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Viktorianisches England: Die Bürgerwürger von London

Für die Zeitgenossen Queen Victorias wirkten die Überfälle der Garrotters wie eine dämonische Heimsuchung: Mit einem Mal hatten die Gutbetuchten ein soziales Problem am Hals.
»Garrotters« schlagen zu! Illustration aus dem Jahr 18712

»Ich bin zutiefst bewegt, von dem, was Mister Dickens in seinem Roman über die Lebensverhältnisse vieler Kinder in London schreibt«, notierte die 19-jährige Queen Victoria, gerade erst zur Königin gekrönt, 1838 in ihr Tagebuch. Offenbar hatte sie die Lektüre von »Oliver Twist or the Parish Boy's Progress«, in der die negativen Folgen der Industrialisierung – Kinderarbeit, Armut und Verbrechen – eindringlich beschrieben wurden, persönlich stark berührt, vermutet die australische Historikerin Julia Baird.

Kaum im Amt, die Krönung zur Königin von England fand am 28. Juni 1838 in Westminster Abbey statt, begann die wissbegierige, junge Monarchin Fragen zu stellen: nach den sozialen Missständen in ihrem Land, vor allem aber in London, vor denen man als Staatsoberhaupt die Augen nicht verschließen könne, wie sie Premierminister Lord Melbourne gegenüber äußerte. Doch der väterliche Mentor, zu dem die junge Victoria ein besonderes Vertrauensverhältnis hatte und der für »derartige jugendlichen Schwärmereien« wenig übrig hatte, riet seiner Elevin, sich anderen Themen zuzuwenden, was Victoria schließlich dann auch tat.

Tatsächlich aber hatte Victoria I., Tochter von Eduard, Herzog von Kent, und Victoria Luise aus dem Hause Sachsen-Coburg-Saalfeld, die vor 200 Jahren, am 24. Mai 1819, im Kensington Palace in London geboren wurde, schon früh ihr Augenmerk auf etwas gelenkt, das ihre gesamte Regierungszeit überschatten sollte; das zu diskutieren den politisch Verantwortlichen indes wenig opportun erschien und über das Englands High Society lieber den Mantel des Schweigens hüllte.

Es passte einfach nicht in das Selbstbild eines Königreichs, das damit beschäftigt war, seine Stellung als führende Welt- und Wirtschaftsmacht zu zementieren. Doch die von 1819 bis 1901 dauernde Ära, der die nur 1,52 Meter große Victoria ihren Namen gab, steht nicht bloß für Glanz und Gloria, für Empire und rapiden technischen Fortschritt. »Das Viktorianische Zeitalter war geprägt von einer ungeheuren Aufbruchsstimmung, aber auch von Unsicherheit und gewaltigen sozialen Gegensätzen«, sagt der englische Sozialhistoriker Edward P. Thompson und verweist auf das viel zitierte Diktum des englischen Premiers Benjamin Disraeli (1804-1881), wonach sein Land »in zwei Nationen geteilt« sei: in Arm und Reich.

Brutstätte des Verbrechens

Und nirgendwo sonst, so Thompson weiter, seien die sozialen Gegensätze stärker mit Händen zu greifen gewesen als in London, wo die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinanderklaffte. Die pulsierende Kapitale des Empire, in der um das Jahr 1860 rund 3,2 Millionen Menschen auf engstem Raum beieinanderlebten, war im 19. Jahrhundert die größte und wohlhabendste Stadt der Welt, aber auch eine der unruhigsten und gefährlichsten. Ein Drittel der Stadtbevölkerung lebte in bitterer Armut, Hunderttausende mussten sich als Tagelöhner verdingen, zehntausende Obdachlose kämpften um das tägliche Überleben.

Sozialromantik schnell ausgetrieben | Als junge Königin interessierte sich Queen Victoria, hier kurz vor ihrer Krönung, noch für die Armen und Benachteiligten. Ihre Berater hatten dafür wenig Verständnis. Stich nach einem Gemälde von Sir George Hayter.

Diese krassen sozialen Gegensätze bildeten den Nährboden für Verbrechen und menschliche Abgründe, wie sie in den Romanen von Charles Dickens und Robert Louis Stephenson eindrücklich beschrieben werden. Sie zeigen die Schattenseiten der Stadt, in der Psychopathen wie Jack the Ripper und kriminelle Banden ihr Unwesen trieben.

Mysteriöse Verbrechensserie

Am 12. Februar 1851 waren die Vorbereitungen zur Great Exhibition, der ersten Weltausstellung, im Hyde Park in vollem Gang, als in der »Times« folgender Leserbrief erschien: »Am Samstag, dem ersten dieses Monats, als ich nachts wie gewöhnlich schnellen Schrittes nach Hause ging, wurde ich ohne Vorwarnung von hinten ergriffen. Der unbekannte Täter legte seinen Unterarm an meine Kehle und umklammerte diesen mit der anderen Hand. Mit diesem kraftvollen Würgegriff gelang es ihm, mich für einen Moment bewegungsunfähig zu machen, so dass ich nicht einmal um Hilfe rufen konnte, während mich eine zweite Person mühelos ausraubte. Dann wurde ich gewaltsam zu Boden geworfen, jedenfalls fand ich mich dort liegen, als ich wieder zu Bewusstsein kam. Nun wurde dieser Raubüberfall auf einer der meistfrequentierten Straßen Londons begangen, nämlich der Hampstead Road, und ich bin überzeugt davon, dass eine Anwendung dieses Würgegriffs bei einer älteren Person leicht hätte tödlich enden können.«

Es blieb nicht bei diesem einen Fall. Immer mehr Opfer klagten in der Tagespresse über das ihnen zugefügte Leid. Die Polizei tappte im Dunkeln, die Beunruhigung wuchs. Vor allem Londons Bürgerwelt fühlte sich bedroht, schließlich waren es vornehmlich die Bürger, die Opfer der mysteriösen Überfälle wurden.

Auch für die Stadtoberen wurden die Überfälle zum Problem. Schließlich passten sie so gar nicht in das Bild, das sie als Ausrichter der Weltausstellung im »Crystal Palace« von ihrer Stadt vorzugeben bestrebt waren: als Zentrum der weltweit führenden Wirtschafts- und Handelsnation. Zu allem Überfluss goss die Presse Öl ins Feuer. Besonders der Journalist Henry Mayhew machte mit seinen sozialkritischen Reportagen das bürgerliche Lesepublikum mit dem neuartigen Verbrechen bekannt.

Satirische Spitzen

Nur der »Punch« widmete sich der Angelegenheit in gewohnt ironischer Weise mit einer Reihe skurriler Ratschläge, in köstliche Karikaturen verpackt. So wurde Londoner Nachtschwärmern empfohlen, zur Abwehr von Übergriffen ein mit metallenen Dornen besetztes Stachelhalsband zu tragen, bei dem sich der Angreifer blutige Hände holen werde. Ein anderes Utensil, um sich die Diebe vom Leib zu halten, präsentierte der »Punch« in seiner Ausgabe vom 27. Dezember 1856 mit dem »anti-garrotte overcoat«: einem riesigen Reifrock, der sich meterweit um die Hüften seines Trägers spannt. Der Angreifer müsse dann schon Arme wie ein Orang-Utan haben, frotzelte das Blatt. Mochten die Grafiken des Satire-Magazins auch noch so witzig sein, den meisten Londonern war ganz und gar nicht zum Lachen zu Mute.

Schattenseiten des Imperiums

Im Gegenteil. Bald wurden Forderungen laut, mit einer härteren Gangart den organisierten Banden das Handwerk zu legen. Mord und Totschlag waren zwar keine Seltenheit im viktorianischen London. Aber diesmal hatte man es nicht mit Einzeldelikten zu tun, sondern einer Welle des Straßenraubs. Misstrauisch begannen sich die Fußgänger in Londons Straßenschluchten gegenseitig zu mustern. Die »Garrotters steckten die ganze Stadt mit Furcht an«, beschrieb ein Redakteur der deutschen Leipziger »Illustrirten Zeitung« die Stimmungslage in der Hauptstadt des British Empire.

Keine Chance für Garrotters! | Wie man sich eines heimtückischen Angriffs von hinten erwehren kann, zeigt der »Punch« in seiner Ausgabe vom 27. Dezember 1865.

London war damals mit seinen zwei Millionen Einwohnern der Schnittpunkt eines Weltreichs, in dem alle Fäden des internationalen Handels zusammenliefen, in dem riesige Vermögen angehäuft wurden und das seinen imperialen Stolz mit Glanz und Gloria zur Schau stellte. Hinter der strahlenden Fassade freilich hockte die hässliche Fratze des Elends. Im Norden und Nordwesten der Stadt, vor allem aber im Osten, dem berüchtigten East End, hauste das sprunghaft gewachsene Lumpenproletariat, das der französische Illustrator Gustave Doré um 1870 in seinen sozialkritischen Stichen (»London: A Pilgrimage«) porträtiert hat.

Dort herrschte nicht das bürgerliche Recht, sondern es galten die Gesetze der Straße. Wer hingegen in den besseren Vierteln wohnte, zog es vor, über die moralische Minderwertigkeit der Unterschichten die Nase zu rümpfen, sah in diesen eine verwahrloste Masse ohne jede Moral, den Abschaum der Gesellschaft, erläutert Katharina Urbach, Senior Research Fellow am Institute for Historical Research der University of London. In einer Zeit der Prüderie, der Doppelmoral, verdrängten und verbargen viele die sozialen Probleme ihrer Stadt.

Städtische Subkultur

Ganz anders, nämlich auf Augenhöhe, betrachtet hingegen der englische Sozialforscher und Journalist Henry Mayhew (1812-1887) die unteren sozialen Schichten Londons. Er schildert die Lebensverhältnisse des urbanen Proletariats aus erster Hand. Er geht in die Elendsviertel des Londoner East End, studiert deren Bewohner und lässt diese selbst zu Wort kommen. Seine Armutsreportagen, die von 1850 bis 1852 zunächst als fortlaufende Serie in Quartalsheften, zehn Jahre später dann in Buchform (»London Labour and the London Poor«, zu Deutsch: »Die Arbeiter und die Armen von London«) erscheinen, sind authentische Innenansichten einer städtischen Subkultur. Der »investigative Stadtethnograf«, wie ihn der Berliner Ethnologe Rolf Lindner nennt, sieht in der Verelendung das Resultat eines »wilden Kapitalismus«, der auf Gewinnmaximierung setzt und dem jegliches soziales Gewissen fehlt. Sein Fazit: Das Schicksal der Ärmsten der Armen ist nicht selbst verschuldet, sondern systembedingt.

Die breite Öffentlichkeit nahm von all dem wenig Notiz; zum einen, weil man sich dafür nicht sonderlich interessierte, zum anderen, weil man in einer sich immer schneller drehenden Welt zu sehr mit sich selbst beschäftigt war. Doch das änderte sich schlagartig, sobald man mit dem Prekariat selbst in Berührung kam.

Im Knast gelernt

Schwappte nämlich die Kriminalität über die Slum- und Elendsviertel hinaus, empfand man das als dämonische Heimsuchung, die heimtückisch über eine arglose Gesellschaft hereinbricht. Entsprechend wurden die neuartigen Würgeattacken in den zeitgenössischen Berichten als »Garrotter-Plage«, »epidemische Krankheit« und »grassierende Seuche« gebrandmarkt.

Auch die Bezeichnung für die Angreifer, »Garrotters«, verweist auf das finstere Mittelalter – im Kontrast zur eigenen, aufgeklärten Moderne. Abgeleitet ist das Wort von der grausamen Hinrichtungsmethode, die vor allem in Spanien seit den Zeiten der Inquisition praktiziert wurde: dem langsamen Erdrosseln mit einem Halseisen, der Garrotte. Anders als die spanischen Henker wollten die englischen Garrotters jedoch nur Geld, nicht das Leben ihrer Opfer. Und wie man am besten daran gelangte, hatten sie ausgerechnet im Gefängnis gelernt – von den dortigen Beamten ihrer Majestät. Zu dieser Einschätzung gelangte unter anderem ein kriminologischer Sachverständiger, der im »Cornhill Magazine« der verstörten Leserschar das Phänomen eingehend beschrieb.

Die Idee soll einem Sträfling auf einem jener Häftlingsschiffe entstanden sein, wie sie damals in größeren Häfen vor Anker lagen. Auf diesen abgetakelten Schiffen, die Viktor Hugo (1802-1885) in »Les Misérables« eindringlich beschrieben hat, hatte man die Zwischendecks in Zellen unterteilt und mit Häftlingen vollgepfercht. Die Stimmung in der Enge war hochexplosiv. Wurde jemand allzu aufsässig, trat einer der Zuchtmeister hinter ihn und legte ihm den Arm um die Kehle. Der Gefangene spürte einen festen Druck, sank besinnungslos zusammen, erwachte wieder ernüchtert und ohne Beschwerden.

Die Methode machte Schule und wurde nun auf Londons Straßen perfektioniert. Bald lag ein ganzer Ring von Garrotter-Banden auf der Lauer. Die Würger gingen wohlüberlegt zu Werke. Übereilte Aktionen galten als verpönt. Erst wurden die Opfer ausgesucht, dann deren Gewohnheiten ausspioniert und erkundet, wann sie regelmäßig Wertgegenstände oder größere Geldbeträge bei sich führten. Schließlich setzte man Zeit und Ort der Aktionen fest, so der an der University of California in Berkeley lehrende Historiker Christopher A. Casey.

Garrotter-Gangs bestanden aus drei Abteilungen: Die Vorhut promenierte unverdächtig etliche Meter vor dem Opfer, um Störungen sofort zu melden. Die Nachhut folgte in einiger Entfernung hinter dem ahnungslosen Passanten, um den Rückzug zu sichern. Der wichtigste Mann heftete sich an die Fersen des Opfers. Er war der Anführer, »the nasty man« genannt, der »garstige Mann«. Sobald die Vorhut den Hut lüftete und damit grünes Licht gab und auch die Nachhut freie Bahn meldete, huschte der »garstige Mann« leise an den arglosen Fußgänger heran. Mit dem rechten Arm umschlang er den Überraschten, schlug ihm mit der Faust kräftig an die Stirn und presste ihm den linken Handknöchel auf die Kehle. Bei einem geübten Garrotter war das Opfer rasch besinnungslos. Die Nachhut plünderte den wie in einem Schraubstock Gefangenen blitzartig aus.

Die Erfahrensten beherrschten ihr Metier so virtuos, dass sie nicht nur nachts und an düsteren Orten zuschlugen. Auch am Rand belebterer Gehwege und Plätze trieben sie ihr Handwerk, auf alles mit äußerster Kaltblütigkeit gefasst. Hing ein Opfer in den Armen des »nasty man«, durch davorstehende Kumpane vor den Blicken der Vorbeigehenden möglichst verdeckt, und trat zufällig ein besorgter Passant dazu, kümmerte man sich plötzlich rührend um einen werten Freund, der betrunken wäre oder sich unwohl fühle. Eifrig begab man sich auf die Suche nach einer Droschke oder einem Arzt – und schon waren die Herrschaften von der Bildfläche verschwunden.

Ruf nach härteren Strafen

Das Königreich mühte sich nach Kräften, der steigenden Kriminalität Herr zu werden. Neue Gefängnisse wie das 1852 im Norden Londons fertig gestellte »Holloway Prison« sollten Straftätern wie den Garrotters als abschreckendes Beispiel dienen. Auf dessen Grundstein steht geschrieben: »Möge Gott die Stadt London erhalten und dies ein Ort des Schreckens für Übeltäter werden«. Zeilen wie diese mochten bei Londons besserer Gesellschaft Wirkung zeigen. Dass sie zur Verminderung von Straftaten beitrugen, darf bezweifelt werden.

»Fest steht«, so die Bamberger Neuzeithistorikerin Sabine Freitag, »dass das liberale England seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Zügel anzog.« Mit dem 1856 erlassenen »County and Borough Police Act« wurde die Polizei, die schon seit Jahrzehnten als unzureichend galt, von Grund auf reformiert. An die Stelle vereinzelt eingesetzter, ehrenamtlicher Ordnungshüter traten nun Polizisten, von jeder Kommune gestellt und regelmäßig und zentral geprüft. »So entstand erstmals eine straff strukturierte Polizeiorganisation, die Übeltäter ohne Umschweife hinter Schloss und Riegel brachte«, erklärt die englische Historikerin Jenifer Hart.

Urbaner Escort-Service

Das Garrotter-Unwesen in England konnten auch diese Maßnahmen nie ganz eindämmen. Doch einen Gewinner gab es: die Sicherheitsbranche. »In den 1850er und 1860er Jahren schossen in London Sicherheitsfirmen wie Pilze aus dem Boden«, schreibt der walisische Sozialhistoriker Andy Croll. Die boten zum Beispiel einen Escort-Service an, nämlich groß gewachsene und erfahrene Bodyguards als Begleiter. Typisch sind Anzeigen wie die vom 31. Januar 1857: »Die Bayswater-Brüder, 1,93 und 2,10 Meter groß und breitschultrig, teilen den Bewohnern von Paddington, Kensington, Stoke Newington, Chelsea, Eaton Square und Shepherd's Bush mit, dass es ihnen große Freude bereiten würde, ältere oder ängstliche Menschen zu Abendveranstaltungen aller Art nach Einbruch der Dunkelheit zu begleiten und sie von dort wieder sicher nach Hause zu bringen. Das gilt selbst für die gefährlichsten Stadtteile. Bei uns sind Sie in besten Händen, zumal die Bayswater-Brüder jahrelang im Polizeidienst tätig gewesen waren. Die Zahlungsbedingungen pro Person und Stunde richten sich nach dem Weg, den der Kunde einschlägt. Zwölf und mehr Personen erhalten Mengenrabatt. Referenzen und umfangreiche Sicherheit werden gewährleistet. Für weitere Einzelheiten wenden Sie sich an B.B, Royal Human Society, Trafalgar Square«.

Die Dudley Street im Londoner Viertel Seven Dials | In seinen Milieustudien porträtierte Gustave Doré die verarmten Schichten des viktorianischen London um 1870.

War die Furcht vor den heimtückischen Würgern Anfang der 1860er Jahre langsam abgeebbt, rückte 1862 ein Vorfall die Verbrechensserie schlagartig wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Am 17. Juli wurde der Parlamentarier Hugh Pilkington nach einer Nachtsitzung im Unterhaus auf dem Nachhauseweg von Garrotters angegriffen und gewürgt. Solch ein Angriff auf einen führenden Bürger Englands! Ein Aufschrei der Entrüstung folgte, die Londoner Printmedien hatten alle Hände voll zu tun – mit großen Aufmachern und reißerischen Berichten heizten sie die Stimmung weiter an. Dass in derselben Nacht auch noch der 80-jährige Edward Hawkins, ein stadtbekannter Antiquitätenhändler, Opfer eines Überfalls der Garrotters wurde, schien ein untrügliches Indiz dafür zu sein, dass das Übel immer noch virulent war.

Wenn nun schon Parlamentarier ihres Lebens nicht mehr sicher waren, wie sollte man da überhaupt noch vor die Türe gehen können? Wer sollte einen schützen, da doch die Staatsmacht offenkundig hilflos war? Man griff zur Selbsthilfe: Bürgerwehren in Gestalt von Anti-Garrotter-Vereinigungen wurden aufgestellt, die Tag und Nacht inkognito patrouillierten, mit der Konsequenz, dass jede halbwegs verdächtig aussehende Person damit rechnen musste, bei der Polizei angezeigt zu werden.

Im November schlugen die Würger erneut zu: Eine als seriös aussehend beschriebene Dame sprach einen Juwelier unter einem Vorwand auf offener Straße an, während ihre Komplizen den völlig konsternierten Mann in den Würgegriff nahmen. Dabei gingen die Diebe so rabiat vor, dass das Opfer infolge eines eingedrückten Kehlkopfs wenige Tage später an seinen Verletzungen starb. Bei einer anderen Attacke im gleichen Monat wurde dem Angegriffenen die Hand so schwer zerdrückt (offenbar hatte er diese schützend zwischen Hals und Garrotte gelegt), dass sie amputiert werden musste; auch er starb an den Folgen des Übergriffs.

»Garrotters' Act«

Jetzt schien auch bei den liberaleren Politikern in Westminster die Grenze des Zumutbaren erreicht. Das aufgeklärte und fortschrittsgläubige England beugte sich dem Ruf nach der eisernen Faust der Staatsmacht. 1863 wurde der »Garrotters' Act« verabschiedet, der eine verschärfte strafrechtliche Sanktionierung zur Folge hatte. Längst in die historische Mottenkiste verbannte Strafen wie das Auspeitschen wurden wieder eingeführt. »Der Garrotters' Act«, meint die an der Leeds Beckett University lehrende englische Rechtshistorikerin Heather Shore, »markierte – den damaligen Zeitgeist widerspiegelnd – den Übergang von einem mehr reformativen humanitären Ansatz zu einem repressiveren Umgang mit Kriminellen.«

Und so frohlockte ein Kommentator in der »Times« vom 8. April 1865: »Ein kürzlich veröffentlichter parlamentarischer Bericht übermittelt uns die erfreuliche Nachricht, dass der Garrotters' Act von 1863, der den Tatbestand des gewaltsamen Raubüberfalls mit Auspeitschen bestraft, keine hohle Phrase geblieben ist. Im ersten Jahr der Anwendung dieser nützlichen Maßnahme wurden 19 Gefangene öffentlich ausgepeitscht.«

Woran auch immer es gelegen haben mag – ob an dieser Maßnahme, darf bezweifelt werden –, jedenfalls gab es spätestens ab Mitte der 1860er Jahre keine Angriffe von Garrotters mehr zu verzeichnen. Das zu Grunde liegende Problem der Kriminalität, die Verelendung großer Teile der Londoner Bevölkerung, ließ sich ohnehin nicht durch die Androhung von Strafen abschaffen.

Queen Victoria, seit zwei Jahren verwitwet, plagten zu diesem Zeitpunkt ganz andere Sorgen: die tiefe Trauer über den Tod ihres geliebten Gemahls Albert und die Sorge um die Zukunft der Monarchie, die unter den amourösen Eskapaden ihres Vaters, Wilhelms IV., einen schweren Imageschaden erlitten hatte. Als sie am 22. Januar 1901 in Osborne House auf der Insel Wight starb, stand das British Empire im Zenit seiner Macht und die Monarchie gefestigt da. Die sozialen Verwerfungen allerdings, die sie in jungen Jahren ihrer Regentschaft beschäftigt hatten, blieben bestehen.

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