Corona-Maßnahmen: Infektionsschutz könnte auch das Mikrobiom stören
Die Coronavirus-Pandemie zeigt wieder einmal: Wir Menschen leben in der Welt der Mikroben. Doch nur wenige Vertreter, darunter Sars-CoV-2, sind gefährlich. Es überwiegen die unzähligen harmlosen Viren, Bakterien und Pilze, mit denen wir bei jedem Atemzug, bei jedem Bissen und bei jeder Berührung in Kontakt kommen. Oder zumindest kommen sollten: Wenn ein Erreger wie jetzt mit Hilfe strikter Hygiene- und Isolierungsmaßnahmen eingedämmt wird, bleiben auch jene Mikroben auf der Strecke, die wir als unsichtbare Untermieter im Organismus brauchen. Wie sehr leidet unser Mikrobiom?
»Die Covid-19-Pandemie hat das Potenzial, das menschliche Mikrobiom bei infizierten und nicht infizierten Individuen zu beeinflussen und sich langfristig stark auf die menschliche Gesundheit auszuwirken«, heißt es in einer kürzlich erschienenen Publikation. Thomas Bosch von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel gehört zum internationalen Autorinnenteam und möchte vorab eines unmissverständlich klarstellen: »Natürlich muss diese Pandemie bekämpft werden«, sagt der Evolutionsbiologe. »Wir hatten Bedenken, dass die Arbeit in die falsche Richtung führen könnte. Dann heißt es, wir wollten nichts gegen Covid machen. Das ist natürlich Blödsinn.«
Oberstes Ziel sei es, die Ausbreitung von Sars-CoV-2 zu bremsen und möglichst weitgehend zu verhindern. Hygienemaßnahmen und Kontaktbeschränkungen seien dabei unausweichlich. Aber sie könnten eben auch langfristig Kosten verursachen, wenn sie gesundheitsfördernde Mikroben ebenfalls ausbremsen. Dann würde die akute Coronakrise einen ohnehin bedenklichen Trend verstärken – und einen Teufelskreis auslösen. Wir wissen, dass das Mikrobiom im Darm essenziell für viele Prozesse im Organismus ist. Sein Einfluss reicht weit über die Verdauung hinaus, über die Darm-Hirn-Achse sogar bis in neurologische Prozesse hinein. Und er macht sich von Anfang an bemerkbar. »Unser Immunsystem kann sich nur in der ständigen Interaktion mit Mikroben normal entwickeln und verhalten«, sagt Bosch.
Artgerechte Mikrobenhaltung
Entscheidend dafür ist das für den Menschen charakteristische Darmmikrobiom, das sich in seinen Grundzügen im Lauf unserer Evolution entwickelt hat. Die genaue Zusammensetzung dieser Gemeinschaft von Billionen Mikroben ist allerdings höchst individuell und bleibt ein Leben lang dynamisch. Kinder haben ein anderes Mikrobiom als Pubertierende, deren Mikroben sich von denen der Erwachsenen und dem Mikrobiom im Alter unterscheiden. Die ersten Lebensjahre sind aber kritisch, um ein robustes und diverses Mikrobiom überhaupt erst aufzubauen, das dann unter anderem hilft, das Immunsystem ausreifen zu lassen.
Ohne physische Nähe gibt es aber kein Mikrobiom. Dazu gehören soziale Kontakte in der Familie, mit Spielkameraden und -kameradinnen sowie anderen Menschen und auch Tieren. Dazu gehört aber ebenso der Umgang mit der natürlichen Umwelt, etwa wenn die Kinder in der Erde wühlen. So einfach ist das aber vor allem in der Stadt schon lange nicht mehr: »Unser modernes urbanes Leben tut alles, um den Aufbau eines vielfältigen Mikrobioms zu hemmen«, sagt Bosch. Zwei Störfaktoren sind exzessive Hygiene im Haushalt und ein übermäßiger Gebrauch von Antibiotika. Diese Wirkstoffe sind zwar unverzichtbare Waffen im Kampf gegen Pathogene, setzen im Kreuzfeuer dem Mikrobiom aber genauso unerbittlich zu.
»Es kommt auch bei der Entwicklung des Immunsystems nicht auf einzelne Pathogene an«Thomas Bosch
Nicht einmal die verbleibenden Darmmikroben halten wir artgerecht, wenn wir ihnen mit einer ungesunden und ballaststoffarmen Ernährung komplexe Kohlenhydrate vorenthalten. Was bleibt ihnen anderes übrig, als etwa die Zuckerketten im Darmschleim anzunagen? Den brauchen wir aber als erste Verteidigungslinie gegen eindringende Erreger und als Schutzschild fürs Gewebe. Wird diese Barriere porös gefressen, können sich chronische Entzündungen entwickeln – und tun dies in zunehmenden Maß auch. Sie werden wie Diabetes, starkes Übergewicht, Neurodegenerationen und andere »Umweltkrankheiten« mit einem verarmten und gestörten Mikrobiom in Verbindung gebracht.
All diese Leiden sind außerordentlich belastend für die Betroffenen und die Gesundheitssysteme und können weitere Störungen begünstigen. Aktuellen Publikationen zufolge könnte eine Dysbiose, also ein gestörtes Darmmikrobiom, auch die Anfälligkeit für einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf einer Covid-19-Erkrankung erhöhen. Anders gesagt: Ein gesundes Mikrobiom könnte zum Schutz vor einem katastrophalen Infektionsverlauf beitragen. Sollten Thomas Bosch und seinen Kollegen und Kolleginnen aber Recht behalten, wäre die Verbreitung von Mikroben unter den derzeitigen Kontaktbeschränkungen extrem erschwert und die mikrobielle Diversität durch die Pandemie zusätzlich gefährdet.
Wie man das Mikrobiom schützt
Unser Mikrobiom wäre demnach ein Ökosystem, das seit langer Zeit an Vielfalt und Funktionalität verliert und nun noch einen Kahlschlag erlebt. Schlimmstenfalls würde dies schwere Infektionsverläufe begünstigen und die menschliche Gesundheit langfristig beeinträchtigen. Vor allem unter den jungen Generationen könnten Wohlstandskrankheiten, die mit Dysbiosen in Verbindung stehen, stark ansteigen. Noch wissen wir nicht, ob sich die Pandemie tatsächlich auf das Mikrobiom auswirkt. Einige Pathogene zumindest sind aber nachweislich in ihrer Ausbreitung gehindert, darunter die im Winterhalbjahr so gefürchteten Durchfallerreger und Erkältungsviren.
Könnte sich diese ungewohnt keimarme Saison negativ bei Kindern auswirken? »Es kommt auch bei der Entwicklung des Immunsystems nicht auf einzelne Pathogene an«, betont der Biologe. »Es geht um die Auseinandersetzung mit einer vielfältigen Umwelt mit Billionen überwiegend gutartiger Bakterien und den Aufbau eines diversen Mikrobioms.« Und das sei auch unter Pandemie-Bedingungen möglich: Bosch und seine KollegInnen empfehlen Maßnahmen, die immer sinnvoll sind, etwa der regelmäßige Aufenthalt im Freien in der Natur und eine mikrobiomfreundliche Ernährung.
Ob solche Interventionen auch nach der Pandemie ausreichen werden, um die angestammte Vielfalt unserer Mikroben nur halbwegs zu regenerieren, ist allerdings fraglich. Wenn nicht, dann müssten wir die Funktionen des Mikrobioms möglicherweise auf anderem Weg ersetzen. Bosch und viele andere Forscher und Forscherinnen versuchen, die Interaktionen der Bakterien mit unseren Körperzellen zu verstehen. »Wir versuchen, eine neue Generation von Probiotika zu schaffen, indem wir den reichen Schatz an Molekülen des Mikrobioms ausnützen«, sagt Bosch. »Heute wissen wir aber immerhin schon, dass wir ganzheitlich denken müssen. Alles hängt mit allem zusammen.«
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