Serie: Kuriose Experimente am Menschen: Eigen-OP in der Antarktis
In der Antarktis ist Hilfe immer weit weg. Mitunter kann es monatelang dauern, bis das nächste Flugzeug überhaupt eine Chance zur Landung hätte. Nicht mehr als 1000 Menschen verteilen sich im Winter auf eine Fläche, die fast doppelt so groß ist wie Australien. Wer als einziger Arzt einer Forschungsstation in einer solch extremen Umgebung schwer erkrankt, dem bleibt oft nur ein letzter Schritt: die Selbstbehandlung.
So etwa 1998 im Fall der US-Amerikanerin Jerri Nielsen. Die 46-jährige Notfallmedizinerin hatte bei der National Science Foundation angeheuert, um für ein Jahr in der Amundsen-Scott-Südpolstation die ärztliche Betreuung zu übernehmen. Die Station liegt zentral in der Antarktis, nur wenige hundert Meter vom geografischen Südpol entfernt auf über 2800 Meter Höhe. Dort sinken die Temperaturen auf bis zu minus 80 Grad Celsius; im Winter herrschen starke Winde und nahezu durchgängig Dunkelheit. Von Mitte Februar bis Mitte Oktober ist es unmöglich, den Ort mit einem Flugzeug zu erreichen oder zu verlassen. Der Treibstoff könnte einfrieren, die Hydraulik versagen. Immerhin ermöglichen Satellitentelefon und Internet die Kommunikation mit der Außenwelt. Genau hier überwintert Nielsen als einzige Ärztin gemeinsam mit 40 weiteren Personen. Nach der Scheidung ihrer ersten Ehe freut sie sich auf das Abenteuer und die Abgeschiedenheit.
Biopsie am Südpol
Anfang Juni erfühlt Nielsen einen Knoten über ihrer rechten Brust. Zunächst beschließt sie abzuwarten und ihren Körper zu beobachten. Einen Monat später erhärtet sich der Verdacht: Der Knoten ist gewachsen, eine schmerzhafte Schwellung hat sich unter ihrem rechten Arm gebildet – das Fragezeichen hinter der Diagnose »Krebs« wird kleiner. Sie vertraut sich der Stationsleitung und einem Arzt in den USA an. »Soll ich hier fünf weitere Monate abwarten, oder soll ich mich selbst operieren und es entfernen?«, fragt sie den Kollegen per E-Mail. Nielsen hat große Angst vor Nadeln, wie sie einer Journalistin später verraten wird. Doch es führt kein Weg daran vorbei: Zunächst muss sie selbst die Geschwulst biopsieren. Mit einer feinen Nadel sticht sie in den Knoten, um Flüssigkeit abzusaugen. Ein Elektriker mit medizinischer Grundausbildung hilft ihr dabei. Aber im Inneren des mutmaßlichen Tumors findet sich kein Wasser – ein schlechtes Zeichen und, fast schlimmer noch, wieder keine eindeutige Diagnose. Als einzige Medizinerin in der isolierten Station könnte nur Nielsen selbst einen womöglich lebensrettenden Eingriff vornehmen. Doch ist eine solche Art der Selbstbehandlung in einer so lebensfeindlichen Umgebung überhaupt möglich?
Blinddarmdrama auf dem weißen Kontinent
Ja, würde der russische Arzt Leonid Rogosow an dieser Stelle wohl antworten. Denn er selbst befand sich 38 Jahre zuvor in ähnlich misslicher Lage: Mitten im Nirgendwo der Antarktis hatte ihn eine Blinddarmentzündung erwischt. Der junge Arzt – Jahrgang 1934 – hatte seine Chirurgenausbildung unterbrochen, um im November 1960 an einer Antarktisexpedition teilzunehmen und dann im Februar 1961 den Job als Arzt in der gerade erst errichteten Nowolasarewskaja-Antarktisstation zu übernehmen. Der sowjetische Stützpunkt befindet sich zwar in kontinentaler Randlage, doch auch hier, an der Prinzessin-Astrid-Küste, sind die Besatzungen im Winter von der Außenwelt abgeschnitten. Schwere Schneestürme verhindern die Landung von Flugzeugen. Die erste Crew der Station bestand nur aus zwölf Männern – Rogosow war der einzige Mediziner.
Am Morgen des 29. April überkommt den Doktor plötzlich Übelkeit, Schwäche und ein generelles Unwohlsein. Im Lauf des Tages setzen Schmerzen im Oberbauch ein, die sich auf der rechten Seite langsam nach unten ausbreiten. Seine Körpertemperatur beträgt 37,4 Grad Celsius. Die Diagnose ist auch für einen unerfahrenen Arzt naheliegend: Blinddarmentzündung. Zunächst versucht Rogosow, Fassung zu bewahren. »Ich schweige darüber, lächle sogar. Warum sollte ich meine Freunde in Angst versetzen?«, schreibt er in sein Tagebuch.
Serie: Kuriose Experimente am Menschen
Teil 1: Interview mit einem Cyborg: "Man muss keine Angst haben, weniger Mensch zu werden"
Teil 2: Der Doktor, der sich selbst einen Herzkatheter legte
Teil 3: Hängen für die Wissenschaft
Teil 4: Der Forscher, der Affe und Mensch kreuzen wollte
Teil 5: Für die Wissenschaft ans Kreuz genagelt
Teil 6: Eigen-OP in der Antarktis
Teil 7: Der menschliche Crashtest-Dummy
Einen Tag später aber steht fest, dass eine Operation unerlässlich ist. Antibiotika und kalte Umschläge zeigen keine Wirkung. Stattdessen steigt das Fieber, und der Patient muss sich immer häufiger übergeben. Die Schmerzen sind kaum noch auszuhalten. Es wächst die Gefahr, dass der Blinddarm perforiert. Was tun? Die Mirny-Station als nächster sowjetischer Stützpunkt liegt 1600 Kilometer entfernt, und selbst Hilfe von Stationen anderer Länder kommt auf Grund der Wetterlage nicht in Frage. »Eine unverzügliche Operation war notwendig, um das Leben des Patienten zu retten. Die einzige Lösung war, mich selbst zu operieren«, schreibt Rogosow später in einem Bericht.
Pionier der Auto-Operateure
Tatsächlich war Leonid Rogosow nicht der Erste, der sich einer solchen Prozedur unterzog – allerdings hatte sich sein amerikanischer Kollege Evan O'Neill Kane 1921 freiwillig dazu entschieden. Er wollte am eigenen Leib erfahren, ob man solche Standardeingriffe wie eine Blinddarmoperation auch unter lokaler Betäubung durchführen konnte, falls etwa ein Patient zu schwach für die Vollnarkose sein sollte. Kane hatte in seinen 60 Lebensjahren vermutlich unzählige Wurmfortsätze entfernt. »Er saß durch Kissen aufgepolstert auf dem OP-Tisch, eine Krankenschwester stützte seinen Kopf, so dass er gut sehen konnte. Er schnitt ruhig in seinen Bauch, sezierte vorsichtig das Gewebe und verschloss die Blutgefäße, während er sich vorarbeitete«, berichtete die »New York Times«. Schließlich entfernte er den Appendix, dann nähten ihn Assistenten wieder zu. Einen Tag später verließ er bereits das Krankenhaus.
Eingriff nach Mitternacht
Leonid Rogosows Situation ist demgegenüber weitaus unkomfortabler. Er befindet sich nicht in einem Krankenhaus, sondern in einer bescheiden ausgestatteten Forschungsstation im ewigen Eis. Als Operationsaal muss sein eigenes Zimmer herhalten, das seine Kollegen nahezu komplett leer räumen, um es so steril wie möglich zu machen. Statt Krankenschwestern stehen ihm ein Meteorologe und ein Mechaniker zur Seite. Während der eine auf Bauchhöhe mit einem Spiegel und einer Lampe für gute Sicht sorgt, reicht der andere das Operationsbesteck. Falls einer der beiden Gehilfen zusammenbrechen würde, steht als Ersatzmann zudem der Stationsleiter im Raum bereit. Zwei weitere Kollegen übernehmen die Sterilisation der Instrumente. Die ganze Station tut ihr Bestes, damit der Freund sein Leben retten kann.
Um 2 Uhr beginnt schließlich die Operation. Der Arzt/Patient hat sich so gelagert, dass das Gewicht auf seiner linken Hüfte ruht. Sein Oberkörper ist leicht aufgerichtet, aber er muss darauf achten, dass sein Rumpf nicht stärker als 30 Grad gebeugt ist, damit der Bauch nicht zusammengedrückt wird. Zunächst spritzt er sich zur lokalen Betäubung Novocain – das gleiche Anästhetikum, das auch Kane bei seiner Operation verwendet hat. »Auch ich hatte Angst, doch sobald ich die Spritze mit dem Novocain ergriff und mir die erste Injektion gab, schaltete ich irgendwie automatisch in den Operationsmodus, und von diesem Punkt an bekam ich nichts anderes mehr um mich herum mit«, berichtet Rogosow.
Zunächst öffnet er mit einem etwa zehn bis zwölf Zentimeter langen Schnitt den Bauchraum. Dann greift er in sich hinein, dringt durch die verschiedenen Gewebeschichten zum Blinddarm vor. Um besser tasten zu können, trägt er keine Handschuhe. »Es war häufig notwendig, den Kopf anzuheben, um besser sehen zu können, und manchmal musste ich ausschließlich nach Gefühl arbeiten.« Der Spiegel ist nur bedingt eine Hilfe, da er die tiefe Öffnung seitenverkehrt zeigt. Zudem kommt es zu Komplikationen: Der Arzt hat beim Öffnen des Peritoneums – also der dünnen Membran, die den Bauchraum einhüllt – aus Versehen in den Blinddarm geschnitten. Es blutet stark. Er muss die Wunde zunächst nähen, bevor er sich um die Entzündung kümmern kann. Wertvolle Zeit verstreicht. Immer häufiger überkommen ihn Schwäche und Schwindel. Schweiß strömt von der Stirn und wird von einem Assistenten abgewischt. In regelmäßigen sekundenlangen Pausen schöpft Rogosow Kraft. Endlich erreicht er sein Ziel. »Hier ist er endlich, der verfluchte Wurmfortsatz!«, der bereits ein zwei Zentimeter großes Loch aufweist. Noch einmal ereilt ihn ein leichter Schwächeanfall – schließlich aber trennt er den Appendix ab, gibt ein Antibiotikum in die Bauchhöhle und näht sich selbst wieder zu. Nach zwei Stunden ist der Eingriff beendet. Erfolgreich. Erst nachdem er seinen Gehilfen erklärt hat, wie sie die Instrumente und den Raum reinigen sollen, verabreicht er sich ein Antibiotikum und Schlaftabletten. Sieben Tage später zieht er sich die Fäden. Nach zwei Wochen nimmt er seinen Dienst wieder auf, den er noch etwa ein Jahr verrichten muss.
Nach seiner Rückkehr 1962 wurde der junge Mediziner als Held gefeiert und mit Orden ausgezeichnet, nahm aber schnell seine Ausbildung wieder auf. Er arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 2000 als Arzt. Die Begeisterung über das Abenteuer im ewigen Eis hatte ihn rückblickend nur kurze Zeit eingenommen. Sie war schnell einer tiefen Ernüchterung gewichen: »Wie seltsam es scheint, dass ich jemals zugestimmt habe, auf diese Expedition zu gehen. All das Exotische an der Antarktis war innerhalb eines Monats erschöpft, und im Gegenzug habe ich zwei Jahre meines Lebens verloren«, vertraute er seinem Tagebuch an.
Telemedizin und Luftfracht
Es wäre nicht überraschend, wenn auch Jerri Nielsens Anfangseuphorie inzwischen verflogen ist. Die erste Biopsie war ein Rückschlag. Oder motiviert sie das Schicksal des russischen Kollegen? Zumindest hat sie ihm gegenüber den Vorteil, mit der Außenwelt kommunizieren zu können. Gemeinsam fällt die Entscheidung, mit einer weiteren Biopsie für Klarheit zu sorgen. Eine Stanzbiopsie will sie vornehmen, was bedeutet, mit einer Hohlnadel in den Tumor zu stechen und – ähnlich wie bei einem Obstentkerner – ein zylinderförmiges Stück des Gewebes herauszutrennen. Zwei Kollegen stehen ihr dabei zur Seite: Einer von ihnen hat eine Sanitätsausbildung aus seiner Zeit bei der Armee, der andere – ein Schreiner – hat Vorkenntnisse im Nähen von Wunden. Zu Übungszwecken stanzen sie mit Nadeln kleine Stücke aus Äpfeln und Kartoffeln. Ein zweites Team von Wissenschaftlern baut aus einem alten Mikroskop, einem Computer und einer Kamera einen Apparat, mit dem vergrößerte Bilder der Tumorscheibchen direkt zu Experten in die USA übertragen werden können. Wie bei »MacGyver« sei es zugegangen, würdigt Nielsen den Erfindungsreichtum ihrer Kollegen in einem späteren »CNN«-Interview. Überhaupt ist Improvisation gefragt, denn seit 1992 planen die Verantwortlichen den Umbau der Station, der 1999 begonnen und 2003 abgeschlossen wird. Deshalb fließt kaum noch Geld in die vorhandene Ausstattung.
Schließlich – zehn Tage nach der ersten Biopsie – geht es los. Nielsen betäubt die Einstichstelle mit Lidocain und Eis. Die ersten Proben entnimmt sie sich selbst, danach geht ihr einer der Assistenten zur Hand. Doch auch diese Untersuchung bringt kein eindeutiges Ergebnis: Die Flüssigkeit, in der das entnommene Gewebe mikroskopiert werden soll, ist zu alt und trübt das Bild für die Telemedizin. Nur mit Hilfe besserer Ausrüstung in der Station könnte eine einwandfreie Diagnose gelingen – und die National Science Foundation beschließt zu liefern. Zwar können Flugzeuge im antarktischen Winter nicht landen, einen Überflug wollen die Verantwortlichen aber riskieren. Am 10. Juli um 2 Uhr nachts wirft eine Frachtmaschine der Air Force bei -65 Grad Celsius sechs Paletten voller Ausrüstung und Medikamente ab, darunter ein Digitalmikroskop, Post, frisches Obst und einen Blumenstrauß. Im Flugzeug wird es mit dem Öffnen der Seitenluke augenblicklich so kalt, dass eine Coladose explodiert. Die Stationsbewohner haben eine Zone am Boden mit brennenden Ölfässern markiert, damit die Fracht möglichst nah an den Unterkünften landet und nicht zu lange im Eis liegt. Medikamente können schnell gefrieren und damit unbrauchbar werden. Die Aktion gelingt – nur ein Ultraschallgerät übersteht die Landung nicht.
Die endgültige Diagnose folgt schließlich nach zwei Wochen und einer zweiten Biopsie: ein Mammakarzinom. Der Tumor ist auf Hühnereigröße angewachsen. Jerri Nielsen beginnt sofort mit einer Chemotherapie. Die Medikamente waren bereits Teil der Luftfracht. Da das Präparat zeitgenau verabreicht werden muss, baut sie gemeinsam mit ihrem Biopsieteam einen Infusionsapparat. »Willkommen bei den Marx Brothers, die zu Hause eine Chemotherapie durchführen«, schreibt sie einer Kollegin, die die Behandlung über eine tonlose Videoverbindung verfolgt. Parallel dazu startet sie eine Hormontherapie. Die Nebenwirkungen der Medikamente setzen ihr zu, ihre Haare fallen aus. Nachdem der Tumor zunächst geschrumpft war, beginnt er nach zwei Monaten wieder zu wachsen. Nielsen muss den Wirkstoff für die Chemotherapie wechseln. Normalerweise würden Ärzte sofort die Brust amputieren, aber eine solche Operation kann Nielsen nicht an sich selbst durchführen. Trotzdem betreut sie während ihrer Behandlung andere Patienten, wie es ihr Job als Ärztin vorsieht.
Am 16. Oktober schließlich kann ein Flugzeug für 20 Minuten in der Polarregion landen, Jerri Nielsen aufnehmen und ihre Ablösung absetzen. Zurück in den USA unterzieht sie sich einer Mastektomie sowie weiterer Therapien und kann den Krebs kurzzeitig besiegen. Bereits während ihrer Zeit am Südpol ist das Schicksal der kranken Ärztin zum Medienereignis geworden. Ihre Erlebnisse am Pol hält sie in einem Buch fest, das sogar verfilmt wird. Nielsen, die 2006 erneut heiratet und den Nachnamen ihres Mannes FitzGerald annimmt, hält in den 2000er Jahren vor allem Vorträge über ihre Erfahrungen und wie diese ihr Leben verändert haben. Sie unternimmt viele Reisen, kehrt sogar fünfmal in die Antarktis zurück. 2005 erkrankt sie erneut an Krebs. Nach langem Kampf gegen die Krankheit stirbt sie 57-jährig am 23. Juni 2009.
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