Objekt des Monats: Zwillingsnebel im Himmels-W
Oft liegen wichtige Entdeckungen direkt vor unseren Augen, man muss nur genau hinschauen: Im Jahr 1866 verwendete der Italiener Angelo Secchi (1818 – 1878) als erster Astronom einen Spektrografen, um am Teleskop die Spektren verschiedener Sterne zu beobachten – die Fotografie war zu der Zeit noch nicht lichtempfindlich genug. Gewöhnlich sind in Sternspektren charakteristische dunkle Absorptionslinien zu sehen, wie man sie auch von der Sonne kennt. Nur ein Stern war anders als die anderen: Gamma Cassiopeiae (γ Cas) im Sternbild Kassiopeia. Er zeigt zusätzlich eine Reihe von hellen Emissionslinien, dort, wo im Spektrum die Linien des Wasserstoffs liegen.
Ein kurioser Stern
Der 2,2 mag helle Gamma Cassiopeiae, dessen Eigenname Tsih eher selten Verwendung findet, kann bei den Koordinaten 𝛼 = 00h 56,7m, 𝛿 = +60° 43ʹ gefunden werden. Er ist einer der interessantesten Sterne des nördlichen Himmels, weil es sich um den Prototyp der so genannten Be-Sterne handelt. Das sind Sterne vom Spektraltyp B, also junge und heiße Sterne, die in ihrem Spektrum zugleich Emissionslinien von Wasserstoff zeigen – daher der Namenszusatz »e«. Gamma Cassiopeiae ist nicht nur der zuerst entdeckte Be-Stern, sondern galt zudem lange als der hellste. Er ist etwa 8 Millionen Jahre alt, hat die rund 15-fache Masse der Sonne und steht in einer Entfernung von 550 Lichtjahren. Heute ist der hellste bekannte Be-Stern Achernar, der Hauptstern im südlichen Sternbild Eridanus.
Be-Sterne rotieren auf Grund ihres geringen Alters noch so schnell, dass sie Masseverluste erleiden. Es bildet sich eine Gasscheibe in ihrer Äquatorebene aus, in der die ultraviolette Strahlung des Sterns den Wasserstoff anregt, wodurch die Emissionslinien entstehen. Die Scheibe durchläuft Phasen unterschiedlicher Aktivität, so dass Be-Sterne eine variable Helligkeit haben. Bereits im Jahr 1836 vermutete John Herschel (1792 – 1871) eine Veränderlichkeit bei Gamma Cassiopeiae. Bei dem Ausbruch von 1937 erreichte der Stern eine Maximalhelligkeit von 1,6 mag, was beinahe einer Verdopplung seiner durchschnittlichen Leuchtkraft entspricht. Zwischenzeitlich können die Emissionslinien von Be-Sternen sogar vollständig verschwinden, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. Der Stern Pleione im offenen Sternhaufen der Plejaden (Messier 45) ist ein weiteres berühmtes Beispiel für diese Sternklasse.
Zwei scheinbar ungleiche Nebel
Gamma Cassiopeiae ist mit den Nebeln IC 59 und IC 63 assoziiert, die sich 27 Bogenminuten nördlich beziehungsweise 21 Bogenminuten nordöstlich des Sterns befinden (siehe »Prominenter Nachbar«). Ihre unterschiedliche Farbe weckte schon früh das Interesse der Astronomen: IC 59 ist größtenteils blau, weil die Reflexionsanteile überwiegen. Der feine interstellare Staub streut bevorzugt das blaue Sternlicht und wirft es in alle Richtungen zurück, so auch zur Erde. IC 63 hingegen ist rötlich, denn er leuchtet im Licht der roten Emissionslinie von angeregtem Wasserstoff (siehe »Interessante Farbkontraste«). Er steht räumlich betrachtet näher am Stern, so dass die UV-Strahlung von γ Cas dort noch stark genug ist, um den Wasserstoff im interstellaren Gas größtenteils zu ionisieren. Nach heutigem Wissensstand ist IC 59 etwas mehr als doppelt so weit vom Stern entfernt. Von der Erde aus gesehen steht IC 63 hinter γ Cas, IC 59 davor. Es ist trotz des großen Unterschieds im Erscheinungsbild klar, dass die beiden Nebel Teile desselben Komplexes sind – sie sind die Überreste der Mutterwolke des Sterns.
Fotografische Entdeckung
Die Nebel wurden erstmals am 17. Januar 1890 von Isaac Roberts (1829 – 1904) fotografiert, der sie allerdings zunächst für einen Plattenfehler hielt, wie er selbst 1896 schilderte. Deshalb gebührt die Entdeckung eigentlich Max Wolf (1863 – 1932), dessen Aufnahme vom 30. Dezember 1893 datiert. Kaum mehr als einen Monat später folgte die unabhängige Entdeckung durch Edward Emerson Barnard (1857 – 1923). Nachdem dieser die Nebel am 2. Februar 1894 aufgenommen hatte, wagte er vier Nächte später eine visuelle Beobachtung mit dem 12-Zoll-Refraktor des Lick Observatory der University of California. Zwar konnte er IC 59 und IC 63 gerade so ausmachen, merkte jedoch an, dass das ohne die Kenntnis ihrer Existenz nicht möglich gewesen wäre. Dies sei als Warnung verstanden, dass diese Nebel sehr geringe Flächenhelligkeiten aufweisen und ihre visuelle Sichtung einen dunklen Himmel erfordert. Andererseits besitzen Amateurbeobachter im Vergleich zu Barnard vor 130 Jahren heutzutage viel bessere, reflexfreie Okulare mit weiten Gesichtsfeldern.
In der Tat handelt es sich bei IC 59 und IC 63 um zwei der anspruchsvollsten Beobachtungsobjekte, die bisher an dieser Stelle vorgestellt wurden. Dabei kommt eine ganze Reihe von Faktoren zusammen: Zum einen sind die Nebel recht klein und haben gleichzeitig, wie oben erwähnt, nur eine geringe Flächenhelligkeit. Zum anderen stören der blendend helle γ Cas und das sehr sternenreiche Feld. Nebelfilter helfen nicht viel, weil sogar bei IC 63 der Emissionslinienanteil des Lichts noch zu schwach ist. Genau zwischen ihnen liegt eine von Nordwest nach Südost ausgerichtete, etwa 15 Bogenminuten große Gruppe von 10 bis 12 mag hellen Sternen (siehe »Herausfordernde Objekte«). Diese kann bei der Orientierung sehr hilfreich sein.
Der Anblick im Teleskop
Um unter einem sehr dunklen Himmel zu beobachten, nutzt Michael Fritz seine Aufenthalte im Inneren der Kanareninsel La Palma. An seinem 13-Zentimeter-Refraktor erweist sich eine 55-fache Vergrößerung als ideal. Bei nur 20-facher Vergrößerung erscheinen die Nebel noch zu klein, und der reiche Sternhintergrund wirkt störend dicht. Der nördlich vom Stern gelegene IC 59 macht insgesamt den etwas helleren Eindruck und ist größer, etwa 15 × 8 Bogenminuten von Osten nach Westen. Sein Umriss erinnert an zwei sich überlappende Dreiecke, deren Spitzen in Richtung Gamma Cassiopeiae weisen. Dabei ist die westliche Spitze durch einen 11 mag hellen Stern und einen 12 mag hellen Doppelstern nur vorgetäuscht.
Die meisten anderen Beobachtungsberichte beschreiben indessen IC 63 als den optisch helleren der beiden Nebel. Er ist mit zehn Bogenminuten Ausdehnung ein wenig kleiner, und seine ebenfalls dreieckige Form erscheint schmaler. Mit der langen Achse zeigt IC 63 etwas nördlich an γ Cas vorbei. Ein verdichteter Knoten an der auf den Stern hinweisenden Spitze ist sein hellster Bereich. Selbst mit 89-facher Vergrößerung ist dieser Knoten noch gut sichtbar und misst 1,5 × 0,5 Bogenminuten. Er kann visuell allerdings mit einem unmittelbar südwestlich gelegenen Klumpen von Sternen der 12. bis 13. Größe verwechselt werden.
Probieren Sie doch einfach aus, ob Ihr Himmel dunkel genug ist und Sie die Nebel ausmachen können. Versuchen Sie es ruhig mehrmals, und testen Sie mehrere Optiken. IC 59 und IC 63 sind auch ein guter Test für die Qualität des Beobachtungsstandorts – oder ein Anreiz, einmal mit einem transportablen Teleskop auf das Land oder in die Berge zu fahren.
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