News: Der Lüge ins Gesicht geschaut
Diese Fähigkeit wurde schon früher bei Aphasie-Patienten beobachtet, aber nie wissenschaftlich untersucht. Medizinische Anekdoten, in denen Betroffene Lügner überführen, gehen bis in die frühen zwanziger Jahre zurück. Und in seinem populären Buch "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte" schildert der Neurologe Oliver Sacks, wie Patienten mit dieser Sprachstörung einen Politiker im Fernsehen reden sahen und lachten, als sie erfuhren, was er gerade zuvor gesagt hatte.
Um diese Beobachtungen wissenschaftlich zu untermauern, präparierte Nancy Etcoff vom MGH mit ihren Mitarbeitern einige Videobänder. Darauf sollten einige Probanden bestimmte positive Aussagen über ihre Gemütslage machen. Allerdings wurden ihnen während der Aufzeichnung einmal harmonisch stimmende, positive Szenen vorgespielt und einmal aufwühlend Erschreckendes. Diese Bänder zeigten die Forscher – zunächst ohne Ton, dann mit – vier verschiedenen Teilnehmergruppen: Aphasie-Patienten mit Hirnschäden in der linken Hemisphäre, Patienten mit Verletzungen der rechten Hemisphäre, jedoch ohne Beinträchtigung des Sprachvermögens, dann einer bunt gemischten Kontrollgruppe und schließlich einigen Studenten. Dabei bestimmte der Zufall, welches der beiden Interviews die Teilnehmer zuerst sahen.
Vergleichbare Studien ergaben schon früher, dass die Wahrscheinlichkeit, das Interview zu erkennen, bei dem der Proband unter negativem Einfluss stand – also log – etwa 50 Prozent beträgt. Die Trefferquote bei den Aphasie-Patienten lag hingegen bei 73 Prozent, wenn sie nur auf den Gesichtsausdruck achteten. Die drei anderen Gruppen erkannten anhand der Mimik jedoch auch nur jeden zweiten Lügenfall richtig. Wurden die Stimmen der Probanden dazugespielt, lagen die Versuchsteilnehmer mit Sprachstörung immerhin noch bei 60 Prozent richtig, bei den anderen sanken die korrekten Beurteilungen auf 45 Prozent. Keine der Gruppen konnte ausschließlich anhand der Stimme erkennen, ob die Probanden logen oder nicht.
"Unsere Studie wirft allerdings die Frage auf, ob die Patienten mit Aphasie tatsächlich Lügen besser erkennen, oder ob sie vielmehr den emotionalen Zustand der Sprecher auf den Videobändern erkannten", erläutert Etcoff. "Frühere Arbeiten konnten nicht bestätigen, dass Personen mit Hirnschaden einfache Emotionen wie Freude oder Trauer besser erkennen als andere," fügt die Psychologin noch hinzu. Auf jeden Fall können Aphasie-Patienten Sprache in der Regel nicht richtig verstehen. Daher konzentrieren sie sich wahrscheinlich mehr auf die Gesichtszüge ihres Gegenübers und merken daher leichter, wenn der sprachliche Ausdruck nicht zur Mimik passt.
Siehe auch
- Spektrum Ticker vom 11.6.1999
The bilingual Gehirn
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 26.3.1999
Schau mir in die Kamera, Kleines!
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich) - Spektrum Ticker vom 6.5.1998
Neues Lernen
(nur für Ticker-Abonnenten zugänglich)
Der Heidelberger Verlag Spektrum der Wissenschaft ist Betreiber dieses Portals. Seine Online- und Print-Magazine, darunter »Spektrum der Wissenschaft«, »Gehirn&Geist« und »Spektrum – Die Woche«, berichten über aktuelle Erkenntnisse aus der Forschung.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.