Demenz: Von Ängsten getrieben
Wenn Brigitte Kaufmann für ein paar Stunden das Haus verlässt, sagt sie ihrem Mann Ludwig immer, wann sie ungefähr zurückkommen wird. Keine genaue Uhrzeit – denn würde sie sich verspäten, käme bei ihm Panik auf. Die beiden sind 72 Jahre alt und seit fast 54 Jahren verheiratet. Mit 57 kam für Ludwig Kaufmann bereits die Diagnose: Alzheimerdemenz. »Manchmal sind wir sehr traurig darüber«, sagt seine Frau, »aber das nützt ja nichts. Wir machen einfach, was noch geht.« Für den gemeinsamen Alltag haben sie einige Routinen gefunden, die für Ludwig wichtig sind. »Wenn Veränderungen auftauchen, ist es schwierig«, so Brigitte Kaufmann. »Am besten funktioniert es, wenn alles seinen gewohnten Gang geht.« Mit diesem Wissen, einiger Umsicht und einer großen Portion Humor schafft das Paar es, möglichst wenige Ängste aufkommen zu lassen.
Oft sieht es allerdings anders aus: Viele Menschen mit Demenz leiden sehr unter Ängsten. Genauere Angaben gibt es dazu nicht, und die Zahlen schwanken je nach Untersuchung. Demnach verspüren zwischen 8 und 71 Prozent der Betroffenen häufig Angst, eine richtige Angststörung findet sich bei bis zu 21 Prozent der Patientinnen und Patienten. Die große Spanne kommt unter anderem deshalb zu Stande, weil die Ausprägungen unterschiedlich schwer sind und dementsprechend mehr oder weniger auffallen. Zudem ist es kompliziert, bei Demenz eine Angststörung zu diagnostizieren. Die Symptome überlappen mit denen, die ohnehin bei der neurodegenerativen Erkrankung auftreten, etwa Ruhelosigkeit und Konzentrationsprobleme.
Angst als Frühsymptom
Zudem gibt es verschiedene Arten von Ängsten, die sich im Verlauf der Krankheit ändern, erklärt Janine Diehl-Schmid, Chefärztin am Zentrum für Altersmedizin des Inn-Salzach-Klinikums Wasserburg: »Mitunter sehen wir die Angst als Frühsymptom, bevor die ersten kognitiven Anzeichen wie Vergesslichkeit auftreten.« In diesen Fällen scheinen Ängste eine Art Vorbote für abnehmende geistige Fähigkeiten zu sein. Nicht nur das, sie könnten sogar einen Risikofaktor dafür darstellen. »Bei Angst produziert der Körper vermehrt das Stresshormon Kortisol«, sagt die Ärztin. »Nervenzellen reagieren sehr empfindlich darauf und gehen schneller zu Grunde.« Das betrifft etwa das limbische System und somit eine Region, die unter anderem für das Verarbeiten von Emotionen und die Gedächtnisbildung zuständig ist. Ein Team um David Steffens vom University of Connecticut Health Center zeigte, dass Ängste den Übergang von milden kognitiven Defiziten hin zur Alzheimerdemenz begünstigen könnten; parallel dazu schrumpft der entorhinale Kortex, der zum limbischen System gehört. Andererseits ziehen sich laut Diehl-Schmid Menschen mit einer Angsterkrankung häufig sozial zurück – ebenfalls ein großer Risikofaktor für Demenz.
Treten zu Beginn des Krankheitsverlaufs die ersten kognitiven Ausfälle auf, lassen sich mögliche Ängste auch psychologisch erklären. Ludwig Kaufmann etwa bemerkte, dass er sich bei beruflichen Telefonaten oft nicht mehr an den Anfang der Konversation erinnern konnte. Seine Frau schob es zunächst auf den Stress und das Alter. Doch er machte sich weiterhin Sorgen, also sprachen sie es beim nächsten Hausarztbesuch an. Nach der Diagnose traute er sich bald nicht mehr, seinen Beruf als Konstrukteur im Maschinenbau auszuüben. »Ludwig hatte Angst, einen Fehler zu machen, schließlich hängen da Menschenleben dran«, erinnert sich Brigitte Kaufmann. Die Verantwortung sei ihrem Mann zu groß gewesen, obwohl sein Vorgesetzter ihn gerne länger beschäftigt hätte, notfalls auch mit weniger Stunden.
»Das Wissen, sich nicht mehr auf das eigene Gehirn verlassen zu können, ist für viele Leute deutlich schwieriger, als wenn ein Bein versagt«, so Janine Diehl-Schmid. Oft berichteten Patienten und Patientinnen von einer Art Mini-Blackout: »Sie funktionieren eigentlich noch gut, sind aber in manchen Momenten völlig desorientiert und finden sich nicht mehr zurecht.« Solche Erfahrungen sind verständlicherweise sehr verstörend. Zudem kann die Diagnose Zukunftssorgen auslösen: Wie wird mein Leben nun aussehen? Kann ich weiter zu Hause wohnen oder muss ich irgendwann in eine Pflegeeinrichtung?
»Viele Patienten im fortgeschrittenen Stadium halten sich selbst für gesund und reagieren aggressiv, wenn sie von der Umwelt korrigiert und kritisiert werden«Janine Diehl-Schmid, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Kommt es im Verlauf der Erkrankung zu stärkeren Verwirrungen, wissen die Betroffenen oft nicht mehr, wo sie sind. Diese Erfahrung machte Krankenpfleger Günther Lust in seinen rund 30 Jahren in Pflegeheimen immer wieder. »Die Menschen glauben, nicht an diesen Ort zu gehören, nach Hause zu müssen.« Solche Gefühle seien schwer zu besänftigen. »Es ist außerdem endlos. So etwas taucht jeden Tag von Neuem auf.« In fortgeschrittenen Stadien nehmen die Angstgefühle vermeintlich ab. Zumindest zeigen sie sich anders und sind teils schwerer zu erkennen, erklärt Janine Diehl-Schmid: »Die Betroffenen äußern selten eine konkrete Angst. Stattdessen wandern sie umher, sind getrieben, wirken agitiert. Sie drücken ihre Angst beispielsweise durch große Anhänglichkeit gegenüber dem Pflegepersonal, durch Rufen und Unruhe aus.«
Aggressionen, wenn die Impulshemmung flöten geht
Eine mögliche Ursache sind die zu Grunde liegenden pathologischen Prozesse, sagt Robert Perneczky, Leiter der Sektion für Psychische Gesundheit im Alter und des Alzheimer Therapie- und Forschungszentrums am LMU Klinikum München. »Bei der Erkrankung bauen Kerngebiete im Gehirn ab, die mit Ängsten verbunden sind.« Beispielsweise dadurch, dass sich schädliche Eiweiße dort ablagern, die bei der Alzheimerkrankheit eine zentrale Rolle spielen (siehe »Kurz erklärt«). Einige Demenzkranke werden auch eher aggressiv, wenn sie sich unwohl fühlen, berichtet Janine Diehl-Schmid. »In der fortgeschrittenen Demenz ist aggressives Verhalten teils mit dem Absterben der Nervenzellen zu erklären.« Das gilt besonders dann, wenn der Frontallappen stark geschädigt ist. »Das Stirnhirn ist sozusagen der Bereich, der uns davon abhält, unseren Impulsen nachzugeben«, so Diehl-Schmid. »Funktioniert diese Hemmung nicht mehr richtig, verliert man schneller die Kontrolle.«
An den neurobiologischen Ursachen für Angst oder Aggression lässt sich wenig ändern – noch gibt es in Europa dafür keine wirksamen zugelassenen Medikamente. In den USA können Patienten mittlerweile mit dem Antikörper Lecanemab behandelt werden, der die Eiweißansammlungen verhindern soll. Inwiefern dieses Mittel tatsächlich gegen den kognitiven Abbau und gegen Ängste oder Aggressionen wirkt, ist aber unklar.
Kurz erklärt: Alzheimerdemenz
Die Alzheimerkrankheit ist die häufigste Form der Demenz. Sie tritt meist ab 65 Jahren auf; schleichend verlieren Betroffene das Gefühl für Zeit und Orientierung sowie ihre Kommunikationsfähigkeiten, ihr Kurz- und ihr Langzeitgedächtnis. Im Gehirn lagert sich außerhalb der Nervenzellen ein Protein namens Beta-Amyloid in Form von Plaques ab. Innerhalb der Neurone verklumpt das Tau-Protein zu gedrehten Fasern, den Fibrillen. Letztlich führen diese Ablagerungen sowie Entzündungsprozesse zum Absterben von Nervengewebe und zum fortschreitenden Abbau der geistigen Funktionen.
Zusätzlich zu den biologischen Faktoren gibt es eine Reihe von psychischen Aspekten, die negative Emotionen begünstigen. Dabei kommt es auf die individuelle Persönlichkeit an, also ob Betroffene eher ängstlich oder wütend reagieren. Ludwig Kaufmann ist kein aggressiver Mensch. Doch wenn ihm bewusst wird, dass er manche Handwerksarbeiten im Haus nicht mehr selbst schafft, wird er laut, erzählt Brigitte Kaufmann. »Er sagt, dass sich die Wut gegen ihn selbst richtet.« So drücke er seinen Frust aus: »Da ist wieder etwas, was ich nicht mehr kann.«
Vergessen Betroffene, wer oder wo sie sind, oder erkennen sie den pflegenden Partner oder das Personal in der Einrichtung nicht, ruft das ein Gefühl der Bedrohung hervor. »Zum Teil ist es auch die fehlende Krankheitseinsicht«, sagt Janine Diehl-Schmid. »Viele Patienten im fortgeschrittenen Stadium halten sich selbst für gesund und reagieren aggressiv, wenn sie von der Umwelt korrigiert und kritisiert werden.« Dazu kommen rein medizinische Ursachen. Menschen mit starken kognitiven Einschränkungen können oft nicht mehr ausdrücken, wenn ihnen etwas wehtut, sie an einem Juckreiz leiden oder sie beispielsweise eine Verstopfung haben. »Schmerzen können sehr aggressiv machen«, so Diehl-Schmid.
Was Pflegende tun können
Es hängt aber auch am Umfeld, ob die Menschen Ängste oder Aggressionen verspüren. Fühlen sie sich beispielsweise in ihrer Umgebung wohl? Einige Patienten sind zu Hause glücklicher. Das muss aber nicht so sein: »Viel wichtiger ist die Stabilität im Leben«, sagt Perneczky. »Man kann sich gut in einem Heim eingewöhnt haben, ebenso gibt es häusliche Umgebungen, welche die Demenzkranken ängstigen.« Oft geht es außerdem um die Tagesstruktur oder die Menschen, mit denen man seine Zeit verbringt. Überforderung oder Langeweile können genauso negative Gefühle verursachen wie unzufriedene Partner oder gestresste Pflegekräfte.
»Die Betroffenen äußern selten eine konkrete Angst. Stattdessen wandern sie umher, sind getrieben, wirken agitiert«Janine Diehl-Schmid, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie
Letztendlich sei es wohl bei allen Betroffenen eine Mischung aus verschiedenen Faktoren, glaubt Janine Diehl-Schmid. Woran auch immer es liegt: Die Ängste und Aggressionen verringern die Lebensqualität der Menschen und beschleunigen vermutlich den kognitiven Abbau. Was also können Pflegende tun? Zunächst gibt es eine Reihe von Dingen, die im Alltag helfen. Etwa, ängstigende oder aggressiv machende Situationen zu vermeiden. »Für mich ist die Wut eigentlich das Schlimmste«, sagt Brigitte Kaufmann. »Ich habe schlechte Erfahrungen aus der Kindheit und ziehe mich dann in mich zurück.« Um solche Momente gar nicht erst zu erleben, probieren sie und ihr Mann viele Dinge gemeinsam aus und schauen, was funktioniert und was nicht. »Wenn Ludwig etwas schafft, ist das ein Erfolg – wir versuchen uns dann auf diese Sachen zu konzentrieren.«
Sind Demenzkranke desorientiert und glauben beispielsweise, am falschen Ort zu sein, machen manche Angehörige oder pflegende Personen einen großen, aber verständlichen Fehler: Sie wollen den Betroffenen erklären, wie es um sie steht. Das führt jedoch meist zu mehr Angst oder aggressivem Verhalten, sagt Günther Lust: »Sie sind ja überzeugt, dass etwas nicht stimmt. Wenn ich ihnen das Gegenteil erzähle, werde ich vom Verbündeten zum Feind, der sie zum Beispiel an diesem Ort festhalten will.« In solchen Momenten helfe es, erst einmal abzulenken: »Komm, wir trinken einen Kaffee zusammen und packen dann die Sachen.« Und nach ein paar Minuten und einem Schwätzchen über etwas ganz anderes ist die Angst oft vergangen.
Zuhören und ablenken
Das klingt vielleicht kontraproduktiv, als würde man die Patienten und Patientinnen in ihren falschen Vorstellungen bestärken. Tatsächlich sei die Validierung ihrer Denkmuster jedoch ein besonders wichtiger Grundsatz, sagt auch Janine Diehl-Schmid. »Leider können manche Angehörige ihren Umgang mit den Demenzkranken nicht anpassen: Sie müssen immer korrigieren, und dann entsteht eine sehr schlechte Stimmung.« In einer Pflegeeinrichtung hatten Günther Lust und seine Kollegen eine Bushaltestelle in den Garten gebaut. Dort fanden sie häufig Bewohnerinnen und Bewohner. »Das hat ihnen die Möglichkeit gegeben, irgendwie selbst etwas an ihrer Situation zu ändern. Sie hatten das Gefühl, nicht in das Heim zu gehören, aber sie konnten schließlich den Bus nehmen.«
Setzten sich die Pfleger dann einen Moment dazu und redeten etwa über das Wetter, waren die Sorgen schnell vergessen. Überhaupt helfe es in vielen Situationen, einfach zuzuhören und mit den Betroffenen zu sprechen, weiß Günther Lust. Das sei bei Mitarbeitermangel in der Pflege und im Arbeitsstress nicht immer leicht. »Am Ende dauert es aber viel länger, eine wütende oder ängstliche Person zu beruhigen, als vorher mal zuzuhören – und es fühlt sich für alle besser an, wenn solche Momente gar nicht erst entstehen.« Auch der Kontakt zu anderen Bewohnern kann eine hilfreiche Ressource sein, obwohl er manchmal schwierig ist, findet Günther Lust: »Oft können sie sich gut in die Demenzkranken hineinversetzen und kümmern sich um diejenigen, die mehr Unterstützung brauchen.«
Tipps für den Umgang mit Demenzpatienten
Vorbereitet sein: Informieren Sie sich gründlich über die Erkrankung Ihres Angehörigen. So wissen Sie genau, was in den nächsten Monaten möglicherweise auf Sie zukommt.
Orientierung bieten: Vermeiden Sie plötzliche Veränderungen und sorgen Sie für einen strukturierten, gleich bleibenden Tagesablauf. Dazu gehören Alltagsroutinen, die dem Betroffenen vertraut sind und Freude bereiten, wie etwa ein regelmäßiger Spaziergang nach dem Mittagessen. Kleine Gedächtnisstützen wie Hinweisschilder in der Wohnung können hilfreich sein.
Kommunikation anpassen: Sprechen Sie in kurzen, einfachen Sätzen. Fragen sollten so formuliert sein, dass sie möglichst nur zwei Antwortoptionen zulassen. Gesten und Berührungen sind hilfreich, um Verbales zu unterstreichen.
Geduldig sein: Seien Sie geduldig und einfühlsam. Stress und Hektik verunsichern den Erkrankten und setzen ihn unter Druck.
Akzeptieren lernen: Nachgeben und die Gefühlswelt des Betroffenen akzeptieren ist eine wichtige Maßnahme, um ein harmonisches Zusammenleben zu erreichen. Vermeiden Sie Zurechtweisungen und Kritik (Diskussionen sind nutzlos).
Eigenständigkeit fördern: Man sollte den Erkrankten nicht alle Aufgaben abnehmen, nur weil sie ihnen schwerer fallen als früher. Durch Aufteilung von Handlungen in einzelne Schritte und geeignete Hilfestellungen kann ein gewisses Maß an Selbstständigkeit erhalten bleiben. Das stärkt den Selbstwert. Aber überfordern Sie die Betroffenen nicht, das führt zu Wut.
Für das körperliche Wohlbefinden sorgen: Menschen mit Demenz verlieren den Bezug zum eigenen Körper und somit auch zur Körperpflege. Animieren Sie sie dazu und sorgen Sie ebenfalls für eine gesunde Ernährung sowie regelmäßige Arztbesuche.
Mit Aggressionen umgehen: Versuchen Sie, herauszufinden, was der Auslöser für das aggressive Verhalten war, um solche Situationen zu vermeiden. Bemühen Sie sich, gelassen zu bleiben und die Vorwürfe oder das Verhalten der erkrankten Person nicht auf sich zu beziehen. Lenken Sie die Aufmerksamkeit in der Situation auf etwas anderes.
Quellen:
Negative Gefühle zu vermeiden, erfordert außerdem oft viel Mitdenken von den Pflegerinnen und Pflegern, egal ob zu Hause oder im Heim. »Dabei hilft es, wenn die Tage immer eine ähnliche Struktur haben«, sagt Robert Perneczky. »So können sich die Patienten an etwas festhalten.« Im Grunde selbstverständlich, aber doch immer wieder erwähnenswert, so Janine Diehl-Schmid: »Die Kommunikation muss ruhig und klar sein, der Umgang mit dem Demenzkranken freundlich, zugewandt und respektvoll.«
Neben dem alltäglichen Umgang gibt es medizinische Möglichkeiten, um Ängste und Aggressionen zu lindern. »Medikamente wie Beruhigungsmittel sind dabei allerdings die letzte Wahl«, so Diehl-Schmid. Viel wichtiger sei es, die Faktoren durchzugehen: Könnte es sein, dass diejenigen Schmerzen haben? »Manchmal ist es sinnvoll, ein Schmerzmedikament auszuprobieren.« Sind sie über- oder unterfordert, gibt es Dinge in ihrem Umfeld, die sie stressen? Dann könnte beispielsweise eine Umstellung des Tagesrhythmus helfen.
Musik und Bewegung können helfen
Oder man versucht eine nichtmedikamentöse Therapie. »Das klingt recht hochtrabend, dahinter steckt aber eigentlich nichts anderes als Gruppenaktivitäten, Musik, Bewegung oder frische Luft.« Verschiedene Untersuchungen haben bereits nahegelegt, dass solche Aktivitäten helfen können. Allerdings: »Die Studienlage ist hier sehr schlecht«, sagt Robert Perneczky. »Dafür gibt es viel zu wenig Geld, zumal sich hier keine Pharmaindustrie Gewinne von nichtmedikamentösen Interventionen verspricht.«
Die wenigen vorliegenden Studien – leider häufig mit geringer Probandenzahl oder ohne Vergleichsgruppe – zeigen vor allem die Vorteile von Musiktherapie, teils für einzelne Personen und teils in Gruppen. Tatiana-Danai Dimitriou und ihre Kollegen unterzogen im Jahr 2020 an der Aristoteles-Universität Thessaloniki insgesamt 60 Demenzpatienten fünf Tage lang verschiedenen Interventionen. Zu den nichtmedikamentösen Behandlungen gehörten Musiktherapie, Aromatherapie und Massage sowie ein Sportprogramm. Ersteres war am effektivsten, um die Ängste der Patienten zu reduzieren.
»Am Ende dauert es viel länger, eine wütende oder ängstliche Person zu beruhigen, als vorher mal zuzuhören«Günther Lust, Krankenpfleger
Für die Musik gebe es die solidesten Daten, bestätigt Robert Perneczky. Doch er kann sich nicht vorstellen, dass diese Behandlung notwendigerweise besser ist als etwa Bewegung. Letztendlich findet er die Studien zu derartigen Therapien gar nicht so wichtig. Man müsse ohnehin bei jedem Patienten ausprobieren, was ihm guttut. Schaden könne das nicht, immerhin haben weder Musik noch Bewegung Nebenwirkungen. »Kognitives Training, also Kreuzworträtsel lösen oder ähnliche Aufgaben, stresst die Betroffenen aber eher, als dass es nützt.«
Kognitive Verhaltenstherapie im Frühstadium
Kognitive Verhaltenstherapie kann helfen: Sie gilt als Goldstandard gegen Ängste – allerdings erfordert sie Reflexion, Konzentration und überhaupt die Fähigkeit, aktiv an der Angstbekämpfung mitzuwirken. Für Demenzkranke ab einem mittleren Schweregrad sei das nur frustrierend für alle Beteiligten, sagt Janine Diehl-Schmid, und deshalb nicht mehr sinnvoll. »Gerade im Frühstadium kann eine kognitive Verhaltenstherapie, die möglicherweise einfacher gehalten ist als bei Menschen ohne Demenz, aber durchaus helfen.« Die behandelnden Ärztinnen und Ärzte könnten sehr gut einschätzen, ob die Betroffenen in der Lage sind, eine solche Therapie mitzumachen, und ob es ihnen etwas bringen wird.
So komplex die richtige Behandlung von Menschen mit Demenz sein kann: Oft werden dabei die pflegenden Angehörigen völlig übersehen. Doch sie müssen psychisch eine Menge aushalten und geben sich für ihre Lieben mitunter regelrecht selbst auf, so Perneczky: »Viele machen sich komplett fertig – aber wenn sie dann im Krankenhaus liegen, hilft das den Betroffenen auch nicht.« Er empfiehlt, unbedingt Dinge in den Alltag zu integrieren, die nichts mit der Krankheit oder der anderen Person zu tun haben – ein Museumsbesuch, Freunde treffen oder was einem selbst eben guttut. Brigitte Kaufmann kann das nur bestätigen: Ihr fehlen zuweilen das soziale Leben, Konzerte, Theater oder ein leckeres Essen im Restaurant. Für die Gesundheit der Angehörigen ist es hilfreich, wenn sie ein starkes soziales Netzwerk haben. Bei den Kaufmanns wohnt der älteste Sohn mit seiner Familie im gleichen Haus, der Jüngste hilft auch aus, und eine sehr gute Freundin, die in der Nähe lebt, ebenfalls.
Selbsthilfegruppen für Angehörige
Zum Austausch untereinander gibt es Selbsthilfegruppen für Angehörige. Das könne unterstützen, sagt Robert Perneczky. Manche wollten das allerdings gar nicht: »Wenn sie sich den ganzen Tag mit der demenzkranken Person beschäftigen, möchten sie nicht noch die Sorgen von anderen Leuten in einer ähnlichen Situation hören.« Das war zunächst auch Brigitte Kaufmanns Gedanke. Doch als sie eine Gruppe für Angehörige von Demenzkranken der Diakonie ausprobierte, empfand sie die Gespräche als sehr positiv. Einige wissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass Selbsthilfegruppen die Lebensqualität der Pflegenden deutlich verbessern können.
Zukunftsängste entstehen nicht nur bei den Betroffenen selbst, sondern kommen auch in deren Umfeld vor. Dagegen hilft häufig schon Aufklärung darüber, was die Krankheit genau bedeutet, wie der Verlauf aussieht und was in den kommenden Monaten und Jahren zu erwarten ist. Eine gute Vorbereitung bekamen Ludwig und Brigitte Kaufmann in einem neurologischen Fach- und Rehabilitationskrankenhaus am Bodensee. Dort machte Ludwig Kaufmann verschiedene Tests, um die anfänglichen Befunde zu prüfen und die Diagnose zu bestätigen. Die ersten zwei Wochen verbrachten er und seine Frau gemeinsam in dem Krankenhaus. »Das machen sie so, damit der Angehörige auch weiß, was auf ihn zukommt«, sagt Brigitte Kaufmann. »Uns beiden hat das sehr geholfen.«
»Gerade wenn die Betreuung sehr belastend ist, sollten die Angehörigen sich professionelle Hilfe suchen«Robert Perneczky, Facharzt für Psychotherapie, Psychiatrie und Geriatrie
Manchmal könne außerdem eine Psychotherapie für Angehörige sinnvoll sein, meint Robert Perneczky. »Gerade wenn die Betreuung sehr belastend ist, sollten sie sich professionelle Hilfe suchen.« Schließlich sei ihr Risiko für psychische und körperliche Krankheiten ohnehin höher: »Sie bekommen häufiger Schlaganfälle, Herzinfarkte, Bluthochdruck oder Diabetes.« Schon deshalb solle man schauen, ob man allein noch alles bewältigen könne. »Hilfe suchen und annehmen, wenn man beispielsweise selbst depressiv wird, sind die beiden wichtigsten Punkte.«
Das Ehepaar Kaufmann hat für sich einen Weg gefunden, mit relativ wenig Angst und vielen schönen gemeinsamen Momenten mit der Krankheit umzugehen. Oft sitzen sie einfach am Fenster, blicken auf den Wald und freuen sich an der Natur. Mit dem Alter drängt sich allerdings zunehmend die Sorge auf, wie lange sie noch auf diese Weise zurechtkommen. »Ich merke mittlerweile, dass ich auch über 70 bin«, sagt Brigitte Kaufmann. »Ich hoffe, ich bleibe so fit, dass es trotzdem weiter funktioniert.«
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