Astronomie: Das nächste Schwarze Loch
Wer auf der Südhalbkugel in einer klaren Nacht ganz genau hinsieht, kann ihn mit bloßem Auge erkennen: einen leuchtenden Punkt namens HR 6819. Astronomen vermuten in dem Sternsystem ein Duo aus zwei Sonnen, das 1000 Lichtjahre von der Erde entfernt durchs Weltall treibt. So gesehen ist HR 6819 nichts Ungewöhnliches – mindestens ein Viertel aller Sterne hat einen Partner.
Doch vielleicht gibt es in HR 6819 noch ein drittes Objekt, das selbst keinerlei Licht abgibt: ein Schwarzes Loch. Für möglich halten das Experten seit dem Jahr 2009. Nun will einem Team um Thomas Rivinius von der Europäischen Südsternwarte ESO der endgültige Beweis gelungen sein: Die beiden Sterne in HR 6819 zögen ihre Bahnen um einen dunklen Giganten, der mindestens fünfmal so schwer wie unsere Sonne zu sein scheint, schreiben die Forscher im Fachmagazin »Astronomy & Astrophysics«.
Weit weg, aber doch ganz nah
Sollte das stimmen, wäre es das nächstgelegene Schwarze Loch, das Astronomen bisher aufgespürt haben. 1000 Lichtjahre sind zwar eine sehr große Distanz – im unvorstellbar großen Weltall umfasst die Strecke jedoch gerade einmal unsere erweiterte Nachbarschaft. Zum Vergleich: Bis zum Zentrum der Milchstraße, wo ein gigantisches Schwarzes Loch namens Sagittarius A* schlummert, sind es stolze 26 000 Lichtjahre.
Sagittarius A* ist ein Koloss mit Millionen »Sonnenmassen«, wie er sich nur im Herzen von Galaxien bildet. Doch kleinere Geschwister von ihm sollte es in der Milchstraße in Hülle und Fülle geben: Hochrechnungen gehen von hunderten Millionen »stellarer« Schwarzer Löcher aus, die jeweils aus dem Kollaps großer Sterne entstanden sein müssten. Bislang haben Astronomen aber lediglich ein paar Dutzend dieser Exemplare aufgespürt.
Kein Wunder, könnte man sagen, schließlich sind Schwarze Löcher per Definition so gut wie unsichtbar. Nur wenn sie Gas und Staub von einem besonders nahen Stern ansaugen, regen sie ihr Umfeld zum Leuchten an. Über diesen Umweg haben Wissenschaftler so gut wie alle bisher bekannten stellaren Schwarzen Löcher aufgespürt, etwa das im Sternsystem Cygnus X-1, 6000 Lichtjahre von der Erde entfernt.
Doch im Prinzip kann man Schwarze Löcher auch anhand ihrer Schwerkraft nachweisen – über die Art und Weise, wie sie die Bewegung benachbarter Sterne beeinflussen. Diesen Weg hat das Team um ESO-Forscher Rivinius gewählt: Aus der periodischen Verschiebung von Spektrallinien haben die Forscher die Bahnen der beiden Sterne in HR 6819 abgeleitet. Die Basis dafür bildeten Beobachtungsdaten aus den Jahren 1999 und 2004.
40 Tage für einen Umlauf
Einer der Sterne zieht demnach recht enge Kreise um das mutmaßliche Schwarze Loch, er braucht 40 Tage für einen Umlauf um den gemeinsamen Schwerpunkt. Der andere Partner bewegt sich deutlich weiter draußen: Er ist mindestens halb so weit vom Schwarzen Loch entfernt wie die Erde von der Sonne.
Ob das System HR 6819 wirklich so aussieht, wie es sich die Forscher vorstellen, ist noch offen. Hugues Sana von der KU Leuven in Belgien kritisiert beispielsweise die Analysetechnik, mit der die ESO-Wissenschaftler die Masse des inneren Sternbegleiters abgeschätzt haben. Das Verfahren sei fehleranfällig und verleite leicht zu falschen Schlussfolgerungen, schreibt Sana in einer Email an Spektrum.de. Chinesische Astrophysiker hatten damit bereits Ende 2019 ein ungewöhnlich schweres Schwarzes Loch in einem Sternsystem namens LB-1 aufgespürt, mussten dafür im Nachhinein aber harsche Kritik einstecken.
Aus Sicht vieler Experten ist das Exemplar in LB-1 entweder deutlich leichter als gedacht – oder es existiert überhaupt nicht. Ob das »erdnächste« Schwarze Loch in HR 6819 ähnlich umstritten sein wird, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. So oder so: Sollte es wirklich zig Millionen von ihnen in unserer Galaxie geben, wird ein Schwarzes Loch sicherlich früher oder später in unserer Nachbarschaft auftauchen.
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