Serie: Kuriose Experimente am Menschen: Der menschliche Crashtest-Dummy
Wenn das berühmte Marmeladenbrötchen mit der bestrichenen Seite auf dem Boden landet, wenn der Wohnungsschlüssel im Schloss abbricht, während man mit zwei vollen Einkaufstaschen davorsteht und drinnen das Telefon klingelt, und die Müllabfuhr ausgerechnet dann vor einem auf der Straße auftaucht, wenn man es irre eilig hat – dann schießt einem nicht selten dieser eine Satz durch den Kopf: »Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen.« Dabei war Murphys Gesetz ursprünglich gar nicht so sehr für die kleinen und mittelgroßen Missgeschicke verantwortlich – sein Zweck war es einst, Leben zu retten. Zum Beispiel das von John Paul Stapp, dem Chef des Sprücheerfinders Edward A. Murphy und ehemals »schnellsten Menschen auf Erden«, der Mitte des 20. Jahrhunderts durch waghalsige – und wichtige – Experimente auf sich aufmerksam machte.
Auf die Frage eines Journalisten, warum bei solch lebensgefährlichen Versuchen bisher niemand ernsthaft zu Schaden gekommen sei, antwortete Stapp, dass sein Team im Vorfeld immer Murphys Gesetz berücksichtige und alles Mögliche in Betracht ziehe, was passieren könne. Und das war eine ganze Menge, denn immerhin raste er während der Tests mit Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 1000 Kilometern pro Stunde durch die Wüste.
Die Rekordjagd John Paul Stapps war kein Selbstzweck – und erst recht kein Vergnügen: Der studierte Mediziner und Biophysiker wollte herausfinden, was derartige Geschwindigkeiten mit dem menschlichen Körper anstellen. Vor allem, was passiert, wenn man bei diesem Tempo abrupt zum Stehen kommt.
65 Stunden in 13 Kilometer Höhe
Seit dem Frühjahr 1946 erforschte der 1910 als Sohn eines Missionarspaars in Brasilien geborene Stapp, wie sich der menschliche Körper in extremen Umgebungen verhält. Zunächst beschäftigte er sich dabei allerdings mit den Belastungen in der Höhe. Im Auftrag der U.S. Air Force flog er mit einem B-17-Bomber, der auf das Wesentliche zurückgebaut worden war, also zum Beispiel keinerlei Waffensysteme mehr besaß, in die Stratosphäre auf etwa 12 000 Meter Höhe. Die Piloten saßen in einem Cockpit, bei dem der Druck in der Kabine nicht ausgeglichen wurde. In der dünnen Luft führte Stapp eine Reihe von Experimenten durch, um zu klären, wie ein Mensch diese Höhe dauerhaft ertragen könne, ohne das Bewusstsein zu verlieren oder von der Dekompressionskrankheit – auch Taucherkrankheit genannt – übermannt zu werden. Nach insgesamt rund 65 Flugstunden in dieser Höhe hatte er eine Antwort auf jene Frage: Wenn ein Pilot eine halbe Stunde vor dem Flug reinen Sauerstoff einatmet, dann verhindert er die Bläschenbildung im Blut – eine wichtige Erkenntnis auch für die spätere Raumfahrt.
Überlebende, die es gar nicht geben dürfte
Nach dieser Arbeit wechselte Stapp das Betätigungsfeld, denn der kurz vorher beendete Zweite Weltkrieg hatte in der Luftfahrt weiteren Forschungsbedarf offenbart: Zwar war die Sicherheitstechnik an Bord von Kampfflugzeugen in den vorangegangenen Jahren stetig verbessert worden – teilweise aber unter falschen Grundannahmen die g-Kräfte betreffend. Diese Größe gibt die Belastung an, die auf den menschlichen Körper wirkt, wenn sich die Geschwindigkeit oder die Richtung der Bewegung, der er ausgesetzt ist, verändert, etwa wenn er in einem fahrenden Auto beschleunigt oder abgebremst wird. Bis dahin war man davon ausgegangen, dass der Mensch maximal 18 g überleben könne – also das 18-Fache der Erdbeschleunigung, die auf der Erde in ruhendem Zustand auf einen Menschen wirkt. Beim Bau von Militärflugzeugen richteten sich die Konstrukteure nach diesem Wert; sämtliche Sicherheitsvorkehrungen waren darauf ausgelegt. Doch immer wieder überlebten Piloten Bruchlandungen – obwohl viel höhere g-Kräfte gewirkt hatten. Andere starben hingegen bei ähnlichen Vorkommnissen, weil beispielsweise die Sitze oder die Cockpits bei Kräften jenseits der 18 g versagten. Eine Neujustierung war demnach dringend erforderlich – denn für die Flugzeuginsassen bestand die Gefahr, zwar die Auswirkungen der Physik zu überleben, dann aber auf Grund mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen ums Leben zu kommen.
Als John Paul Stapp in der Edwards Air Force Base in der kalifornischen Mojave-Wüste ankam, waren die Pläne für Experimente zur Auswirkung von Beschleunigungskräften schon weit fortgeschritten. Ingenieure hatten eine 600 Meter lange Schienenstrecke, auf der die Armee zuvor deutsche V1-Raketen getestet hatte, bereits zum »Human Decelerator« (dem menschlichen Abbremser) ausgebaut, indem sie eine rund 15 Meter lange Bremsanlage installiert hatten. Die Wissenschaftler konnten hier also Versuchsobjekte auf eine hohe Geschwindigkeit beschleunigen und in kürzester Zeit wieder zum Stillstand bringen.
Mit dem Schlitten durch die Wüste
Auf den Schienen sollte ein Raketenschlitten Spitzengeschwindigkeiten von über 300 Stundenkilometern erreichen und dann in weniger als einer Sekunde zum Stehen kommen. »Gee Whiz« – so der Name des Gefährts – bestand aus nicht mehr als einem Stuhl, der auf einem Fahrgestell aus zusammengeschweißten Metallröhren stand. Zunächst schirmte eine Kabine den Fahrer noch ab, diese wurde aber nach kurzer Zeit auf ein nur notdürftig schützendes Visier reduziert. Der Schlitten war insgesamt 4,5 Meter lang und wog etwa 600 Kilogramm. Im hinteren Bereich befanden sich eine Antenne, die Informationen von Sensoren übertrug, und ein Gestell für vier Raketen. Ein »Freiwilliger« für die Tests war schnell gefunden: Der 80 Kilogramm schwere Dummy-Veteran »Oscar Eightball«, der überwiegend aus Kunststoff bestand – zum Glück. Denn seine erste Fahrt am 30. April 1947 verlief nicht wie erhofft: Das Bremssystem versagte, und der Schlitten schoss über das Ende des Schienenstrangs hinaus. Während eines weiteren Durchgangs stoppte »Gee Whiz« so unsanft, dass »Oscars« Sicherheitsgurt versagte und er durch die Wüste flog.
Im Dezember 1947, über ein halbes Jahr und 33 Durchgänge später, räumte »Oscar« schließlich seinen Platz für den Versuchsleiter persönlich: Stapp schwang sich selbst in den Sitz des Gefährts. Sein Kollege Chuck Yeager hatte zwei Monate zuvor bei mehr als 1100 Stundenkilometern mit einem Raketenflugzeug als erster Mensch überhaupt die Schallmauer durchbrochen und Stapps Forschung somit noch mehr Dringlichkeit verliehen. Für die ersten Versuche wählte der Biophysiker allerdings eine sanftere Variante: Nur eine Rakete trieb den Schlitten an, auf dem er rückwärtssaß, um das Gesicht zu schützen. Doch bereits am zweiten Tag stockte er auf drei Raketen auf, die ihn auf jenseits der 320 Stundenkilometer beschleunigten.
Bis August 1948 hatte er insgesamt 16 Durchläufe hinter sich und war einem Maximum von 35 g ausgesetzt gewesen. Zwar hatte er keine lebensgefährdenden Schäden davongetragen, aber ein Vergnügen waren die Schlittenfahrten nicht. Die Sicherheitsgurte schnitten schmerzhaft in Stapps Körper, brachen ihm Rippen und Schlüsselbein. Außerdem trug er mehrfach eine Gehirnerschütterung davon, verlor Zahnfüllungen und brach sich das Handgelenk, als sein Arm frei im Fahrtwind schlackerte.
Weggelobt ins Büro
So zufrieden er selbst mit seinen Fahrten war, so entsetzt waren Stapps Vorgesetzte. Kaum hatte er ihnen die Ergebnisse präsentiert, wiesen sie ihn an, auf eigene Testreihen jenseits der 18 g zu verzichten und dafür stattdessen Schimpansen einzusetzen. Zudem wurde er in den Rang eines Majors befördert und somit von den Experimenten ins Büro weggelobt. Stapps Daten ließen sich jedoch nicht ignorieren. Auch die Vorgesetzten wussten, dass es fahrlässig gewesen wäre, sich nicht mit den neuen Erkenntnissen und entsprechenden verbesserten Flugzeugsicherheitssystemen zu beschäftigen. Die Air Force begann beispielsweise sehr schnell damit, die Sitze in Transportflugzeugen um 180 Grad zu drehen, so dass die Passagiere mit dem Rücken in Flugrichtung saßen und im Notfall höheren g-Kräften widerstehen konnten. Weitere neue Entwicklungen wurden in die Wege geleitet. Die 18-g-Grenze war zwar gefallen, doch das Limit noch immer unbekannt – zusätzliche Schlittenfahrten waren also notwendig, diesmal mit Blick in Bewegungsrichtung. Insgesamt fuhr »Gee Whiz« 74-mal mit menschlicher Besatzung, 80-mal waren Schimpansen die Piloten. Dann wurde das Gefährt zu langsam.
»Sonic Wind«
Die neue Strahltriebwerkstechnologie, die für immer schneller fliegende Kampfjets sorgte, machte Versuche auf einem ganz anderen Tempolevel erforderlich. Sollten Geschwindigkeiten jenseits der 1000 Stundenkilometer üblich werden, so mussten auch die Sicherheitsvorkehrungen angepasst werden. Überlebte zum Beispiel ein Pilot den Ausstieg per Schleudersitz aus einem mit Mach 1 fliegenden Flugzeug? Die durch die plötzliche Abbremsung hervorgerufenen g-Kräfte mussten enorm sein. Es dauerte nicht lang, dann hatte die Air Force ein Einsehen, und der inzwischen über 40-jährige Major bekam wieder die Freigabe für Tests an seiner eigenen Person. So setzte er sich beispielsweise in einem offenen Flugzeug einem Fahrtwind von 900 Stundenkilometern aus. Um aber Beschleunigungskräfte in relevanten Bereichen zu überprüfen, musste das Schienenfahrzeug auf der Erde höhere Geschwindigkeiten erreichen – ein neuer Schlitten in einer anderen Wüste musste her.
Serie: Kuriose Experimente am Menschen
Teil 1: Interview mit einem Cyborg: »Man muss keine Angst haben, weniger Mensch zu werden«
Teil 2: Der Doktor, der sich selbst einen Herzkatheter legte
Teil 3: Hängen für die Wissenschaft
Teil 4: Der Forscher, der Affe und Mensch kreuzen wollte
Teil 5: Für die Wissenschaft ans Kreuz genagelt
Teil 6: Eigen-OP in der Antarktis
Teil 7: Der menschliche Crashtest-Dummy
Ab 1953 fuhr »Sonic Wind« auf dem Gelände des Aeromedical Field Laboratory in der Holloman Air Force Base in New Mexico. Das Vehikel bestand aus zwei Teilen: Ein Antriebsschlitten, der bis zu zwölf Raketen trug, sorgte für das Tempo – ein zweites, weitaus leichteres Segment, das nach der Beschleunigung abgetrennt werden konnte, trug den Testpiloten schließlich auf seine Höchstgeschwindigkeit. Die Ingenieure erwarteten bis zu 1200 Stundenkilometer. Am Ende der Strecke liefen die Schienen in ein Wasserbecken, in das an den Kufen angebrachte Kellen hineingriffen und den Schlitten so abbremsten.
Rekord!
Während der ersten Testfahrt saß ein Dummy-Kollege von »Oscar Eightball« auf dem explosiven Stuhl: »Sierra Sam«. Danach folgten einige Experimente mit Schimpansen. Im März 1954 schließlich stand Stapps Premierenfahrt auf »Sonic Wind« an. Angetrieben von sechs Raketen rauschte Stapp mit rund 600 Stundenkilometern über die Schienen.
Und das war erst der Anfang. Immer wieder überbot er die eigenen Rekorde, bis zum 10. Dezember 1954: Auf seiner 29. Fahrt schließlich beschleunigte er mit Blick in Fahrtrichtung angetrieben von neun Raketen auf die niemals zuvor erreichte Geschwindigkeit von 1017 Stundenkilometer – und kam innerhalb von 1,4 Sekunden wieder zum Stehen. Die Belastung stieg dabei für kurze Zeit auf über 46 g, dann fiel sie für 1,1 Sekunden auf nicht minder extreme 25 g. Als die Rettungskräfte bei Stapp eintrafen, fanden sie einen leicht verletzten Piloten vor. Er hatte sich nur einige Rippen gebrochen, und die Reibung des Wüstensands hatte auf der Haut – trotz Schutzanzug und Helm – Verbrennungen verursacht. Besonders seine Augen litten unter der immensen Belastung: Das höllische Bremsmanöver hatte zu Einblutungen in den Augen geführt, etwa eine Dreiviertelstunde konnte Stapp nichts sehen. Auf solche Verletzungen hatte er sich allerdings vorbereitet. »Ich habe Anziehen und Ausziehen bei ausgeschaltetem Licht geübt, um nicht hilflos zu sein, falls ich erblinden würde«, sagte er 1985 in einem Interview.
Spätestens mit dieser Fahrt hatte er sich in die Geschichtsbücher seiner Wissenschaft geschrieben, selbst wenn er bei seiner letzten Fahrt auf »Sonic Wind« nicht die höchste jemals bei einem Menschen gemessene g-Beschleunigung erreichte. Diese Ehre gebührt seinem Mitarbeiter Eli Beeding, der knapp vier Jahre später, am 16. Mai 1958, auf einer anderen Strecke ähnliche Versuche unternahm. Mit dem Rücken voraus prallte er bei 56 Stundenkilometern auf einen Bremsklotz, der ihn innerhalb von 0,04 Sekunden zum Stehen brachte. Die dabei auftretenden Kräfte beliefen sich insgesamt auf »nur« 40 g. Den Platz im Guinnessbuch der Rekorde bescherte ihm jedoch ein Sensor auf seinem Brustkorb. Für Sekundenbruchteile verzeichnete er einen Wert von sage und schreibe 82,6 g. Auch Beeding überlebte ohne dauerhafte Verletzungen.
Mit Stapps geschichtsträchtigem Durchlauf lässt sich Beedings Experiment aber nur schwer vergleichen: Zum einen saß er in der unproblematischeren Rückwärtsposition, zum anderen hielten die extremen g-Kräfte bei ihm viel weniger lang an.
Für die Medien war die Sache ohnehin ausgemacht. Sie feierten Stapp als unerschrockenen Forscher und »schnellsten Menschen auf Erden«. Er war zum »All-American-Hero« geworden, wurde mit Auszeichnungen überhäuft und zierte Zeitschriftencover. Dem zurückhaltenden Forscher war diese Aufmerksamkeit allerdings eher lästig. Die einzigen bleibenden Nachwirkungen seiner Experimente seien die Dinner, auf die er seitdem gehen müsse, sagte er einmal.
Ein Unfall schließlich stoppte die Selbstversuchsreihe und sorgte möglicherweise dafür, dass John Paul Stapp erst 1999, im Alter von 89 Jahren, starb. Denn eigentlich hatte er die 1000 Miles-per-hour-Marke (über 1600 Stundenkilometer) ins Visier genommen, doch im Juni 1956 entgleiste »Sonic Wind« ohne Fahrer und wurde schwer beschädigt. Die bemannten Testfahrten wurden eingestellt.
»Stapps ironisches Paradoxon«
Für die weiteren Arbeiten des Biophysikers waren solche atemberaubenden Geschwindigkeiten auch gar nicht mehr notwendig. Stapp konzentrierte sich ab Mitte der 1950er Jahre vor allem auf die Sicherheit von Fahrzeugen. Er hatte nämlich aus Statistiken herausgearbeitet, dass die Air Force mehr Piloten durch Autounfälle verlor als durch Unglücke in der Luft. Deshalb versuchte er, seine Forschungsergebnisse auf diesen Bereich zu übertragen und darüber hinaus neue Erkenntnisse zu erlangen. Die U.S. Air Force baute dafür eine eigene Anlage, in der Stapp die ersten Crashtests mit Dummys durchführte. Bereits 1955 hatte er Verkehrssicherheitsexperten zu einer Tagung nach New Mexico eingeladen, die bis heute jährlich stattfindet und inzwischen seinen Namen trägt. Seine Arbeit führte unter anderem dazu, dass US-Präsident Lyndon B. Johnson 1966 per Gesetz verfügte, dass in jedem Neuwagen Sicherheitsgurte eingebaut sein mussten.
Und Stapp schuf sogar eigene Gesetze. Zum einen verhalf er »Murphy's Law« durch dessen Erwähnung vor der Presse zum Durchbruch. Zum anderen formulierte er selbst eine tragikomische Lebensweisheit. »Stapp's ironical paradox« besagt: »Die universelle Befähigung zur Unfähigkeit macht jede menschliche Leistung zu einem unglaublichen Wunder.«
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