianten wirklich besitzen, ob sie sich wirklich schneller ausbreiten oder selbst Geimpfte infizieren, wisse man in den meisten Fällen nicht wirklich. »Es ist wichtig, dass wir ein bisschen Ruhe bewahren.«
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