Serie: Kuriose Experimente am Menschen: Der Doktor, der sich selbst einen Katheter ins Herz legte
In den 1920er Jahren arbeitet der junge Kardiologe Werner Forßmann (1904-1979) am Auguste-Viktoria-Heim in Eberswalde, einem Krankenhaus, das dort auch heute noch steht, nach Forßmanns Nobelpreis aber in Werner-Forßmann-Krankenhaus umbenannt wurde. Aber dazu später. Was den jungen Arzt damals beschäftigt, scheint auf den ersten Blick nichts Besonderes: Er will prüfen, ob man einen Katheter durch eine Ader im Arm bis ins Herz schieben kann.
Forßmanns Vorgesetzte halten das für keine gute Idee, doch der Arzt schert sich nicht um das Verbot. Der entscheidende Punkt: Forscher und Versuchsobjekt sind ein und dieselbe Person. Forßmann will das Experiment an sich selbst durchführen, unter erheblicher Gefahr für sein eigenes Leben. Und damit nicht genug: Ein raffiniertes Täuschungsmanöver und ein wenig Romantik mischen auch noch mit.
Forßmann möchte nämlich unbedingt, dass ihm die OP-Schwester Gerda Ditzen assistiert – der klassische Flirt des verliebten Doktors und seiner Krankenschwester. Ditzen erklärt sich gerne bereit, ihm zu helfen. Unter einer Bedingung: dass er sein Experiment an ihr vollzieht und sich selbst nicht in Gefahr bringt. Danach spielt sich das Drama ganz nach dem Strickmuster eines konstruierten Arztromans ab, allerdings im wahren Leben und in einer überaus pikanten Szenerie.
Ein Drama wie aus einem Arztroman
Denn Forßmann bindet Ditzen am Operationstisch fest, desinfiziert ihren Arm mit Jod und lässt sie in dem Glauben, dass er sie gleich lokal betäuben werde. Doch während er ihr in einer Ecke des OP-Raums den Rücken zudreht, vollzieht er die Prozedur an sich selbst. Er öffnet eine Ader in einem Arm und schiebt den Katheter in Richtung seines Herzens. Als er bis zur Schulter vorgedrungen ist, dreht er sich um. Er bindet die Krankenschwester los und sagt: So, geschafft!
»Sie war wütend«, berichtet er rückblickend dem Journalisten Lawrence K. Altman von der »New York Times«. »Ich bat sie, ruhig zu bleiben, mir ein Tuch um den Arm zu binden und einen Röntgentechniker zu rufen. Gemeinsam gingen wir die Treppe hinunter zu seiner Abteilung, die sich im Keller befand.« Dort stellt sich Forßmann hinter das Fluoroskop, einen Röntgenapparat, der damals für solche Untersuchungen verwendet wurde. Er bittet Ditzen, die auf der anderen Seite steht, einen Spiegel hochzuhalten, damit er selbst sehen kann, wo genau sich der Katheter befindet.
Nicht weit genug drin, nach seinem Geschmack. Er schiebt ihn also weiter und verfolgt im Spiegel, wie sich der Katheter seinem Herzen nähert. Und dann folgt der nächste dramatische Höhepunkt. Denn Forßmann und Ditzen haben nicht bemerkt, dass der Techniker den Raum leise verlassen hat. Er kommt zurück, aber nicht allein, sondern mit Abteilungsleiter Peter Romeis im Schlepptau. Sobald der sich von dem, was er da sieht, erholt hat, brennt bei ihm die Sicherung durch.
»Er versuchte den Katheter aus meinem Arm zu ziehen«, berichtet Forßmann später. »Ich versuchte ihn davon abzuhalten und rief: ›Nein, nein! Ich muss bis ins Herz vordringen!‹ Ich trat ihn hart gegen das Schienenbein, und als er sich vor Schmerzen krümmte, schob ich den Katheter weiter, bis ich im Spiegel sehen konnte, dass er sein Ziel erreicht hatte. ›Foto! Mach ein Foto! Jetzt!‹, rief ich dem Techniker zu, denn ich musste ja einen greifbaren Beweis dafür haben, dass das Experiment geglückt war.«
Nach langem Widerstand und vielen Diskussionen erhält Forßmann schließlich die Erlaubnis, seine Forschung fortzusetzen – weiterhin mit sich selbst als Versuchsperson. In den folgenden vier Wochen setzt er sein Leben weitere Male aufs Spiel. Wie durch ein Wunder geht es stets gut.
Am 13. September 1929 veröffentlicht er einen Artikel im führenden Fachblatt »Klinische Wochenschrift« über das Einsetzen von Kathetern, der dem medizinischen Fortschritt einen neuen Anstoß gibt. Mit einem Nebeneffekt: Die Presse kommt der sensationellen Geschichte auf die Spur, und eine Berliner Zeitung bietet ihm, umgerechnet auf heutige Verhältnisse, 5000 Euro für die Röntgenaufnahmen. Forßmann lehnt ab, kann damit jedoch die öffentliche Aufmerksamkeit nicht verhindern. In den folgenden Jahren kommt sie ihn teuer zu stehen.
Seine lebensgefährlichen Experimente haben seinem Ruf geschadet. Kein Krankenhaus will ihn mehr unter seinem Dach arbeiten lassen. 1933 gibt er die Kardiologie notgedrungen auf und schult zum Urologen um. Inzwischen ist er der Nationalsozialistischen Partei beigetreten, steigt in den Rang des Stabsarztes auf. Als Sanitätsoffizier landet er in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager, kommt aber bald wieder frei. Seine akademische Karriere jedoch ist für immer beendet. Forßmann zieht sich in ein Städtchen im Schwarzwald zurück. Zuerst arbeitet er als Holzfäller, dann als Landarzt an der Seite seiner Frau und schließlich als Urologe. Über sein Aufsehen erregendes Experiment aus dem Jahr 1929 legt sich immer mehr Staub.
Bis André Frédéric Cournand und Dickinson W. Richards 1945 auf Forßmanns Artikel in der »Klinischen Wochenschrift« stoßen. Sie bauen auf seinen Erkenntnissen auf und verfeinern Forßmanns Technik. Der Weg zum gemeinsamen Nobelpreis steht offen. Mehr als zehn Jahre später, 1956, erhält Forßmann zusammen mit Cournand und Richards den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin »für die Demonstration, wie ein Katheter in das Herz eingeführt werden kann, und für die Erforschung mehrerer Herzerkrankungen«.
Serie: Kuriose Experimente am Menschen
Teil 1: Interview mit einem Cyborg: "Man muss keine Angst haben, weniger Mensch zu werden"
Teil 2: Der Doktor, der sich selbst einen Herzkatheter legte
Teil 3: Hängen für die Wissenschaft
Teil 4: Der Forscher, der Affe und Mensch kreuzen wollte
Teil 5: Für die Wissenschaft ans Kreuz genagelt
Teil 6: Eigen-OP in der Antarktis
Teil 7: Der menschliche Crashtest-Dummy
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